Schlagwort-Archive: OLG Bamberg

Bewährung I: Bewährungswiderruf wegen neuer Straftat, oder: Auch nach Verlängerung der Bewährungszeit?

Bild von Andreas Lischka auf Pixabay

Heute dann drei Entscheidungen zu Bewährungsfragen.

Den Opener macht der OLG Bamberg, Beschl. v. 12.08.2021 – 1 Ws 477/21 -zur Frage des Bewährungswiderruf wegen einer neuen Straftat zwischen ursprünglichem Bewährungszeitende und nachträglicher Verlängerung der Bewährungszeit. Da denkt man dann an den Vetrauensschutz, der hier jedoch keine Rolle gespielt hat:

„5. Der Widerruf der Strafaussetzung ist vorliegend gerechtfertigt, da der Verurteilte bei Begehung der Anlasstat trotz Ablaufs der Bewährungszeit aufgrund vorheriger gerichtlicher Mitteilung mit einer bewährungsverlängernden Maßnahme rechnen musste.

a) Nach ganz überwiegender Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung schließt sich zwar, wie ausgeführt, die verlängerte Bewährungszeit rechnerisch rückwirkend unmittelbar an die abgelaufene Bewährungszeit an, dennoch rechtfertigen aber Straftaten, die zwischen dem Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit und dem Erlass des Verlängerungsbeschlusses begangen worden sind, den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung grundsätzlich nicht, weil der Verurteilte insoweit zum Tatzeitpunkt unbeschadet der Rückrechnung tatsächlich nicht unter offener Bewährung stand (OLG Bamberg, Beschl. v. 24.03.2015 – 22 Ws 19/15 bei juris, MüKoStGB/Groß/Kett-StraubAufl. § 56f Rn. 19 m.w.N.).

b) Jedoch kann nach verbreiteter Meinung, der sich der Senat anschließt, eine Straftat, die der Verurteilte nach Ablauf der ursprünglich bestimmten Bewährungszeit begeht, dann einen Widerruf der Strafaussetzung rechtfertigen, wenn die in Rede stehende Tat durch nachträgliche Verlängerung nicht nur rückwirkend in die Bewährungszeit fällt, sondern der Verurteilte bei Begehung der Nachtat trotz Ablaufs der Bewährungszeit auch mit einer bewährungsverlängernden Maßnahme rechnen musste (vgl. OLG Bremen; KG; OLG Saarbrücken; OLG Jena u. OLG Hamm, jew. a.a.O.). Entscheidungen über den Widerruf der Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung sind an Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Vertrauensschutz des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) zu messen (BVerfG, Beschl. v. 20.03.2013 – 2 BvR 2595/12 = NJW 2013, 2414 =BVerfGK 20, 260). Der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes steht in diesem Fall einer Berücksichtigung der Straftat nicht entgegen, da ein entsprechendes Vertrauen nicht schutzwürdig ist.

aa) Aus verfassungsrechtlichen Gründen ist es den Gerichten nicht verwehrt, die zwischen dem (vorläufigen) Ende der Bewährungszeit und der Verlängerung liegende neue Straftat zum Anlass für einen späteren Widerruf zu nehmen, wenn kein Vertrauenstatbestand vorliegt. Es wird im Hinblick auf den verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz des Vertrauensschutzes angenommen, dass für den Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung nicht Taten herangezogen werden können, die während eines Zeitraums begangen sind, in dem der Täter von dem rückwirkenden Beschluss über die sich nahtlos anschließende Bewährungszeit noch nichts wusste. Ein begründetes Vertrauen auf das Ausbleiben des Widerrufs der Strafaussetzung wegen einer in der sog. ‚bewährungsfreien Zeit‘ begangenen Straftat kann beispielsweise durch gerichtliche Mitteilungsschreiben zerstört worden sein, sodass der Verurteilte nicht mehr davon ausgehen kann, dass die Bewährungszeit mit dem Ablauf der bestimmten 3 Jahre enden wird, sondern – wie jedermann verständlich – davon, dass er sich weiterhin zu bewähren haben werde (BVerfG, Beschl. v. 10.02.1995 – 2 BvR 168/95 = NStZ 1995, 437 = StV 1996, 160).

bb) Die gesetzliche Regelung des § 56f Abs. 1 Satz 2 StGB sieht die Möglichkeit des Widerrufs auch bei neuen Straftaten vor, die zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft begangen werden. Es wird also auch von einem nicht rechtskräftig Verurteilten, der faktisch (noch) nicht unter Bewährung steht, erwartet, in dem Schwebezustand bis zum rechtskräftigen Verfahrensabschluss keine neuen Straftaten zu begehen, ohne dass hierbei Gründe des Vertrauensschutzes entgegenstehen. Eine gleichartige Konstellation liegt vor für den Zeitraum zwischen (vorläufigem) Ablauf der Bewährungszeit und Erlass des Verlängerungsbeschlusses, jedenfalls ab dem Zeitpunkt, in welchem der Verurteilte von der Möglichkeit der Verlängerung positiv Kenntnis erlangt. Ein sachlicher Grund, warum die Fallkonstellationen unterschiedlich behandelt werden sollten, ist nicht ersichtlich.

cc) Auch der Wortlaut des § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB, der als Voraussetzung für einen Bewährungswiderruf benennt, dass der Verurteilte in der Bewährungszeit eine Straftat begeht, steht dem Widerruf der Aussetzung vorliegend nicht entgegen. Wie dargestellt, schließt sich eine nach Verstreichen der ursprünglichen Bewährungszeit angeordnete Verlängerung rückwirkend zeitlich unmittelbar an die zuvor abgelaufene Bewährungszeit an, so dass auch Straftaten, die im Zeitraum zwischen dem ursprünglichen Ende der Bewährungszeit und der nachträglichen Verlängerung der Bewährungszeit begangen werden, vom Wortlaut der Vorschrift erfasst sind. § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB unterscheidet hingegen nicht nach dem Zeitpunkt, wann sich (hier durch den Verlängerungsbeschluss) ergab, dass eine Tat in die Bewährungszeit fiel. Die gegenteilige Rechtsauffassung, wonach eine Straftat, die zwischen dem Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit und dem Erlass eines Beschlusses über die Verlängerung der Bewährungszeit begangen wurde, einen Bewährungswiderruf selbst dann nicht rechtfertigt, wenn der Verurteilte vor Begehung der erneuten Straftat auf die Möglichkeit einer Verlängerung der Bewährungszeit hingewiesen wurde (vgl. z.B. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 06.03.2019 – 3 Ws 35/19 = Justiz 2020, 12 = OLGSt StGB § 56f Nr 66 = BeckRS 2019, 25052 m.w.N.) überzeugt nicht. Es käme einer nicht hinnehmbaren Bevorzugung des wiederholt delinquenten und hinreichend informierten Verurteilten gleich, wenn der Zeitraum zwischen (vorläufigem) Bewährungsende und Erlass des Verlängerungsbeschlusses einerseits voll auf die Bewährungszeit angerechnet würde, er sich in diesem Zeitraum andererseits jedoch nicht bewähren müsste, da eine Sanktionierung strafrechtlichen Verhaltens im Bewährungsverfahren nicht möglich wäre. Die Rechtsprechung, die einerseits eine rückwirkende Verlängerung der Bewährungszeit anerkennt, gleichzeitig aber argumentiert, dass die Tat nur formal in die Bewährungszeit falle und hieraus keine Konsequenzen ableitbar seien, berücksichtigt diesen Punkt zu wenig.

dd) Ein ausdrücklicher Hinweis dahingehend, dass die Bewährung auch wegen einer Straftat vor Erlass des Verlängerungsbeschlusses widerrufen werden kann, wird bislang nicht praktiziert und ist aus Gründen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit auch nicht erforderlich, wenn ein Verurteilter im Zeitpunkt der Begehung der Anlasstat sämtliche Umstände, die den anschließenden Bewährungswiderruf aufgrund dieser Tat rechtfertigten, kennt. Ihm ist dann bewusst, dass er zuvor wegen einer unter laufender Bewährung begangenen Tat rechtskräftig verurteilt worden, dass die ursprüngliche Bewährungszeit zwar inzwischen abgelaufen, jedoch die Strafe noch nicht erlassen, dass diese neue Verurteilung dem Bewährungsgericht bekannt ist und die Staatsanwaltschaft deswegen die Verlängerung der Bewährungszeit beantragt hat. Das Gericht hat ihm mitgeteilt, dass es bewährungsverlängernde Maßnahmen erwäge, so dass ein Verurteilter spätestens in diesem Zeitpunkt der Mitteilung unabhängig von dem genauen Zeitpunkt des Erlasses des Verlängerungsbeschlusses damit rechnen muss, dass eine Verlängerung der Bewährungszeit erfolgen wird und dass neuerliche Delinquenz auch die ihm bekannten weiteren Folgen wie den Widerruf der Bewährung nach sich ziehen kann. Dem Argument, ein Verurteilter könne nach Erhalt der gerichtlichen Mitteilung davon ausgehen, dass er nach Ablauf der ursprünglichen Bewährungszeit und bis zum Erlass einer erneuten Entscheidung, sich zumindest zunächst nicht mehr bewähren muss, ist zu entgegnen, dass ein Verurteilter den Zeitpunkt des Erlasses des Verlängerungsbeschlusses gar nicht kennen und absehen kann und dies der grundsätzlichen Erwartung des § 56f Abs. 1 StGB, dass ein Verurteilter überhaupt (und nicht nur in der Bewährungszeit) keine neuen Straftaten mehr begehen wird, zuwiderläuft.

c) Ausgehend hiervon lagen die Voraussetzungen für einen Bewährungswiderruf vor……“

StPO II: Berufungsverwerfung im Fortsetzungstermin, oder: War der Angeklagte ordnungsgemäß geladen??

Bild von Darkmoon_Art auf Pixabay

Die zweite Entscheidung, der OLG Bamberg, Beschl. v. 15.9.2021 – 1 Ws 561/21 – behandelt eine Problematik aus dem Berufungsverfahren, nämlich die Berufungsverwerfung gegen den ausgebliebenen, aber vertretenen Angeklagten.

Folgender Sachverhalt: Im ersten Berufungshauptverhandlungstermin vom 17.06.2021 war die Verhandlung ausgesetzt und neuer Hauptverhandlungstermin bestimmt worden auf den 09.08.2021 um 09:00 Uhr. Zur Berufungshauptverhandlung am 09.08.2021 um 09:00 Uhr war der Angeklagte nicht erschienen, jedoch durch seine Verteidigerin mit nachgewiesener und gesonderter Vertretungsvollmacht vertreten. Der Vorsitzende der Berufungskammer unterbrach die Hauptverhandlung zur Entscheidung über einen Befangenheitsantrag und verfügte sodann um 15:00 Uhr, dass die Hauptverhandlung unterbrochen wird, bestimmte Termin zur Fortsetzung der Berufungsverhandlung auf 10.08.2021, 08:30 Uhr, und ordnete das persönliche Erscheinen des Angeklagten zum Fortsetzungstermin an. Zu diesem Termin wurden der Angeklagte über seine Verteidigerin per Telefax am 09.08.2021 um 16:52 Uhr geladen. Zum Fortsetzungstermin am 10.08.2021 um 08:38 Uhr war der Angeklagte erneut nicht erschienen, jedoch wiederum durch seine vorgenannte Verteidigerin vertreten. Nach Verwerfung eines weiteren Ablehnungsantrags verkündete der Vorsitzende sodann bezüglich des Angeklagten ein Verwerfungsurteil gemäß § 329 Abs. 4 Satz 2 StPO, da dieser zum Fortsetzungstermin vom 10.08.2021 nicht erschienen war.

Dagegen u.a. der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Den hat das LG zurückgewiesen. Die sofortige Beschwerde des Angeklagten hatte dann aber beim OLG bamberg Erfolg:

„Die sofortige Beschwerde erweist sich als begründet. Dem Angeklagten ist unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung Wiedereinsetzung in die Hauptverhandlung zu bewilligen, da er zu dem Hauptverhandlungstermin vom 10.08.2021 nicht ordnungsgemäß geladen wurde und deshalb bereits kein Fall der Säumnis vorlag.

1. Der Angeklagte ist vorliegend per Fax am 09.08.2021 um 16:52 Uhr über seine auch für die Entgegennahme von Ladungen (§ 145a Abs. 2 Satz 1 StPO) bevollmächtigte Verteidigerin zum Fortsetzungstermin vom 10.08.2021 um 08:30 Uhr geladen und hierbei über die Möglichkeit der Verwerfung gemäß § 329 Abs. 4 Satz 3 StPO belehrt worden. Bei Terminsbestimmung am 09.08.2021 hat das Gericht zudem das persönliche Erscheinen des Angeklagten angeordnet. Die Ladung erfolgte jedoch nicht fristgerecht. Nachdem zwischen dem Eingang der an den Angeklagten adressierten Ladung bei seiner Verteidigerin, die am 09.08.2021 per Telefax erfolgte und dem Tag der Hauptverhandlung, die bereits auf den 10.08.2021 terminiert war, keine Woche lag, wurde die Ladungsfrist des § 217 StPO nicht eingehalten. Zwar ist bei Fortsetzung einer unterbrochenen Hauptverhandlung grundsätzlich keine förmliche Ladung erforderlich und daher auch keine Ladungsfrist einzuhalten (Meyer-Goßner/Schmitt StPO 64. Aufl. § 217 Rn. 6 m.w.N.). Vielmehr genügt grundsätzlich die bloße Bekanntgabe des Fortsetzungstermins (Meyer-Goßner/Schmitt § 229 Rn. 12 m.w.N.). Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn das Gericht – wie vorliegend – trotz der Vertretung des Angeklagten durch einen Verteidiger ausnahmsweise nicht gemäß § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO zur Sache verhandeln will, sondern es als erforderlich erachtet, dass der Angeklagte zur Fortsetzung der Hauptverhandlung persönlich anwesend ist. In diesem Falle ist gemäß § 329 Abs. 4 Satz 1 StPO der Angeklagte zum Fortsetzungstermin neu zu laden und das persönliche Erscheinen anzuordnen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt § 329 Rn. 15b). Die ordnungsgemäße Ladung richtet sich nach §§ 216, 217 StPO und setzt deren förmliche Zustellung nach § 35 Abs. 2 StPO (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt § 35 Rn. 10 m.w.N.) unter Einhaltung der einwöchigen Ladungsfrist voraus. Da die Durchführung der Hauptverhandlung nach § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO in Abwesenheit des Angeklagten den gesetzlichen Regelfall darstellt, und nach § 329 Abs. 4 Satz 1 StPO nur verfahren werden darf, wenn die Anwesenheit des Angeklagten zur Urteilsfällung unerlässlich ist (Meyer-Goßner/Schmitt § 329 Rn. 15a), darf ein Angeklagter, welcher seinen Verteidiger mit ordnungsgemäßer Vertretungsvollmacht ausgestattet hat, von einem Verhandeln in seiner Abwesenheit ausgehen. Die Ladung zum Fortsetzungstermin nach § 329 Abs. 4 Satz 1 StPO soll ihm von daher Gelegenheit geben, sich auf die veränderte Sachlage einzustellen und sich auf den Fortsetzungstermin vorzubereiten.

2. Nach §§ 329 Abs. 7 Satz 1, 44 Satz 1 StPO ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn ein säumiger Angeklagter ohne Verschulden gehindert war, an der Berufungshauptverhandlung persönlich teilzunehmen. Bei Nichteinhaltung der Ladungsfrist ist ein Angeklagter zwar an sich nicht säumig. Gleichwohl ist ein nichtsäumiger Angeklagter einem säumigen gleichzustellen und ihm ist ohne Rücksicht auf sein Verschulden – ggf. auch von Amts wegen – Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn das Gericht das Fehlen oder die Unwirksamkeit der Ladung übersehen hat (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt § 329 Rn. 41 m.w.N.). Auf die Frage der Glaubhaftmachung der Terminsunkenntnis kommt es vorliegend nicht an, da die Unwirksamkeit der Ladung zur Folge hat, dass der Angeklagte nicht säumig war und ihm auch von Amts wegen Wiedereinsetzung zu gewähren ist.

3. Der Wiedereinsetzungsantrag des Angeklagten stützt sich auf Umstände, die das Berufungsgericht vorliegend in seinem die Berufung verwerfenden Urteil nicht berücksichtigt, weil es sie offenbar für nicht relevant erachtet hat. Für den Angeklagten sind sie von daher als neu einzustufen. Da alle Tatsachen aktenkundig sind, ist deren Glaubhaftmachung nicht erforderlich (BGH, Beschl. v. 26.02.1991 – 1 StR 737/90 = NStZ 1991, 295 = BGHR StPO § 45 Abs 2 Tatsachenvortrag 7).“

Bewährung I: Verstoß gegen Auflagen und Weisungen, oder: Bewährungwiderruf beim Suchtkranken

Heute stelle ich dann drei Entscheidungen aus dem Bereich des Bewährungswiderrufs vor.

Ich beginne mit dem OLG Bamberg, Beschl. v. 03.05.2021 – 1 Ws 83/21 – betreffend einen Bewährungswiderruf. Der Widerruf erfolgte, weil der Verurteilte eine Arbeitsauflage nicht erfüllte, Termine bei der Bewährungshilfe nicht wahrnahm und auch Gespräche bei der Suchtberatung nicht durchführte. Das OLG hat aufgehoben und den Widerrufsantrag zurückgewiesen:

„Das Rechtsmittel erweist sich auch als begründet. Gröbliche oder beharrliche Verstöße gegen Weisungen oder Auflagen (§ 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 3 StGB) setzen weiter voraus, dass diese Verstöße dem Verurteilten vorwerfbar sind. Verstöße gegen Weisungen, die im Zusammenhang mit einer Suchterkrankung stehen, müssen für den Verurteilten vermeidbar sein (Fischer, StGB, 68. Aufl. § 56f, Rn. 10a m. w. N.). Gröblich ist ein Auflagenverstoß, wenn er objektiv und subjektiv schwer wiegt (Fischer, a.a.O. Rn. 12 m. w. N.).

Nach der im Gutachten des Sachverständigen Dr. pp. vom 16.01.2021 dargestellten Krankengeschichte des Verurteilten befand sich dieser in den Jahren 2019 und 2020 mehrfach in stationärer Behandlung (30.05. bis 04.06.2019, 11.07 bis 19.07.2019, 22.07. bis 26.07.2019, 05.08 bis 16.08.2019, 20.11. bis 02.12.2019, 03.12 bis 04.12.2019, 22.02. bis 11.03.2020, 20.03. bis 28.03.2020, 03.04. bis 06.04.2020, 19.04. bis 20.05.2020, 07.07. bis 08.07.2020, 08.07. bis 27.07.2020, 01.08. bis 11.08.2020, 13.08. bis 19.08.2020, 13.10. bis 15.10.2020 sowie 16.10.2020 bis ins Jahr 2021) vornehmlich im Bezirksklinikum Regensburg jeweils zur akuten Alkoholentgiftung. Der Sachverständige ging im Rahmen des Betreuungsverfahrens davon aus, dass es dem Verurteilten krankheitsbedingt nicht möglich war und ist, eine langfristige Therapie durchzuhalten. Vielmehr würde er diese aufgrund des erheblichen Suchtdrucks rasch abbrechen, sodass der Sachverständige eine geschlossene Unterbringung für unabdingbar hielt. Außerdem hielt es der Sachverständige aus denselben Gründen nicht für möglich, dass der Verurteilte einer Vorladung des Betreuungsgerichts zur Anhörung Folge leisten könne.

Unter diesen Umständen vermag auch der Senat nicht die Überzeugung zu gewinnen, dass dem Verurteilten die Nichteinhaltung der Weisungen und (teilweise) Nichterfüllung der Auflage als schuldhaft vorwerfbar sind. Sofern sich der Verurteilte im fraglichen Zeitraum nicht ohnehin in stationärer Behandlung befand, fehlte es nach der Lebenserfahrung krankheitsbedingt höchstwahrscheinlich und somit nicht ausschließbar jedenfalls an der dazu nötigen Willenskraft und Durchhaltefähigkeit.

Der Widerrufsgrund des § 56f Abs.1 S.1 Nr.1 StGB kommt ebenfalls nicht in Betracht. Zwar hat der Verurteilte i.d. Bewährungszeit einen Diebstahl begangen, der Gegenstand des Verfahrens vor dem Amtsgericht Amberg (11 Ds 115 Js 8750/20) gewesen ist; das Verfahren wurde mit Beschluss vom 24.03.2021 gemäß § 153 Abs. 2 StPO eingestellt. Insoweit verbleiben zumindest erhebliche Zweifel hinsichtlich der Schuldfähigkeit des Verurteilten. Nach dem Inhalt der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Amberg vom 14.09.2020 war der Verurteilte bei Tatbegehung erheblich alkoholisiert und entwendete vornehmlich Alkoholika…..“

 

Klageerzwingung II: Unterzeichnung des Antrags, oder: Hat ein „Rechtsanwalt“ unterzeichnet?

© fotodo – Fotolia.com

In der zweiten Entscheidung, dem OLG Bamberg, Beschl. v. 08.06.2021 – 1 Ws 290/21 – geht es auch um die Formwirksamkeit eines Klageerzwingungsantrages. Hier war der Antrag vom Prozessbevollmächtigten des Antragstellers unterzeichnet. Der war aber „nur“ Hochschullehrer und Strafverteidiger und nicht zugleich auch Rechtsanwalt. Das OLG hat den Antrag als unzulässig angesehen.

„Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 172 Abs. 2 Satz 1 StPO) ist bereits deshalb unzulässig, weil er entgegen § 172 Abs. 3 Satz 2 StPO nicht von einem Rechtsanwalt unterzeichnet ist. Die Unterzeichnung des Antrags durch einen Strafverteidiger und Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule, der, wie vorliegend, nicht gleichzeitig Rechtsanwalt ist, erfüllt das vorgenannte Formerfordernis nicht (Meyer-Goßner/Schmitt StPO 64. Aufl. § 172 Rn. 32; Müko/Kölbel StPO § 172 Rn. 50; SK/Wohlers StPO 5. Aufl. § 172 Rn. 57; Radtke/Hohmann/Kretschmer StPO § 172 Rn. 24; Gercke/Julius/Temming/Zöller StPO 6. Aufl. § 172 Rn. 19; LK/Graalmann-Scheerer StPO 27. Aufl. Rn. 141; vgl. auch KK/Moldenhauer StPO 8. Aufl. § 172 Rn. 33; BeckOK/Gorf StPO 39. Ed. [Stand: 01.01.2021] § 172 Rn. 15; a.A. Ladiges JR 2013, 295). Indem der Gesetzgeber klar zwischen den Begriffen „Rechtsanwalt“ und „Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule“ differenziert (§ 138 Abs. 1 StPO) und letzteren nur im Ausnahmefall, nämlich hinsichtlich der Möglichkeit als Verteidiger aufzutreten, einem Rechtsanwalt gleichstellt (§§ 138, 345 Abs. 2 StPO) lassen bereits Gesetzeswortlaut und Systematik des Gesetzes klar erkennen, dass ein Rechtslehrer an einer deutschen Hochschule nicht einem Rechtsanwalt im Sinne des § 172 Abs. 3 Satz 2 StPO gleichzusetzen ist. Soweit argumentiert wird, Zweck des § 172 Abs. 3 Satz 2 StPO sei es, offensichtlich aussichtslose Anträge von Rechtsunkundigen zu verhindern, weshalb der Schriftsatz eines Rechtslehrers an deutschen Hochschulen die Formvorschrift erfülle (Ladiges a.a.O.), vermag der Senat diesen Schluss nicht zu ziehen. Um seinen Zweck zu erreichen, knüpft das Gesetz die Zulässigkeit eines Klageerzwingungsantrags mit § 172 Abs. 3 Satz 2 StPO gerade nicht an die bloße Rechtskundigkeit oder -unkundigkeit eines Unterzeichners, sondern stellt aus Gründen der Rechtssicherheit und -klarheit auf ein formales, für alle Seiten leicht zu überprüfendes Kriterium (Rechtsanwaltseigenschaft) ab.“

Haft I: Sitzungshaftbefehl, oder Inhaltliche Anforderungen

© Corgarashu – Fotolia.com

Heute – am letzten Arbeitstag vor Ostern – stelle ich dann drei Entscheidungen zu Haftfragen vor.

Ich starte mit dem – schon etwas älteren – OLG Bamberg, Beschl. v. 28.05.2020 – 1 Ws 215/20 – zu den inhaltlichen Anforderungen an den Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO.

Dazu führt das OLG im Verfahren über die weitere Beschwerde aus:

„Die nach § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO statthafte und auch sonst zulässige weitere Beschwerde ist unbegründet.

1. Der Sitzungshaftbefehl des Amtsgerichts entspricht den notwendigen formalen Anforderungen. Ein Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO hat neben der Bezeichnung des Angeklagten und dem Grund der Vorführung die dem Angeklagten vorgeworfenen Straftat zu bezeichnen (SK/Deiters StPO 5. Aufl. § 230 Rn. 5; KMR/Eschelbach StPO § 230 Rn. 45). Diesen Voraussetzungen genügt der Haftbefehl. Ob auf die Bezeichnung der Straftat ganz verzichtet werden kann (so LG Chemnitz, Beschl. v. 11.08.1995 – 1 Qs 173/95 = StV 1996, 255) kann von daher dahinstehen. Der Ansicht, dass der Haftbefehl auch eine kurze Beschreibung der dem Angeklagten vorgeworfenen Straftat enthalten (Müko/Arnoldi StPO § 230 Rn. 17; LR-Becker StPO 27. Aufl. § 230 Rn. 3) oder darüber hinaus sogar den Formvorschriften des § 114 Abs. 2 Nr. 2 StPO entsprechen muss (OLG Frankfurt, Beschl. v. 02.12.1994 – 1 Ws 245/94 = StV 1995, 237; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 63. Aufl. § 230 Rn. 21; KK/Gmel StPO 8. Aufl. § 230 Rn. 22), was vorliegend nicht der Fall ist, schließt sich der Senat nicht an.

Grundsätzlich gilt, dass ein Haftbefehl aus sich heraus jederzeit und für jedermann verständlich über die Gründe der Verhaftung Auskunft geben muss, zumal den mit Vollstreckung und Vollzug befassten Behörden und Gerichten die Akten selbst oftmals nicht zur Verfügung stehen. Anderenfalls kann er die ihm zukommende Informations- und Umgrenzungsfunktion für alle Beteiligten nicht erfüllen. Allerdings wird bei einem Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO der Tatverdacht (und damit die sich aus § 114 Abs. 2 Nr. 2 StPO ergebenden Angaben) gegen einen Angeklagten im weiteren Verfahren nicht nachgeprüft, da der Haftbefehl einen Tatverdacht und einen Haftgrund nach §§ 112 ff. StPO gerade nicht voraussetzt und sich sein Zweck in der Sicherung der Hauptverhandlung erschöpft (vgl. nur LR/Becker StPO Rn. 32). Soweit die Tat im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung oder im Rahmen der sonstigen Entscheidungen (z.B. Sicherheitsleistung nach § 116 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 StPO) ein für die Fortdauer der Haft zu beachtender Faktor sein kann (LR/Becker a.a.O.), wird dem durch die Bezeichnung der Straftat hinreichend Rechnung getragen. Das gleiche gilt für eine Vernehmung durch den Richter des nächsten Amtsgerichts nach §§ 115a Abs. 1 und 2, 115 Abs. 3 StPO, welcher mögliche Bedenken gegen die Aufrechterhaltung der Haft nach § 115a Abs. 2 Satz 4 Halbsatz 1 StPO unverzüglich mitzuteilen, die weitere Entscheidung jedoch dem zuständigen Gericht zu überlassen hat, § 115a Abs. 2 Satz 4 Halbsatz 2 StPO.

Für diese Auslegung spricht auch die Vorschrift des § 134 Abs. 2 StPO. Sie ist auf Entscheidungen nach § 230 Abs. 2 StPO zugeschnitten und schreibt vor, dass ein Vorführungsbefehl die dem Beschuldigten zur Last gelegte Straftat anzugeben hat, während eine mehr oder weniger ausführliche Beschreibung der vorgeworfenen Straftat nicht zu erfolgen braucht. Nachdem – wie bereits ausgeführt – bei einem Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO der Tatverdacht gegen den Angeklagten im weiteren Verfahren gerade nicht nachgeprüft wird und den weiteren Entscheidungen des Gerichts durch die bloße Bezeichnung der dem Angeklagten zur Last liegenden Straftat Rechnung getragen werden kann, wäre es ein leerer Formalismus, Formvorschriften zu verlangen, welchen im Hinblick auf die spezielle Art des Haftbefehls kein relevanter Informations- oder Umgrenzungsgehalt zukommt.“