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Corona I: Gefälschter Impfpass vor Kreistagssitzung, oder: Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse

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Und in die neue Woche starte ich dann mit zwei Entscheidungen zu Corona, zwei – von mir so genannte „Abarbeitungsentscheidungen“, die also Fragen betreffen, die während der Corona-Pandemie eine Rolle gespielt haben.

Ich beginne mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 27.04.2023 – 3 RVs 16/23 – zur Vorlage eines gefälschten Impfpasses. Es geht um die Verurteilung eines Mitglieds der AFD. Das hatte im  November 2021 an einer Sitzung des Ältestenrates des Gütersloher Kreistages teilgenommen, wobei er ein verhindertes Mitglied dieses Gremiums vertrat. Bei der Überprüfung der Einhaltung der seinerzeit infolge der Coronaviruspandemie geltenden 3-G-Regelung legte er der Protokollführerin einen gefälschten Impfausweis vor, in dem zwei tatsächlich nicht erfolgte Impfungen eingetragen waren. Bei einer anschließenden Hausdurchsuchung wurde dieser Impfausweis bei ihm sichergestellt. Nach Bekanntwerden des Vorfalls in der Öffentlichkeit trat der Angeklagte von allen politischen Ämtern zurück und trat aus der Partei AfD aus.

Das Verhalten des Angeklagten hat das LG als Gebrauch unrichtiger Gesundheitszeugnisse im Sinne des § 279 StGB gewertet und den Angeklagten entsprechend verurteilt. Das hat das OLG Hamm bestätigt:

„In sachlichrechtlicher Hinsicht erfüllt dieses Tatgeschehen den Tatbestand des Gebrauchs unrichtiger Gesundheitszeugnisse gem. § 279 StGB in der bis zum bis zum 23. November 2021 geltenden Fassung (§ 279 StGB a. F.).

a) Bei dem Impfausweis, den der Angeklagte der Zeugin H. vorlegte, handelt es sich um ein Gesundheitszeugnis (RGSt 24, 284, 285f.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26. Juli 2022 – 2 Rv 21 Ss 262/22 -, juris; OLG Celle, Urteil vom 31. Mai 2022 – 1 Ss 6/22 -, juris; OLG Stuttgart, Beschluss vom 8. März 2022 – 1 Ws 33/22 -, juris; OLG Hamburg, Beschluss vom 27. Januar 2022 – 1 Ws 114/21 -, juris; Erb, in: Müchener Kommentar zum StGB, 4. Auflage 2022, § 277, Rn. 2). Dieses Gesundheitszeugnis war auch unrichtig, denn entgegen den darin enthaltenen Angaben war der Verurteilte nicht gegen das Coronavirus geimpft.

b) Indem der Angeklagte den Impfausweis zur Überprüfung seines Impfstatus vorlegte, gebrauchte er diesen. Entgegen der Auffassung der Revision handelte er dabei in der Absicht, eine Behörde im Sinne von § 279 StGB a. F. zu täuschen.

aa) Allgemein wird unter dem Merkmal „Behörde“ in Anlehnung an das Reichsgericht (RGSt 18, 246, 249f.) „eine in den Organismus der Staatsverwaltung eingeordnete, organisatorische Einheit von Personen und sächlichen Mitteln“ verstanden, „die mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestattet dazu berufen ist, unter öffentlicher Autorität für die Erreichung der Zwecke des Staates oder von ihm geförderter Zwecke tätig zu sein“ (BVerfG, Urteil vom 14. Juli 1959 – 2 BvF 1/58 -, juris; BGH, Urteil vom 23. Juli 1963 – 6 StE 1/63 -, juris; BayObLG, Beschluss vom 5. Juli 1993 – 4St RR 37/93 -, juris; Hilgendorf, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Auflage 2020, § 11, Rn. 93; Radtke, in: Müchener Kommentar zum StGB, 4. Auflage 2020, § 11, Rn. 150; Hecker, in: Schönke/Schröder Strafgesetzbuch, 30. Auflage 2019, § 11, Rn. 55). Auch die Revision beruft sich auf diese Definition.

Als die Zeugin H. den Impfausweis des Angeklagten kontrollierte, war sie für eine Behörde im vorgenannten Sinne tätig. Mit der Kontrolle nahm sie im Auftrag des Landrats dessen Befugnisse gem. § 36 Kreisordnung NRW (KrO NRW) wahr. Die Vorschrift überträgt dem Landrat öffentliche Gewalt zur Ausübung der Sitzungspolizei bei den Sitzungen des Kreistags, zu dem gem. § 4 der Geschäftsordnung des Kreistags des Kreises E. auch der Ältestenrat gehört. Gem. § 36 KrO NRW leitet der Landrat die Verhandlungen des Kreistags, eröffnet und schließt die Sitzungen, sorgt für die Aufrechterhaltung der Ordnung und übt das Hausrecht aus. Dazu zählte auch die Überwachung der Zugangsbeschränkungen gem. § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Coronaschutzverordnung NRW in der ab dem 8. Oktober 2021 gültigen Fassung (CoronaSchVO NRW) sowie die Kontrolle von Impfnachweisen gem. § 4 Abs. 5 CoronaSchVO NRW. Mit der Wahrnehmung dieser Aufgaben wirkt der Landrat selbständig auf die Erreichung von Staatszwecken hin. Denn gem. § 2 Abs. 1 KrO NRW sind die Kreise, soweit das Gesetz nicht etwas anderes bestimmt, ausschließliche und eigenverantwortliche Träger der öffentlichen Verwaltung zur Wahrnehmung der auf ihr Gebiet begrenzten überörtlichen Angelegenheiten. Zur Erfüllung dieser Aufgaben handeln die Kreise u. a. durch den Kreistag, dessen Kompetenzen in § 26 KrO NRW geregelt sind. Die Sitzungspolizei des Landrats sichert die Handlungsfähigkeit des Kreistags und dient damit der Staatsverwaltung (so bereits OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 13. Mai 1964 – 1 Ss 257/64 -, NJW 1964, 1682, für Stadtverordnetenvorsteher nach hessischem Kommunalrecht).

bb) Auf die von der Revision vorgenommene funktionale Differenzierung zwischen der Rolle des Landrats als Hauptverwaltungsbeamter des Kreises einerseits und Vorsitzendem des Kreistags (§ 25 Abs. 2 KrO NRW) andererseits kommt es somit schon im Hinblick auf die eindeutigen Aufgabenzuweisungen in §§ 26, 36 KrO nicht an. Auch der Einwand der Verteidigung, die hier in Rede stehende Tätigkeit des Landrats entfalte keine Außenwirkung, spielt für den strafrechtlichen Behördenbegriff keine Rolle.

Schließlich erfordert auch der Schutzzweck von § 279 StGB a. F. kein anderes Verständnis des Merkmals. Denn die Regelung dient dem Schutz des Rechtsverkehrs vor unwahren Urkunden; ein Grund, den Landrat als Vorsitzenden des Kreistags und Inhaber der Sitzungspolizei von diesem Schutz auszunehmen, ist nicht ersichtlich (vgl. BGH, Urteil vom 24. April 1963 – 2 StR 81/63 -, juris).

Für dieses Ergebnis spricht, dass es sich hierbei um die für den Täter günstigste Auslegung der Strafgesetze handelt (vgl. Peglau, NJW 1996, 1193): Das Verhalten des Angeklagten erfüllt zugleich den Tatbestand der Urkundenfälschung gem. § 267 Abs. 1 StGB in Gestalt des Gebrauchens einer unechten Urkunde. Während § 267 Abs. 1 StGB eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe ermöglicht, sieht § 279 StGB a. F. als Strafmaß nur Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe vor. Würde man in Fällen wie dem vorliegenden in Abrede stellen, dass der Angeklagte zur Täuschung einer Behörde gehandelt hat, wäre der Angeklagte nach der schärferen Regelung des § 267 StGB zu bestrafen. Denn entgegen der Auffassung von Teilen der obergerichtlichen Rechtsprechung entfaltet § 279 StGB a. F. keine „Sperrwirkung“ gegenüber der Urkundenfälschung (§ 267 StGB), wenn der Tatbestand der Fälschung von Gesundheitszeugnissen nicht vollständig erfüllt ist (BGH, Urteil vom 10. November 2022 – 5 StR 283/22 -, Pressemitteilung Nr. 161/2022 vom 10 November 2022; OLG Karlsruhe a. a. O.; OLG Celle, a. a. O.; OLG Stuttgart, a. a. O.; OLG Hamburg, a. a. O.).

c) Am Vorsatz und der Täuschungsabsicht des Angeklagten bestehen nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen keine Zweifel. Da dem Angeklagten die äußeren Umstände des Tatgeschehens bekannt waren, kommt ein Erlaubnistatbestandsirrtum analog § 16 1 Satz 1 StGB nicht in Betracht. Gleiches gilt für einen Verbotsirrtum gem. § 17 Satz 1 StGB. Es liegt fern, dass der Angeklagte sich irrtümlich für befugt hielt, mit einem falschen Impfausweises über seinen Impfstatus zu täuschen.“

Achtung: Die Entscheidung betrifft „altes Recht“.

Wegen anderer vom OLG behandelter Fragen, komme ich auf die Entscheidung noch einmal zurück.

Unfallregulierung/Prüfung eines Totalschadens, oder: Täuschungsversuch über Vorschaden und Laufleistung

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Im „Kessel Buntes“ dann heute seit längerem mal wieder etwas zur Unfallschadenregulierung, und zwar den OLG Hamm, Beschl. v. 15.12.2022 – I 7 U 74/22-, den mit der Kollege Nugel aus Essen geschickt hat. Nichts Besonderes, aber immerhin…..

Nach dem Sachverhalt verlangt der Kläger Schadensersatz nach einem von ihm behaupteten Verkehrsunfall. Er macht im Rahmen einer fiktiven Abrechnung eine Erstattung der Reparaturkosten zuzüglich merkantilen Minderwert geltend. Zusammen haben die Bruttoreparaturkosten mit dem Minderwert 6.104,00 EUR betragen und lagen damit unterhalb des Wiederbeschaffungswertes von 6.600,00 EUR, haben allerdings den Wiederbeschaffungsaufwand nach Abzug des Restwertes von 5.400,00 EUR überschritten. Von den Beklagten ist vor diesem Hintergrund eingewandt worden, dass es sich um einen Totalschaden handeln würde und der Wert des Fahrzeuges nicht bestimmt werden könnte, da die Klägerseite zu wertbestimmenden Vorschäden keine ausreichenden Angaben tätigen würde und auch die angegebene Kilometerleistung nicht zutreffen würde.

In der I. Instanz hatte der Kläger für wertbestimmende Vorschäden im Wesentlichen keine Angaben gemacht, sondern erst in der II. Instanz ein entsprechendes Gutachten zu einem Schaden aus dem Jahr 2016 vorgelegt. Aus diesem ergaben sich eine Vielzahl an Schadenspositionen im Bereich der Motorhaube, den Kotflügeln, Scheinwerfer und Stoßfängerabdeckung sowie den Schlossträgern und diversen weiteren Beschädigungen rund herum um das Fahrzeug. Konkrete Angaben, wie diese Schäden beseitigt worden sein sollen, erfolgten im Laufe des Verfahrens nicht. Im Übrigen ergab sich aus dem Gutachten aus dem Jahr 2016 eine annähernd gleichhohe Laufleistung wie zwei Jahre später bei dem weiteren Schadensgutachten aus dem Jahr 2018, wobei bei diesem Gutachten die Kilometerangabe lediglich auf den Angaben des Klägers beruhte und durch den Gutachter nicht verifiziert werden konnte. Zur zutreffenden Laufleistung erfolgten im Laufe des Prozesses auch keine weiteren Angaben durch die Klägerseite.

Vor diesem Hintergrund hat das LG die Klage abgewiesen. Das OLG Hamm will die dagegen eingelegte Berufung zurückweisen. Hier die Leitsätze zu der Entscheidung, im Übrigen bitte im verlinkten Volltext nachlesen:

    1. Übersteigen die Bruttoreparaturkosten zuzüglich Minderwert zwar den Wiederbeschaffungsaufwand, erreichen jedoch nicht den Wiederbeschaffungswert, erhält der Geschädigte im Rahmen einer fiktiven Abrechnung die Reparaturkosten nur unter der zusätzlichen Voraussetzung, dass er das Kfz 6 Monate weiter benutzt.
    2. Bei dem ansonsten alleine zu erstattenden Wiederbeschaffungswert abzüglich Restwert ist der konkrete Fahrzeugschaden jedoch nicht bestimmbar, wenn es an ausreichenden Angaben zu wertbestimmenden Vorschäden und der tatsächlichen Laufleistung des Fahrzeuges als Grundlagen für die Bestimmung des Wiederbeschaffungswertes fehlt.
    3. Dies gilt erst Recht, wenn der Geschädigte als Anspruchsteller in der I. Instanz hierzu sogar unzutreffende Angaben getätigt hat.
    4. Wenn ein erstattungsfähiger Fahrzeugschaden nicht festgestellt werden kann, sind auch alle Folgeansprüche wie eine Unkostenpauschale, Gutachterkosten oder Rechtsanwaltskosten nicht zu erstatten.

OWi II: Hier dann vier OLG-Beschlüsse zum Fahrverbot, oder: Zeitablauf, Gründe, Begründungstiefe

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Im zweiten Posting des Tages kommen dann hier einige Entscheidungen zum Fahrverbot, also § 25 StVG, aber nur die Leitsätze. Die Beschlüsse enthalten nichts weltbewegend Neues, sondern schreiben nur die bisherigen Rechtsprechung fort. Der u.a. Beschluss des BayObLG nimmt darüber hinaus noch zu zwei weiteren Fragen Stellung.

Hier sind dann:

Bei einem Zeitablauf von über zwei Jahren zwischen Tat und Urteil bedarf es besonderer Umstände für die Annahme, dass ein Fahrverbot noch unbedingt notwendig ist.

Ein Absehen von einem Fahrverbot nach § 25 StVG kommt auch dann in Betracht kommt, wenn dessen Verhängung aufgrund Zeitablaufs nicht mehr geboten erscheint, weil dessen Erziehungsfunktion die warnende Wirkung des Fahrverbots nicht mehr erfordert. Voraussetzung hierfür ist, dass die zu ahndende Tat lange (in der Regel mehr als zwei Jahre) zurückliegt, dass die für die lange Verfahrensdauer maßgeblichen Umstände außerhalb des Einflussbereiches des Betroffenen liegen und dieser sich in der Zwischenzeit verkehrsgerecht verhalten hat.

1. Für die Verhängung eines Fahrverbots wegen eines beharrlichen Verstoßes gegen die Pflichten eines Kraftfahrzeugführers gemäß § 25 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 StVG ist eine hinreichend aussagekräftige Darstellung der Vorahndungslage unerlässlich.
2. Zulässiges Verteidigungsverhalten eines Betroffenen, wie etwa das Bestreiten des Tatvor-wurfs, darf bei der Bemessung der Rechtsfolgen nicht zu seinem Nachteil gewertet werden.
3. Einem Betroffenen, der den Tatvorwurf bestreitet, darf bei der Bemessung der Bußgeldhöhe eine „uneinsichtige Haltung“ nicht angelastet werden.

 

Ob eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt, d. h. das Verfahren ohne zwingenden Grund für eine nicht unerhebliche Dauer zum Stillstand gekommen ist, hängt von den Umständen des konkreten Einzelfalls ab. Insoweit verbietet sich eine an feste Zeitgrenzen gebundene generelle Bewertung der bloßen zeitlichen Abläufe. Eine Bearbeitungsdauer von neun Monaten für die Erstellung der Gegenerklärung der Generalstaatsanwaltschaft zur Rechtsbeschwerdebegründung des Verteidigers ist im Hinblick auf eine 82 Seiten lange Rechtsbeschwerdebegründung mit erheblicher Begründungstiefe nicht zu beanstanden. (Kompensation verneint).

Die letzte Entscheidung erstaunt. Das OLG Stuttgart behauptet ernsthaft, dass eine Bearbeitungszeit für eine Rechtsbeschwerde von neun Monaten „unter den gegebenen Umständen — auch im Hinblick auf die aufgeworfenen Rechtsfragen und die gebotene Würdigung der ihrerseits umfangreichen Ausführungen im amtsrichterlichen Urteil — ordnungsgemäß“ ist. Gut. Man kennt die „umfangreichen Ausführungen“ des AG nicht, die Rechtsbeschwerdebegründung war allerdings 82 Seiten lang, woran die GStA sicherlich zu „knacken“ hatte. Aber: So „begründungstief“, wie das OLG behauptet, kann das aber dann doch nicht gewesen sein, wenn das OLG auf die 82 Seiten kein Wort verschwendet, sondern nach § 349 Abs. 2 StPO verwirft.

Nur zur Klarstellung: Damit zweifele ich nicht die Qualität der Rechtsbeschwerdebegründung des Kollegen Gratz an, der mir den OLG-Beschluss geschickt hat, sondern die „Begründungstiefe“ des OLG Beschlusses, die an der Stelle m.E. nicht „passt“.

OWi I: In Schrägfahrt nachfahrendes Polizeimotorrad, oder: Übersichtlichkeit der Überholstrecke

Und dann in dieser Woche noch ein paar OWi-Entscheidungen

Ich starte mit dem OLG Hamm, Beschl. v. 09.01.2023 – 5 RBs 334/22. Das AG hat den Betroffenen wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und fahrlässigem Überholen, obwohl nicht übersehbar war, dass während des gesamten Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen war, zu einer Geldbuße verurteilt und ein Fahrverbot verhängt.

Das OLG hebt wegen nicht ausreichender Feststellungen auf:

„1. Die der Verurteilung zugrundeliegende Beweiswürdigung erweist sich sowohl (a)) bezüglich der gefahrenen Geschwindigkeit als auch (b)) bezüglich der Übersichtlichkeit der Überholstrecke als lückenhaft und hält damit sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand (§ 261 StPO).

a) Im Ansatz zutreffend ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass die Geschwindigkeitsmessung mittels des ProVida-Systems vorliegend wegen der Schrägfahrt des nachfahrenden Polizeimotorrades während des Messvorgangs nicht den Anforderungen genügt, welche an ein standardisiertes Messverfahren zu stellen sind.

aa) Es liegt vielmehr lediglich ein individuelles Messverfahren ohne die Vermutung der Richtigkeit und Genauigkeit vor, sodass das Amtsgericht — wovon es selbst auch zutreffend ausgegangen ist — die Korrektheit des Messergebnisses individuell zu prüfen hatte (OLG Naumburg DAR 2016; 403; OLG Bamberg ZfS 2017, 171; OLG Düsseldorf BeckRS 2012, 01983; Burmann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, 27. Aufl. 2022, § 3 StVO Rn. 85). Holt das Gericht aus diesem Grund — wie vorliegend — ein Sachverständigengutachten ein und misst diesem Beweisbedeutsamkeit bei, so muss es nach ständiger Rechtsprechung die Ausführungen des Sachverständigen in einer (wenn auch gerade in Bußgeldsachen nur gedrängt) zusammenfassenden Darstellung unter Mitteilung der zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen und der daraus gezogenen Schlussfolgerungen wenigstens insoweit wiedergeben, als dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner gedanklichen Schlüssigkeit erforderlich ist (stRspr; BGH, Urteil vom 20.03.1991 — 2 StR 610/90 —, Rn. 11, juris; OLG Koblenz, Beschluss vom 31.05.2021 — 3 OWi 32 SsBs 97/21 —, Rn. 10, juris; Senatsbeschluss vom 10.05.2022 — 5 RBs 111/22).

bb) Den vorstehend beschriebenen Anforderungen genügt die Beweiswürdigung mangels vollständiger Darlegung der Anknüpfungstatsachen nicht. So teilt das Amtsgericht zwar mit, dass der Sachverständige das Messvideo ausgewertet und aufgrund von sogenannten Orthofotos zwei Fixpunkte bestimmt habe. Die hiernach ermittelte Wegstrecke und Zeit habe unter Abzug näher dargelegter Toleranzen eine Mindestgeschwindigkeit von 141 km/h ergeben. Den Darlegungen in der Beweiswürdigung lässt sich jedoch nicht entnehmen, welche Fixpunkte gewählt worden sind, welcher Abstand zwischen den Fixpunkten bestand und auf welcher Weise dieser Abstand bestimmt worden ist sowie welche Zeit das Motorrad des Betroffenen zur Zurücklegung der Wegstrecke zwischen den Fixpunkten benötigte und wie diese Zeitspanne ermittelt worden ist. Aufgrund dieser fehlenden Darlegung wird der Senat nicht — was indes erforderlich wäre — in die Lage versetzt, die Geschwindigkeitsermittlung zu überprüfen.

Soweit zugunsten des Betroffenen zudem angenommen wird, dass für den Beginn der Messung auf die Position des vorderen und für das Ende der Messung auf die Position des hinteren Motorrades abgestellt wird, weil eine Vertauschung der Position der Motorräder nicht auszuschließen sei, ist das Urteil ferner nicht aus sich heraus verständlich. Weder den Feststellungen noch der Beweiswürdigung lässt sich entnehmen, ob und wie ein zweites Motorrad im Messvideo auftaucht.

b) Ferner werden auch die Anknüpfungstatsachen zur Übersichtlichkeit der Überholstrecke nicht hinreichend dargelegt.

aa) Nach § 5 Abs. 1 und 2 StVO darf nur überholen, wer übersehen kann, dass während des ganzen Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen ist. Das ist nur dann der Fall, wenn der ,Überholende einen Abschnitt der Gegenfahrbahn einsehen kann, der zumindest so lang ist, wie die für den Überholvorgang benötigte Strecke, zuzüglich des Weges, den ein entgegenkommendes, mit zulässiger Höchstgeschwindigkeit fahrendes Fahrzeug während des Überholens zurücklegt,‘ es sei denn, die Breite der Straße lässt ein gefahrloses Überholen auch bei Gegenverkehr zu (OLG Hamm NStZ-RR 2013, 181). Die erforderliche Mindestsichtweite für das Überholen ergibt sich demnach aus der Summe der Strecken des Überholenden und des Gegenverkehrs bis zur Begegnung (Heß, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, a.a.O. § 5 StVO 19).

bb) Diesbezüglich trifft das Amtsgericht zwar eine Reihe von Annahmen zu Gunsten des Betroffenen. So geht es (1) vom Beginn des Überholvorgangs möglichst nah an der Kurve im Hinblick auf die bessere Einsehbarkeit aus, legt (2) nur die Strecke zu Grunde, die das Motorrad zurückgelegt hat, nachdem es sich in Höhe des überholten PKWs befunden hatte und berücksichtigt (3) den Weg des entgegenkommenden Fahrzeugs nicht. Diese Annahme legen ein ordnungswidriges Überholen in der Tat sehr nahe. Gleichwohl sind auch die diesbezüglichen Ausführungen für den Senat nicht überprüfbar. So wird die vom Sachverständigen ermittelte Geschwindigkeit des überholten Fahrzeugs von 70. km/h , die zurückgelegten Strecken nach dem Einscheren von 98 m bzw. 120 m und die Einsehbarkeit der Strecke von maximal etwa 70m — 90m lediglich mitgeteilt, ohne dass konkret dargelegt wird, wie diese jeweils durch den Sachverständigen ermittelt wurden.“

Revision III: Beschränkte Anfechtung im JGG-Verfahren, oder: Umgehung des § 55 JGG?

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Und die dritte Entscheidung zu Revisionsfragen betrifft dann den § 55 JGG. Der sieht ja in seinem Abs. 1 Satz 1 eine Beschränkung der Beschränkung der Rechtsmittelmöglichkeit bei einem jugendrichterlicher Urteil, das allein Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel enthält, vor.

Damit befasst sich der OLG Hamm, Beschl. v. 20.09.2022 – 5 RVs 81/22. Im zugrunde liegenden Verfahren ist der Angeklagte vom Jugendrichter des Diebstahls schuldig gesprochen und gegen ihn einen „Freizeitarrest von einer Freizeit“ verhängt worden. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit der Sprungrevision und beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Jugendabteilung des AG zurückzuverweisen; als Begründung wird angeführt:

„Es wird die Verletzung sachlichen Rechts gerügt. Das angefochtene Urteil wird ausdrücklich sowohl im Schuldspruch als auch im Rechtsfolgenausspruch zur vollständigen Überprüfung durch den Senat gestellt.

Im Folgenden ist dann die Sachrüge näher ausgeführt worden und es wird beanstandet, dass die auferlegte Sanktion unverhältnismäßig sei. Es werde verkannt, dass dem Gericht in Jugendstrafsachen ein ganzer Kanon von Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehe; eine freiheitsentziehende Maßnahme könne dabei immer nur die Ultima Ratio sein. Es sei bei der Wahl der Sanktion zu Unrecht missachtet worden, dass für den Angeklagten bzgl. berücksichtigter eingestellter früherer Verfahren die Unschuldsvermutung streite.

Die GStA hat beantragt, die Revision als offensichtlich unbegründet zu verwerfen, also § 349 Abs. 2 StPO. Das OLG hat nach § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen:

„Die Revision ist gemäß § 349 Abs. 1 StPO als unzulässig zu verwerfen, da der Angeklagte es entgegen § 344 Abs. 1 StPO versäumt hat, ein unter Berücksichtigung von § 55 Abs. 1 S. 1 JGG zulässiges Angriffsziel eindeutig zu formulieren.

1. In der Revisionsbegründung muss das Ziel der Anfechtung so eindeutig mitgeteilt werden, dass die Verfolgung eines unzulässigen Ziels ausgeschlossen werden kann (vgl. Senatsbeschluss vom 07.02.2017, Az. 5 RVs 6/17 = BeckRS 2017, 107728). Besteht die Möglichkeit – wie vorliegend -, dass der Revisionsführer sich lediglich gegen die Auswahl und den Umfang von Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmitteln wendet, führt dies zur Unzulässigkeit, wobei Zweifel zulasten des Revisionsführers gehen (vgl. BGH, Beschluss vom 10.07.2013, Az. 1 StR 278/13 = NStZ 2013, 659; OLG Hamm, Beschluss vom 02.12.2021, Az. 4 RVs 124/21, juris). Die erforderliche eindeutige Angabe des Angriffsziels soll eine Umgehung der Vorschrift des § 55 Abs. 1 S. 1 JGG verhindern und damit dem Willen des Gesetzgebers – der Beschleunigung des Jugendstrafverfahrens im Hinblick auf die erzieherische Wirkung von Entscheidungen – ausreichend Rechnung tragen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.07.2007, Az. 2 BvR 1824/06).

2. Den vorgenannten Anforderungen an eine Revisionsbegründung bei einem gegen ein in den Anwendungsbereich von § 55 Abs. 1 S. 1 JGG fallendes Rechtsmittel genügt der Schriftsatz vom 24.06.2022 trotz des umfassenden Aufhebungsantrages sowie der ausdrücklichen Rüge des Schuldspruchs nicht, da er lediglich auf eine Umgehung der Vorschrift ausgerichtet ist; im Einzelnen:

a) Allein ein umfassend gestellter Aufhebungsantrag gibt keinen ausreichenden Aufschluss in Bezug auf das Anfechtungsziel (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 10.10.2000, Az. 33 Ss 92/00 = NStZ-RR 2001, 121). § 55 Abs. 1 S. 1 JGG kann nicht dadurch umgangen werden, dass ein Urteil zwar vordergründig zur vollen Überprüfung durch das Rechtsmittelgericht gestellt wird, allerdings tatsächlich nur Angriffe gegen die Strafzumessung ausgeführt werden (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 30.03.2016, Az. 1 OLG 8 Ss 49/16 = BeckRS 2016, 9474). So verhält es sich hier; die ausgeführte Revisionsbegründung richtet sich ausschließlich gegen die verhängte Sanktion bzw. die Voraussetzungen der §§ 5 Abs. 2 JGG und 13 Abs. 1 JGG.

b) Infolge der erhöhten Anforderungen an die Konkretisierung des Angriffsziels reicht es auch nicht aus, schlicht den Schuldspruch – allgemein – anzufechten (vgl. MüKo/Kaspar, 1. Auflage 2018, § 55, Rn. 69). Dies gilt jedenfalls dann, wenn – wie vorliegend – die den Schuldspruch tragenden Feststellungen auf der geständigen Einlassung des revidierenden Angeklagten beruhen, was der Senat – obwohl außerhalb der Revisionsbegründung liegend – zur Klärung der Eindeutigkeit des Ziels des Rechtsmittels berücksichtigen durfte (vgl. BGH, Beschluss vom 10.07.2013, Az. 1 StR 278/13 = NStZ 2013, 659) ; bei einer derartigen Sachlage bedarf es einer Klarstellung, inwieweit der Schuldspruch angefochten wird (vgl. BGH, a.a.O.; OLG Celle, Beschluss vom 10.10.2000, Az. 33 Ss 92/00 = NStZ-RR 2001, 121).

c) Selbst wenn man aber davon ausginge, dass bereits die ausdrückliche Rüge des Schuldspruchs seitens des Angeklagten den Anforderungen an § 344 Abs. 1 StPO i.V.m. § 55 Abs. 1 JGG genügte, würden die Einzelausführungen in der Revisionsbegründungsschrift vom 24.06.2022 die Revision insgesamt unzulässig machen, da sich daraus unzweifelhaft ergibt, dass der Angeklagte lediglich den Rechtsfolgenausspruch angreifen will.

Für den Fall, dass der Revisionsführer in Wahrheit nicht die Rechtsanwendung sondern die Beweiswürdigung beanstanden will und sich dieser Schluss aus den Einzelausführungen der Revisionsbegründung ziehen lässt, ist allgemein anerkannt, dass Einzelausführungen zur Sachrüge die Revision insgesamt unzulässig machen können (vgl. Meyer/Goßner, 65. Auflage, § 344, Rn. 19 m.w.N. zur höchstrichterlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung). Diese Rechtsprechung lässt sich – wegen der Vergleichbarkeit des Sachverhalts – auch auf die vorliegende Konstellation übertragen, bei der sich anhand der Einzelausführungen ergibt, dass die Rüge des Schuldspruchs lediglich vordergründig und unter Umgehung von § 55 Abs. 1 S. 1 JGG erhoben wird, während das Angriffsziel der Revision tatsächlich auf die – unzulässige – Beanstandung der Sanktion gerichtet ist.

3. Eine Konstellation, in der eine Umgehung der Vorschrift des § 55 Abs. 1 S. 1 JGG nicht angenommen werden kann, etwa weil aufgrund weiterer Ausführungen erkennbar wird, dass tatsächlich konkrete Rechtsfehler des Schuldspruchs beanstandet werden (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 16.04.2020, Az. 4 RVs 45/20), liegt nicht vor.“