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Haft I: Dringender Tatverdacht, oder: Verwertungsverbot wegen EncroChat-Krypto-Handys?

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Heute stelle ich dann drei Haftentscheidungen vor.

Ich beginne mit dem OLG Schleswig, Beschl. v. 29.04.2021 2 Ws 47/21. Der ist in einem Haftbeschwerdeverfahren ergangen. Dem Angeklagten wird mit der a Anklage vorgeworfen, in fünf Fällen mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben zu haben (Tatzeitraum: 02.04. bis 23.05.2020).

Problematisch war der dringende Tatverdacht. Denn der ist mit der Auswertung von Kommunikationsdaten eines EucroChat-Mobiltelefons begründet worden, welche zur Identifizierung des Angeklagten geführt habe. Die Problematik beschäftigt uns ja schon eine Weile.Die Ermittlungsbehörden sind in den Besitz der zur Ermittlung des Angeklagten als Tatverdächtigem führenden Daten gelangt, nachdem es der Staatsanwaltschaft Lille in Frankreich im Rahmen einer gemeinsamen Ermittlungsgruppe mit den Niederlanden, die gegen die EncroChat-Betreiber u.a. wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung zur Begehung von Straftaten oder Verbrechen ermittelte, unter Beteiligung von Eurojust und Europol im Frühjahr 2020 gelungen war, mittels einer Datenabfanganlage auf den Server einzudringen und die Kommunikation zu entschlüsseln. Hierdurch wurde auf über 32.000 Nutzer-Accounts unter deren Nutzernamen – so auch des Angeklagten – in 121 Ländern zugegriffen. Alles Weitere setze ich als bekannt voraus.

Gestritten wird – so auch hier – dann immer um ein Beweisverwertunsgverbot, dass die mit den Fragen befassten Gerichte aber bislang abagelehnt haben, ich erinnere u.a. an OLG Bremen und OLG Hamburg. So auch jetzt das OLG Schleswig. Da dieses weitgehend auf der Linie der anderen OLG liegt, begnüge ich mich hier mit den Leitsätzen der Entscheidung:

  1. § 100e Abs. 6 StPO ist auch bei grenzüberschreitenden Ermittlungen geeignete Maßstabsnorm des deutschen Strafverfahrensrechts für die Verwertung aus dem Ausland erlangter Daten. Insoweit dürfen auch Zufallsfunde aus im Ausland geführten Ermittlungen verwertet werden, wenn im Zeitpunkt ihrer Verwendung die die sich aus § 100b oder § 100c StPO folgenden Anforderungen erfüllt sind.

  2. An die von französischen Strafverfolgungsbehörden erfolgte Auswertung der Telekommunikation mit Krypto-Telefonen der Plattform EncroChat kann am ehesten der Maßstab für eine Onlinedurchsuchung gemäß § 100b StPO angelegt werden.

  3. Soweit im europäischen Rechtsverkehr die gemäß Art. 31 Richtlinie 2014/41/EU vorgesehene Unterrichtung des anderen Mitgliedsstaates von der Überwachung des Telekommunikationsverkehrs unterblieben ist, kann dies auf europäischer Ebene durch deren Verwendung geheilt werden.

  4. Gleichwohl kann aus deutscher Sicht ein Verfahrensfehler darin bestehen, dass es nicht zur Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle gemäß §§ 92 b, 92 d IRG anhand der besonders aus §§ 59 Abs. 3, 91 b IRG folgenden Kriterien gekommen ist. Allerdings folgt hieraus bei vorzunehmender Abwägung zwischen den Strafverfolgungsbelangen und dem Interesse des Betroffenen nicht zwingend ein Verwertungsverbot.

StGB II: Heimlich ungeschützter Geschlechtsverkehr, oder: Stealthing

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich heute vorstelle, handelt es sich um das OLG Schleswig, Urt. v. 19.03.2021 – 2 OLG 4 Ss 13/21. Das ist ja schon als PM des OLG über die Ticker gelaufen. Inzwischen liegt der Volltext vor.

Das OLG nimmt in dem Urteil Stellung zur Strafbarkeit des sog. Stealthing, also zu Strafbarkeit des heimlich ungeschützten Geschlechtsverkehrs.

Das AG hat den Angeklagten vom Vorwurf eines sexuellen Übergriffs i.S. des § 177 Abs. 1 StGB freigesprochen. Dagegen wenden sich Staatsanwaltschaft und Nebenklägerin mit ihren Revisionen.

Nach der Anklage soll der Angeklagte am 05.03.2018 gegen 17.30 Uhr die Wohnung der Nebenklägerin aufgesucht haben. Dort sei es zunächst zum einvernehmlichen Geschlechtsverkehr unter Verwendung eines Kondoms gekommen, nachdem die Nebenklägerin den Angeklagten wie schon in der Vergangenheit auch an diesem Tag ausdrücklich mehrfach darauf hingewiesen gehabt habe, dass sie nur zum Geschlechtsverkehr bereit sei, wenn der Angeklagte ein Kondom benutze. Obwohl der Angeklagte dies gewusst habe, habe er nach dem Beginn des Geschlechtsverkehrs während einer Unterbrechung das Kondom von seinem Penis entfernt, ohne dass die Nebenklägerin dies bemerkt habe. Anschließend habe er den Geschlechtsverkehr – nunmehr ungeschützt – fortgesetzt. Die Nebenklägerin habe erst im Anschluss bemerkt, dass der Angeklagte den Geschlechtsverkehr ungeschützt ausgeführt habe.

Das hat das AG hat den Angeklagten schon aus rechtlichen Gründen freigesprochen, weil der Geschlechtsverkehr einvernehmlich stattgefunden habe. Es hat festgestellt, der Angeklagte habe den ihm vorgeworfenen Sachverhalt in objektiver Hinsicht eingeräumt. In subjektiver Hinsicht habe er sich dahingehend eingelassen, dass er davon ausgegangen sei, die Zeugin habe bemerkt, dass er den Geschlechtsverkehr ohne Kondom fortgesetzt habe und mangels Widerspruchs nunmehr damit einverstanden gewesen sei, zumal sie ihn nach der Unterbrechung durch ihr Verhalten zur Fortsetzung des Geschlechtsverkehrs animiert habe.

Maßgeblich abzustellen ist nach Auffassung des AG nicht auf das Einvernehmen hinsichtlich des durch Kondom geschützten Geschlechtsverkehrs, sondern hinsichtlich des Geschlechtsverkehrs an sich. Das Einvernehmen müsse sich nach dem Wortlaut des § 177 StGB auf die sexuelle Handlung beziehen, das sei der Geschlechtsverkehr – unabhängig von der Benutzung eines Kondoms. Auch zeige die gesetzliche Überschrift des § 177 StGB, dass es in der Vorschrift um einen Willensbruch gehe, nicht um eine Täuschung des Sexualpartners. Einer anderen Auslegung stehe das strafrechtliche Analogieverbot entgegen.

Das OLG hat das anders gesehen. Hier die Leitsätze seiner Entscheidung:

1. Geschlechtsverkehr ohne Kondom unterscheidet sich von Geschlechtsverkehr mit Kondom wesentlich und ist daher eine eigenständige sexuelle Handlung im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB.

2. Das „Stealthing“ – also das absprachewidrige Entfernen eines Kondoms beim Geschlechtsverkehr – ist jedenfalls dann gemäß § 177 Abs. 1 StGB strafbar, wenn der in einem engen raum-zeitlichen Zusammenhang erklärte Widerwillen gegen einen Geschlechtsverkehr ohne Kondom bei vom Opfer unbemerkter vorsätzlicher Entfernung des Kondoms fortwirkt.

3. Eine derartige Veränderung des Sachverhalts begründet keinen täuschungsbedingten Willensmangel, der für ein tatbestandsausschließendes Einverständnis unbeachtlich sein könnte.

Volltext dann bitte selbst lesen.

Ermittlungsverfahren von 3 Jahren 8 Monaten zu lang, oder: Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung

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Heute wird es im „Kessel Buntes“ ganz bunt.

Zunächst berichte ich nämlich über ein Urteil des OLG Schleswig. Es behandelt die mit der Entschädigung nach einem überlange Verfahren (§§ 198, 199 GVG) zusammenhängenden Fragen. Auf das OLG Schleswig, Urt. v. 26.06.2020 – 17 EK 2/19 – bin ich vor einiger Zeit von der Klägerin, der Landesbeauftragten für Datenschutz Schleswig-Holstein, Marit Hansen, hingewiesen worden. Gegen die wurde 2015 bis 2019 ein Ermittlungsverfahren geführt, nachdem ein gekündigter Mitarbeiter Strafanzeige erhoben hatte. Mit dem Verfahrensgang war die Landesbeauftragte nicht zufrieden und sie hat nach Einstellung des Verfahrens Entschädigungsklage eingereicht.

Da das Urteil mit rund 15 Seiten recht lang ist, eignet es sich nicht so gut dafür, hier Teile einzustellen. Ich muss also beschränken und wegen der Einzelheiten auf den Volltext verweisen. Hier will ich mich im Wesentlichen mit der PM des OLG Schleswig v. 26.06.2020 begnügen, die auch das Verfahren gegen den Mitarbeiter der ULD betrifft. In der heißt es:

„Dauer des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Kiel gegen die Leiterin des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz

Die Dauer des gegen die Leiterin des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz (ULD) Marit Hansen und einen Mitarbeiter des ULD geführten Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Kiel ist unangemessen lang gewesen. Dies hat der 17. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts heute entschieden.

Zum Sachverhalt: Die Leiterin und ein Mitarbeiter des ULD begehren gegenüber dem Land Schleswig-Holstein die Feststellung einer unangemessen langen Verfahrensdauer und eine geldwerte Entschädigung. Hintergrund der Klagen auf Wiedergutmachung ist ein gegen beide gerichtetes Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Kiel, das den Verdacht des Betruges bei der Abrechnung von Förderprojekten zum Gegenstand hatte. Das Ermittlungsverfahren wurde nach drei Jahren und acht Monaten im Juni 2019 eingestellt. Zu einer Rückforderung von Fördergeldern kam es nicht. Der 17. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts hat festgestellt, dass dieses gegen beide Kläger geführte staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren unangemessen lange gedauert hat.

Aus den Gründen: Das Ermittlungsverfahren ist sowohl zeitlich als auch nach seiner inhaltlichen Ausgestaltung in mehrfacher Hinsicht unangemessen lang. Dies verletzt die Kläger in ihrem Anspruch auf eine effektive und der Unschuldsvermutung gerecht werdende Verfahrensgestaltung. Schon die Dauer des Verfahrens von drei Jahren und acht Monaten ist nach Art und Umfang der Vorwürfe eine deutliche Überschreitung dessen, was zeitlich noch eine als rechtsstaatlich anzusehende Verfahrensdauer darstellt. Zudem fehlte es an einer frühzeitigen und zielgerichteten Planung des Verfahrens, die sich am Nachweis strafbaren Verhaltens orientierte. Dadurch ist es zu absehbaren Verzögerungen gekommen, obwohl das Verfahren aufgrund der frühzeitig erfolgten Durchsuchung zu beschleunigen war. Gerade eine „prioritäre“ Behandlung hatte die Behördenleitung nach der ersten Verzögerungsrüge auch
zugesagt. Auch haben organisatorische Mängel in Form wiederholter Wechsel der zuständigen Staatsanwälte jedenfalls ab dem Jahr 2018 zu weiteren vermeidbaren zeitlichen Verzögerungen geführt. Es ist davon auszugehen, dass das Ermittlungsverfahren bei planvoller und effektiver Ausgestaltung und mit dem erforderlichen Personaleinsatz bis Ende 2017 hätte abgeschlossen werden können. Mit der gerichtlichen Feststellung der überlangen Verfahrensdauer und dem Verfahren vor dem Senat hat die Leiterin des ULD hinreichende Genugtuung erfahren. Sie konnte dort sowie im Vor- und Nachgang ihr Anliegen angemessen und medial beachtet darstellen. Anders liegt es im Fall des Mitarbeiters des ULD, dem aufgrund erlittener und noch andauernder beruflicher Nachteile zusätzlich eine Entschädigung von 1.800,00 € zu gewähren war.

(Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Urteile vom 26. Juni 2020, Az. 17 EK 2/19 und 17 EK 3/19)“

Darüber hinaus will ich aus dem Urteil vom 26.06.2020 hier nur die allgemeinen Erwägungen des OLG zitieren, und zwar wie folgt:

1. Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung ist die Dauer eines justiziellen Verfahrens dann als unangemessen lang anzusehen, wenn nach den Umständen des Einzelfalls die Verfahrensgestaltung und die hierdurch bewirkte Verfahrensdauer das Ausmaß eines den Gerichten zuzubilligenden Gestaltungsspielraumes derart überschreiten, dass die Verfahrensgestaltung auch bei voller Würdigung der Belange einer funktionstüchtigen Rechtspflege nicht mehr verständlich ist (BGH, Urteil vom 13. März 2014 – III ZR 91/13 -, NJW 2014, 1816 ff., bei juris, Rn. 32, 34; BGH, Urteil vom 23. Januar 2014 – III ZR 37/13 -, WM 2014, 528 ff., bei juris, Rn. 36 ff.; BGH, Urteil vom 5. Dezember 2013 – III ZR 73/13 -, NJW 2014, 789 ff., bei juris, Rn. 41 ff.).

Daher verbietet sich die Ausrichtung der Betrachtung an statistischen Durchschnittswerten (BGH a.a.O., ferner SchlHOLG, Urteil vom 8. April 2013 – 18 SchH 3/13 – SchlHA 2013, 248 ff., bei juris, Rn. 14). Vielmehr sind – mögen auch Auffälligkeiten im Verhältnis zum Durchschnitt vergleichbarer Verfahren erste Anhaltspunkte liefern – stets die einzelnen Verfahren gesondert zu untersuchen (OLG Frankfurt, Urteil vom 28. März 2013 – 16 EntV 5/12, bei Juris), wobei allerdings wiederum in Rechnung zu stellen ist, dass im Gesamtverfahren Phasen von Verzögerung durch Phasen beschleunigter Verfahrensgestaltung kompensiert werden können (BGH, Urteil vom 14. November 2013 – III ZR 376/12 -, NJW 2014, 220 ff., bei juris, Rn. 30; BGH, Urteil vom 23. Januar 2014 – III ZR 37/13 -, WM 2014, 528 ff., bei juris, Rn. 37 f.). Auch kommt es bei der inhaltlichen Beurteilung einzelner Verfahrensschritte ähnlich der Situation im Amtshaftungsprozess nach Maßgabe des § 839 Abs. 2 BGB nicht auf die Richtigkeit, sondern auf die bloße Vertretbarkeit des Handelns an (BGH, Urteil vom 5. Dezember 2013 – III ZR 73/13 -, NJW 2014, 789 ff., bei juris Rn. 45 f. an).

Zudem hat das Entschädigungsgericht bei der Bewertung eine ex-ante-Betrachtung vorzunehmen, die sich nicht an der inhaltlichen Ausgestaltung des Verfahrens, sondern allein an dessen objektivem Verlauf orientiert, denn es kommt nicht darauf an, ob die Verzögerung auf ein pflichtwidriges Verhalten zurückzuführen oder ob der verfahrensführenden Behörde ein anderweitiger Vorwurf zu machen ist. Der Entschädigungsanspruch aus § 198 GVG ist ein staatshaftungsrechtlicher, verschuldensunabhängiger Anspruch, der es dem Anspruchsgegner auch verwehrt, sich auf systembedingte Umstände – wie zum Beispiel Personalknappheit und Arbeitsdichte – zu berufen (Graf in BeckOK § 198 GVG Rn.16, Rn.16; Krauß in Löwe/Rosenberg, 26. Aufl.; Rn. 32 Nachtr § 198 GVG).

2. Bei Anlage dieses Maßstabes erweist sich das Ermittlungsverfahren 590 Js 55233/15 StA Kiel sowohl zeitlich als auch in seiner inhaltlichen Ausgestaltung in mehrfacher Hinsicht als unangemessen lang. Dies verletzt die Klägerin in ihrem Anspruch auf eine effektive und der Unschuldsvermutung gerecht werdende Verfahrensgestaltung….“

 

Zunächst stellt schon die Dauer des Verfahrens von drei Jahren und acht Monaten im Hinblick auf Inhalt und Umfang der Tatvorwürfe eine deutliche Überschreitung der zeitlich noch als rechtsstaatlich anzusehenden Verfahrensdauer dar (hierzu unter a.). Aber auch organisatorische Mängel auf Seiten des Beklagten haben jedenfalls ab dem Jahr 2018 zu vermeidbaren zeitlichen Verzögerungen geführt (hierzu unter b.). Zudem hat der Beklagte – auch unter Berücksichtigung des der Staatsanwaltschaft Kiel als Herrin des Ermittlungsverfahrens zustehenden Gestaltungsspielraums – durch die anfängliche Ausgestaltung des Verfahrens erheblich dazu beigetragen, dass dieses schon in seiner Anlage wesentliche Ursachen für später eingetretene Verzögerungen aufwies, obwohl es aufgrund der frühzeitig erfolgten Durchsuchung bestmöglich zu beschleunigen war (hierzu unter c.). Schließlich zeigen sich – insbesondere im späteren Verlauf der Ermittlungen ab Ende 2016 / Anfang 2017 – wiederholt Phasen, in denen nur wenige bis keine zielführenden Ermittlungen mehr erfolgten, die auf einen Abschluss des Verfahrens gerichtet waren (hierzu unter d.).

Pauschgebühr beim OLG Schleswig, oder: Wir haben keine Ahnung von Gebühren

Smiley

Heute am Gebührenfreitag stelle ich dann mal wieder zwei RVG-Entscheidungen vor. Beide falsch, die eine zu Lasten, die andere zu Gunsten des Verteidigers.

Ich beginne mit dem OLG Schleswig, Beschl. v. 16.07.2020 – 1 AR 8/20, den mir der Kollege Marquort aus Kiel vor einigen Tagen mit dem Betreff: „Schöne“ Entscheidung, geschickt hat. Nun ja, „schön“ ist nun wirklich etwas anderes 🙂 .

Ergangen ist der Beschluss im Pauschgebührenverfahren (§ 51 RVG). Das OLG hat die vom Kollegen beantragte Pauschgebühr abgelehnt. Begründung:

„Es ist bereits zweifelhaft, ob die Sache einen besonderen Umfang im Sinne von § 51 Abs 1 Satz 1 RVG hatte. Der Umfang beschränkt sich auf fünf Aktenbände; von den insgesamt 18 Hauptverhandlungsterminen haben insgesamt acht Termine deutlich weniger als zwei Stunden angedauert. Allerdings mag grundsätzlich aufgrund des Verfahrensgegenstandes und der Einholung dreier unterschiedlich gelagerter Sachverständigengutachten von einer besonderen Schwierigkeit ausgegangen werden.

Gleichwohl liegen die Voraussetzungen für die Bewilligung einer Pauschgebühr nicht vor, denn der Antragsteller hat bislang lediglich die Festsetzung der Vergütung eines gerichtlich bestellten Verteidigers abgerechnet und damit noch nicht alle ihm zustehenden Vergütungsansprüche geltend gemacht.

Gemäß § 52 Abs. 1 RVG kann nämlich der gerichtlich bestellte Rechtsanwalt von dem Beschuldigten die Zahlung der Gebühren eines gewählten Verteidigers verlangen. Dieser Anspruch entfällt gemäß § 52 Abs. 1 Satz 2 RVG nur insoweit, als die Staatskasse Gebühren gezahlt hat. Gemäß § 52 Abs. 2 Satz 1 1. Halbsatz RVG kann der Anspruch nur insoweit geltend gemacht werden, als dem Beschuldigten ein Erstattungsanspruch gegen die Staatskasse zusteht. Diese Voraussetzungen liegen vorliegend allerdings vor, da der Angeklagte mit Urteil des Landgerichts Kiel vom 20. Dezember 2018 freigesprochen wurde und die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Landeskasse auferlegt wurden (§ 467 Abs 1 StPO). Unter Berücksichtigung dieses (weiteren) Vergütungsanspruches ist für die Bewilligung einer Pauschgebühr kein Raum, weil der Antragsteller nicht allein auf die Gebühren eines gerichtlich bestellten Rechtsanwaltes beschränkt ist und diese daher auch nicht unzumutbar sind.“

Ja, falsch, und zwar grottenfalsch. Dabei geht es mir nicht um die Ablehnung der Pauschgebühr an sich. Das wundert ja schon kaum noch, dass die OLG sich damit schwer tun. Nein, es ist die Begründung, und zwar der Hinweis auf § 52 RVG. Denn wäre das, was die Einzelrichterin des OLG hier verlangt, richtig, würde das bedeuten, dass der Verteidiger zunächst seinen Anspruch gegen den Mandanten geltend machen muss – § 52 RVG – , bevor er eine Pauschgebühr erhält. Das ist so neu (= falsch), dass es bisher nirgendwo vertreten worden ist. Diese Argumentation verkennt nicht nur das Gebührengefüge im RVG mit eigenen Ansprüchen des Pflichtverteidigers auf gesetzliche Gebühren und  den Ansprüchen des Mandanten nach Freispruch. Die haben nichts miteinander zu tun. Hinzu kommt der Wortlaut des § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG. Da geht es um die gesetzlichen Gebühren und die Frage, ob die „unzumutbar“ sind. Irgendwelche Ansprüche, die der Pflichtverteidiger vielleicht geltend machen könnte, spielen da keine Rolle. Auch Zahlungen Dritter bleiben außen vor, die haben ggf. erst bei der späteren Festsetzung der Pauschgebühr Bedeutung.

Das steht in jedem Kommentar zum RVG. Aber offenbar hat man die beim OLG Schleswig nicht, oder: Man schaut nicht rein, weil man keine Lust hat oder, um es vorsichtig auszudrücken, die Zeit nicht aufwenden will. Da erfindet man lieber etwas Neues und das natürlich auch als Einzelrichter. Ohne jede Belegstelle. Erschreckend, dass man bei einem OLG so mit anwaltlichen Gebühren umgeht. Wenn das die Leistung eines Schülers wäre, würde die sicherlich mit einer Note ganz am Ende der Notenskala bewertet.

Der Kollege wird es mit einer Gegenvorstellung versuchen, vielleicht hat er damit ja Erfolg. Und dann: Es bleibt wohl nur der Gang nach Karlsruhe, der allerdings, das räume ich ein, nicht sehr erfolgversprechend ist.

OWi II: Nochmals Rohmessdaten, oder: OLG Schleswig folgt dem VerfGH Saarland natürlich auch nicht

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Die zweite Entscheidung des Tages kommt mit dem OLG Schleswig, Beschl. v. 20.12.2019 – II OLG 65/19 – mal wieder zu der Frage der Anwendung des Urteils des VerfGH Saarland v. 05.07.2019 (Lv 7/17). Ich bin auf die Entscheidung von verschiedenen Bloglesern aufmerksam gemacht worden und stelle sie u.a. deshlab hier vor. Obwohl: Viel Neues bringt sie nicht. Denn – wen wundert es? – das OLG wendet die Grundsätze des VerfGH natürlich nicht an und meint dazu:

„bb) Dieser Auffassung vermag der Senat bereits aus verfahrensrechtlicher Sicht nicht zu folgen.

Denn es trifft zunächst nicht zu, dass Beweisobjekte grundsätzlich für eine Nachprüfung der Gewinnung des Beweisergebnisses noch zur Verfügung stehen müssten. Im Falle der Einholung eines Sachverständigengutachtens – und dies betrifft etwa die vom Verfassungsgerichtshof des Saarlandes angesprochene Auswertung von DNA-Proben oder die Auswertung von Blutproben – ist Beweismittel das Sachverständigengutachten, nicht hingegen die DNA-Probe oder Blutprobe, welche – wie § 81a Abs. 3 StPO zeigt – zwar grundsätzlich bis zum Abschluss des Verfahrens aufzubewahren und danach zu vernichten sind, aber durchaus häufig auch im Rahmen der Sachverständigenuntersuchung verbraucht worden sind. Dies schließt die Verwertung des gutachterlichen Ergebnisses jedoch keinesfalls aus, weil eben dieses selbst das Beweismittel ist. Genau diese Wertung liegt auch der Möglichkeit der Verlesung von Gutachten oder Berichten über die Entnahme von Blutproben gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 1 und 3 StPO zugrunde.

Kann sich der Strafrichter aufgrund der verlesenen Gutachten bzw. Berichte keine abschließende Überzeugung bilden und hat insbesondere Zweifel an der Aussagekraft der Erklärungen, wird er den Sachverständigen ergänzend vernehmen und zur Gewinnung seines Beweisergebnisses befragen müssen. Sind die Beweisobjekte nicht mehr vorhanden, kann es zur Erforderlichkeit einer besonders kritischen Bewertung des Beweisergebnisses kommen, gegebenenfalls auch zur Beauftragung eines weiteren Sachverständigen (BGH, Beschluss vom 8. November 1988 – 1 StrR 544/88 -, StV 1989, 141, bei juris; BGH, Beschluss vom 14. Juli 1995 – 3 StR 355/94 -, StV 1995, 565, bei juris). Eine Neubestimmung der Blutprobe oder der DNA-Probe wird aber nicht regelmäßig erfolgen müssen und auch nicht stets erfolgen können. Auch kennen andere Messmethoden, wie etwa der Gebrauch von Waagen, Längenmessern, Thermometern oder die Bestimmung der Atemalkohol-Konzentration, eher selten bis überhaupt nicht eine Aufzeichnung von Rohmessdaten, ohne dass dies bisher Gerichte oder auch den Gesetzgeber (vgl. etwa § 24 a StVG für die Atemalkoholkonzentration) zur Annahme eines rechtsstaatlichen Defizits gebrachte hätte.

Zudem kennt die forensische Praxis diverse Verfahren, die sich zum Inhalt verlorengegangener oder vernichteter Urkunden (etwa Testamente) verhalten und deren Inhalt rekonstruieren müssen. Auch dies ist prozessual anerkannt möglich, ohne dass dem der Einwand der Unmöglichkeit einer Kontrolluntersuchung entgegenstände. Die Rechte des Betroffenen werden in solchen Situationen durch die verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Sachaufklärung des Gerichts gewahrt. Kann sich das Gericht eine hinreichende Überzeugung bilden, kann es von einem Beweisergebnis ausgehen. Gelingt dies nicht und kann die „Lücke“ nicht auf andere Weise geschlossen werden, ist der Beweis nicht als geführt anzusehen; im Straf- bzw. Ordnungswidrigkeitenverfahren ist der Angeklagte oder Betroffene im Zweifel freizusprechen.

Die Rechtsfigur des „standardisierten Messverfahrens“ erleichtert die Aufklärungslast des Gerichts in den für sie geeigneten Situationen lediglich dahin, dass im Sinne eines antizipierten Gutachtens ein Beweis als geführt angesehen werden darf, solange nicht konkrete Einwendungen gegen die Richtigkeit des Messergebnisses erhoben werden. Diese Einwände müssen jedoch das Messergebnis selbst betreffen, nicht in erster Linie die Funktionalität des eingesetzten Messgerätes. Denn für die Verlässlichkeit des Messverfahrens ist nicht erforderlich, dass und in welcher Weise die Funktionalität des Messvorganges konkret nachvollzogen werden kann oder auch noch nachträglich aufgrund vorhandener Rohmessdaten zu Kontrollzwecken simuliert werden kann. Die Annahme eines Messverfahrens als eines standardisierten Verfahrens setzt voraus, dass das Messgerät im Rahmen seiner Konformitätsprüfung durch die PTB diverse Messreihen durchlaufen hat und von daher in einem anzunehmenden „Normalfall“ unter Berücksichtigung einer Toleranz seine Messgenauigkeit unter Beweis gestellt hat. Die Qualität denkbarer Einwände richtet sich daher allein danach, ob und inwieweit es Umstände gibt, die eine Anormalität der Messsituation oder des Messvorgangs nahelegen.

cc) Mit dieser – verfahrensrechtlichen – Sicht ist es nicht vereinbar, eine Verwertbarkeit des derart gewonnenen Ergebnisses bereits deshalb zu verneinen, weil dem Betroffenen nicht die Möglichkeit eröffnet ist, durch Recherche denkbare Fehlfunktionen zu ermitteln. Denn letztlich stellt eine derartige Sicht – wie es das OLG Oldenburg (Beschluss vom 23. Juli 2018 – 2 Ss (OWi) 187/18 -, bei juris), der I. Senat für Bußgeldsachen des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts (Beschluss vom 5. Juni 2019 – I OLG 123/19, SchlHA 2019, 279 f., bei juris) und jetzt das Bayerische Oberste Landesgericht (Beschluss vom 9. Dezember 2019 – 202 ObOWi 1955/19, BeckRS 2019, 31165) zutreffend formuliert haben – die Figur des standardisierten Messverfahrens grundlegend in Frage.

Dies zeigt gerade auch der konkrete Fall: denn auch hier ist der Betroffene ersichtlich nicht in der Lage, auf Anormalitäten der Messsituation oder des Messvorganges zu verweisen. Insbesondere liegt die festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung von etwa 28 km/h bezogen auf die zulässige Höchstgeschwindigkeit keinesfalls in einem Bereich, der eine derartige Überschreitung als nach dem eingesetzten Fahrzeug oder den Örtlichkeiten unplausibel erscheinen lassen müsste. Lag es derart, war das Amtsgericht auch nicht gehalten, von sich aus weitere Sachaufklärung vorzunehmen.

dd) Der Senat vermag auch nicht zu erkennen, dass die skizzierte Handhabung des Verfahrensrechts den Betroffenen in seinen Grundrechten oder seinem Recht auf Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens verletzt.

Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass das derzeitige System der Tatsachenfeststellung in Ordnungswidrigkeitenverfahren einschließlich der Überprüfung durch die Rechtsbeschwerdegerichte in ihrer Gesamtschau rechtsstaatlichen Standards nicht genügen würde (so mit Recht auch BayObLG a.a.O.). Die vom Verfassungsgerichtshof des Saarlandes angeführte Situation bei elektronischen Wahlgeräten (hierzu BVerfG, Beschluss vom 3. März 2009 – 2 BVC 3/07, 2 BVC 4/07, BVerfGE 123, 39 ff., bei juris) betrifft eine demokratierelevante Sondersituation und ist nicht mit der Situation eines gerichtlichen Verfahrens vergleichbar.

Ungeachtet dessen teilt der Senat auch nicht die Auffassung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes, dass die Konsequenz selbst eines angenommenen rechtsstaatlichen Defizits stets in einem Verbot der Verwertung des gewonnenen Beweisergebnisses liegen muss.

Zum einen handelt es sich bei Zweifeln an der Beweiskraft eines Sachverständigengutachtens oder einer technischen Aufzeichnung in erster Linie um ein Problem richterlicher Sachverhaltsaufklärung, ohne dass die vorzunehmende – notfalls kritische – Würdigung in der bisherigen gerichtlichen Praxis durch die Annahme von Verwertungsverboten „überholt“ worden wäre. Zum anderen ist die Beantwortung der Frage, ob die Annahme eines Verwertungsverbots gerechtfertigt ist, im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht stets das Ergebnis einer Abwägung der betroffenen Belange im Einzelfall (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2010 – 2 BvR 1046/08 -, bei juris Rn. 36 zur Verwertung einer entgegen § 81 a StPO damaliger Fassung gewonnenen Blutprobe). Insoweit ist aber zu bedenken, dass es vorliegend nicht um den Vorwurf eines schweren Delikts mit für den Betroffenen einschneidenden Folgen geht, sondern – nur – um den Vorwurf einer Geschwindigkeitsüberschreitung und einer sich hieraus ergebenden Ordnungswidrigkeit. Das Bundesverfassungsgericht hat auch bei Dauervideoaufzeichnungen im Straßenverkehr ausgesprochen, dass deren Verwertung im Bußgeldverfahren nicht schon an einem generellen Verwertungsverbot scheitert, weil derartige Aufnahmen nicht den Kernbereich der privaten Lebensgestaltung des Betroffenen und seine Privatsphäre berühren (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 20. Mai 2011 – 2 BVR 2072/10 -, bei juris).“

Also es bleibt dabei: Eine „unheilige Allianz“ von Nord nach Süden, mit der die OLG die Messpraxis pp. verteidigen. Man kann nur den Kopf schütteln, wenn man liest: Dies zeigt gerade auch der konkrete Fall: denn auch hier ist der Betroffene ersichtlich nicht in der Lage, auf Anormalitäten der Messsituation oder des Messvorganges zu verweisen.“ und sich fragen: Wie soll er denn auch, wenn er die Messung nicht kennt und man die Daten nicht herausrückt? Wie war das noch mit dem „Teufelskreis“ß

Und: Zutreffend was einer meiner „Tippgeber“ „anmerkte“:

Sehr schön auch Rn. 33 zum Beweisverwertungsverbot:

„…Ergebnis einer Abwägung der betroffenen Belange im Einzelfall… Insoweit ist aber zu bedenken, dass es vorliegend nicht um den Vorwurf eines schweren Delikts mit für den Betroffenen einschneidenden Folgen geht, sondern – nur – um den Vorwurf einer Geschwindigkeitsüberschreitung und einer sich hieraus ergebenden Ordnungswidrigkeit“

Ich dachte immer, im Rahmen der (sicherlich unter Aufbietung aller Erkenntniskräfte durchgeführten) Abwägung würde das geringe Gewicht des Verfolgungsinteresses (keine schwere Straftat oder OWi) FÜR ein Verwertungsverbot sprechen (weil die staatlichen Interessen eben nicht so schwer wiegen) und nicht DAGEGEN.

Aber auf solche Details kommt es vielleicht in der heutigen Rechtsprechung auch schon gar nicht mehr an.“