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Angemessene Rahmengebühren im OWi-Verfahren I, oder: Höhe der Terminsgebühren – schwierig?

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Und dann RVG – heute mal wieder zwei zu § 14 RVG – Rahmengebühren -, und zwar im Bußgeldverfahren.

Den Opener mache ich mit dem LG Freiburg, Beschl. v. 30.07.2024 – 2 Qs 50/24. Gestritten wird nach Einstellung des Verfahrens wegen des Verfahrenshindernisses eines Strafklageverbrauchs auf Hinweis des Verteidigers nach § 206a StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG um die Höhe der vom Verteidiger im Kostenfestsetzungsverfahren geltend gemachten Terminsgebühren. Der Verteidiger hatte jeweils die Mittelgebühr angesetzt. Das AG hate geringere Beträge festgesetzt, und zwar unterhalb der Mittelgebühr, nämlich einmal nur  150,00 EUR und einmal nur 100,00 EUR. Dagegen die sofortige Beschwerde des Betroffenen, die insoweit Erfolg hatte:

„Hinsichtlich der Terminsgebühren waren nach § 14 RVG vorliegend Mittelgebühren zu VV Nr. 5110 RVG in Höhe von jeweils 280,50 Euro festzusetzen.

Eine Rahmengebühr nach § 14 RVG – wie sie hier mit Rücksicht auf die Gebührentatbestände im Streit steht – ist unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen zu bestimmen. Ist die Gebühr — wie hier — von einem Dritten zu ersetzen, ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist, vgl. § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG.

Daran gemessen ist die Gebührenbestimmung des Verteidigers hinsichtlich der Terminsgebühren unter Berücksichtigung aller Umstände vorliegend nicht unbillig, sondern als angemessen zu betrachten. Insoweit ist trotz des relativ geringen zeitlichen Umfangs der Verhandlungstermine und des recht geringen Gewichts der vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit vorliegend im Hinblick auf die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des vorliegenden Falles insbesondere die Frage des Bestehens eines Strafklageverbrauchs zu sehen.

Ob bereits die Gefahr des Eintrags eines Punktes ins Fahreignungsregister ausgereicht hätte, um das Ansetzen der Mittelgebühr zu rechtfertigen (dagegen etwa LG Würzburg, Beschluss vom 19.3.2020 — 1 Qs 48/20), kann dahinstehen.“

„Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit“ – dazu hätte man gern mehr gewusst. Dazu steht aber leider nichts im Beschluss. Einstellung „wegen des Verfahrenshindernisses eines Strafklageverbrauchs“ lässt aber ahnen, worum gestritten worden ist.

Pflichti III: Und wieder „rückwirkende Bestellung“, oder: Alles nur „gute“ Entscheidungen

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Und dann im letzten Posting – traditionsgemäß – einige Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung, und zwar:

Der Bestellung eines Pflichtverteidigers steht im Strafbefehlsverfahren nicht entgegen, dass ein Strafbefehl zum Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung bereits erlassen ist.

1. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist ausnahmsweise zulässig.

2. Auf Fälle einer Bestellung eines Pflichtverteididgers auf Antrag des Beschuldigten gem. § 140 Abs. 1 StPO ist Abs. 2 S. 3 des § 141 StPO nicht anwendbar.

Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist zulässig, wenn der Antrag rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt worden, dann aber von der Staatsanwaltschaft erst verspätet dem Gericht zur Entscheidung vorgelegt worden ist.

Klima I: Straßenblockade durch Klimaaktivisten I, oder: Bei mehr als 30 Minuten Wartezeit Nötigung

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Und dann heute zum Wochenstart zwei Entscheidungen aus dem Bereich der „Klimablockaden“.

Ich beginne mit dem LG Freiburg. Urt. v. 08.12.2023 – 64/23 17 NBs 450 Js 23772/22. Das AG Freiburg hat die Angeklagte wegen Nötigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Dagegen die Berufung an das LG, das zur Tat folgende Feststellungen getroffen hat:

Am 07.02.2022 gegen 08:20 Uhr blockierte die Angeklagte mit etwa 13 weiteren Demonstranten vom Aktionsbündnis „Aufstand Letzte Generation“ die pp. auf Höhe der pp. sowie die Abfahrtspur zur pp.straße in pp. Dazu betraten sie, während die Fahrzeuge bei einer Grünphase der Fußgängerampel auf den fünf Spuren einschließlich des Abbiegeastes in die pp.straße warteten, den jeweiligen Fußgängerüberweg, setzten sich auf die Fahrbahn und gaben den Weg auch nach dem Umspringen der Lichtzeichenanlage auf Grün für den Verkehr auf der pp. nicht frei.

Aufgrund der Sitzblockade wurden die fünf Spuren der pp. blockiert (drei Mittelspuren, jeweils eine kurze Links- und Rechtsabbiegerspur, letztere zweigt vor der Verkehrsinsel mit Lichtzeichenanlage rechts ab). Zwischen der zweiten und dritten Mittelspur von rechts bildete sich bei den letzten fünf Fahrzeugen nur ansatzweise, ansonsten aber eine befahrbare Rettungsgasse, durch die ein Polizei-PKW gegen 8:40 Uhr auf der pp. bis etwa 20 m vor die Blockade fahren konnte. Jedenfalls die Fahrzeuge auf den Abbiegespuren und auf der ersten Mittelspur waren ab der zweiten Reihe durch die voraus- und nebenstehenden Fahrzeuge physische an einer relevanten örtlichen Veränderung gehindert. Die Staulänge betrug mindestens 2,66 km. Um 9:18 Uhr konnte eine Spur für den Verkehr wieder geöffnet werden. Ab 10:10 Uhr wurde die gesamte Fahrbahn für den Fahrzeugverkehr freigegeben.

Die Angeklagte demonstrierte mit den übrigen Beteiligten der Blockade unter dem Motto „Essen retten Leben retten“. Damit wollte sie auf das Problem der Lebensmittelverschwendung hinweisen, die auch erhebliche Auswirkungen auf den CO? Ausstoß hat. Zu Beginn der Blockade nahm die Angeklagte entsprechend Kontakt zu den Insassen der blockierten Fahrzeuge auf und machten auf das Ziel der Aktion aufmerksam. Diese Kontaktaufnahme war bis gegen 8:50 Uhr abgeschlossen. Bis zu diesem Zeitpunkt gaben einzelne Beteiligte an der Blockade noch Interviews, die dann kurze Zeit später endeten. Die im Vorfeld informierten Medien waren vor Ort und berichteten in der Folge über die Blockade.

Die Versammlung wurde zuvor weder der Polizei bekannt gegeben, noch ist sie bei der zuständigen Versammlungsbehörde angemeldet worden. Die Rettungsleitstelle wurde jedoch kurze Zeit vor der Blockade informiert. Ein Versammlungsleiter gab sich während der Blockade nicht zu erkennen. Den Demonstranten wurde von der Polizei durch Lautsprecherdurchsage eine alternative Versammlungsfläche zugewiesen, die jedoch nicht in Anspruch genommen und die Blockade fortgeführt wurde. Nach drei Durchsagen (um 9:08 Uhr, 9:09 Uhr und 9:12 Uhr) wurde die Versammlung von der Polizei ausdrücklich aufgelöst.

Die Demonstranten wurde sodann von der Polizei nach erfolgloser Androhung unmittelbaren Zwangs nach und nach von der Straße entfernt. Die (nicht angeklebte) Angeklagte stand im Verlauf der Aktion auf und verließ die Straße, kehrte aber später zurück und setzte sich erneut auf die Fahrbahn. Da sich drei Beteiligte der Blockade mit einer Hand an der Fahrbahn festgeklebt hatten und zunächst von einem Notarzt abgelöst werden mussten, verzögerte sich die Räumung der Kreuzung nicht unerheblich. Die Angeklagte wurde schließlich gegen 09:50 Uhr von Polizeibeamten von der Fahrbahn getragen. Den sodann ausgesprochenen Platzverweis befolgte sie.

Die Angeklagte hatte mit den weiteren Teilnehmern der Blockade den Ablauf der Aktion im Vorfeld besprochen und im Wesentlichen so antizipiert, wie sie dann auch stattgefunden hat. Der Angeklagten war insbesondere klar, dass es zu einer Blockade der Kraftfahrzeuge über einen längeren Zeitraum kommt und hat dies zur Erreichung ihres Zieles, dem Erzeugen öffentlicher Aufmerksamkeit und dem Werben für wirksame politische Maßnahmen gegen die sich verschärfende Klimakrise, zumindest billigend in Kauf genommen.“

Dem LG hatte die Berufung der Angeklagten nur wegen des Rechtsfolgenausspruchs Erfolg. Das hat eine Geldstrafe nur vorbehalten (§ 59 StGB).

Das LG geht aber, ebenso wie das AG von einer rechtswidrigen Nötigung (§ 240 StGB) aus. Wegen des Umfangs der rechtlichen Ausführungen des LG stelle ich hier keine Auszüge aus dem Urteil ein, sondern verweise auf den Volltext. Das Urteil verhält sich insbesondere zur Notwendigkeit einer Einzelfallprüfung und zum Prüfungsmaßstab bei Blockadeaktionen.

Das Urteil hat folgende (amtliche) Leitsätze:

    1. Soweit eine Rettungsgasse gebildet wurde und von Kraftfahrzeugen faktisch hätte genutzt werden können, liegt schon keine physische Zwangswirkung vor, so dass eine Nötigung mittels Gewalt ausscheidet. Dass die Nutzung der Rettungsgasse ordnungswidrig wäre, spielt auf der Ebene des Gewaltbegriffs keine Rolle.
    2. Ausgangspunkt der Abwägung im Hinblick auf Art. 8  GG ist zunächst das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters einer Versammlung. Die Gerichte haben nur zu fragen, ob das Selbstbestimmungsrecht unter hinreichender Berücksichtigung der gegenläufigen Interessen Dritter oder der Allgemeinheit ausgeübt worden ist. Der Einsatz des Mittels der Beeinträchtigung dieser Interessen ist zu dem angestrebten Versammlungszweck bewertend in Beziehung zu setzen, um zu klären, ob eine Strafsanktion zum Schutz der kollidierenden Rechtsgüter angemessen ist.
    3. Die Blockade einer Straße zur Erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit ist nicht per se rechtswidrig. Zwar sind die Fälle, in denen durch eine gezielte Behinderung des Straßenverkehrs die Öffentlichkeit auf das Anliegen der Versammlung aufmerksam gemacht werden soll und die Blockade nur als Kundgabemittel eingesetzt wird, problematisch. In diesen Fällen ist aber mit einer zeitlichen Beschränkung der Versammlung grundsätzlich ein Ausgleich der Interessen möglich, da eine kurzfristige Behinderung des Straßenverkehrs von Autofahrern immer zumutbarerweise hingenommen werden kann. Einem vernünftigen und besonnenen Staatsbürger, der die Grundrechtsausübung seiner Mitbürger und ihre Beteiligung am politischen Diskurs als Beitrag zu einer lebendigen Demokratie schätzt, ist eine Wartezeit von etwa 30 min – je nach Einzelfall – zumutbar. Dies umso mehr, als die Fortbewegungsfreiheit mit Kraftfahrzeugen aufgrund der allgemein bekannten Behinderung durch Staubildung nur selten frei gewährleistet ist.
    4. Eine Versammlung muss ein Mindestmaß an Teilhabechancen am Prozess demokratischer Willensbildung eröffnen. Damit geht in der Regel ein Mindestmaß an Störungen einher. So wäre etwa das Ansinnen einer störungsfreien Demonstration durch weitgehend unbewohnte Stadtteile rechtswidrig.
    5. Auch darf eine Strafandrohung kein übermäßiges Risiko bei der Verwirklichung des Versammlungszwecks bewirken, insbesondere bei – hier nicht einschlägigen – Eil- und Spontanversammlungen.
    6. Ein weiterer Gesichtspunkt ist außerdem die Anzahl der das Versammlungsrecht wahrnehmenden Grundrechtsträger. Eine Demonstration mit mehreren Hundert oder Tausend Teilnehmenden hat ein höheres Gewicht und rechtfertigt stärkere Einschränkungen anderer als eine Demonstration weniger Teilnehmenden, die ganz erhebliche Auswirkungen auf Dritte hat.
    7. Wichtige Abwägungselemente sind außerdem die Dauer und die Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten, die Dringlichkeit des blockierten Verkehrs, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand, wobei das Gewicht solcher demonstrationsspezifischer Umstände mit Blick auf das kommunikative Anliegen der Aktion zu bestimmen ist.
    8. Die Voraussetzungen eines rechtfertigenden Notstands liegen nicht vor, weil es jedenfalls an der Angemessenheit der Tat für die Abwehr der Gefahren durch den Klimawandel fehlt.
    9. Hier: Bei einer zweistündigen Blockade einer im Kreuzungsbereich fünfspurigen Straße mit nur teilweise und nur für zwei Spuren funktionierender Rettungsgasse, einer Staulänge von ca. 2,6 km, einer Gruppe von 15 Demonstrierenden und einer Blockade ohne konkreten Sachbezug, ist für die Insassen der Kraftfahrzeuge eine Wartezeit von maximal 30 min zumutbar, so dass im konkreten Fall eine strafbare Nötigung vorliegt.

Und dann noch ein Hinweis: Beim OLG Karlsruhe findet am 20.02.2024 eine Revisionshauptverhandlung gegen einfreisprechendes Urteil des AG Freiburg in einem „Klimakleber“-Fall statt. Wegen der Einzelheiten der amtsgerichtlichen Entscheidung hier. Und bevor jetzt Mußmaßungen kommen, die sich darauf gründen, dass das OLG eine Hauptverhandlung macht. Das OLG hat bei einer zu Lasten des Angeklagten eingelegten Revision der Staatsanwaltschaft gar keine andere Möglichkeit. Blick in § 349 StPO und so….

Zusätzliche Verfahrensgebühr Nr. 5115 VV RVG, oder: Verteidiger muss Verjährungseintritt nicht verhindern!

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Ich hoffe, es haben alle das Posting zum AG Freiburg, Beschl. v. 10.05.2023 – 76 OWi 48/23 – Beschluss heute morgen „überlebt“ (dazu Zusätzlichen Verfahrensgebühr Nr. 5115 VV RVG, oder: Muss der Verteidiger Verjährungseintritt verhindern?). Der Kollege Kabus aus Bad Saulgau, de rmir den Beschluss geschickt hat, und ich haben es geschafft. 🙂

Und der Kollege Kabus hat die Entscheidung natürlich nicht hingenommen und Rechtsmittel eingelegt. Und das LG Freiburg hat es dann – Gott sei Dank – „gerichtet“. Es hat im LG Freiburg, Beschl. v. 21.08.2023 – 16 Qs 30/23 – die beantragte zusätzliche Verfahrensgebühr festgesetzt.

Die kurze Begründung:

„1. Die Voraussetzungen der Gebühr nach Nr. 5115, 5101 VV RVG liegen vor.

Anders als das Amtsgericht ist die Kammer der Auffassung, dass die Geltendmachung der Erledigungsgebühr nicht rechtsmissbräuchlich ist. Es liegt grundsätzlich im alleinigen Verantwortungsbereich der Bußgeldbehörde, wenn ein rechtzeitig und formwirksam eingelegter Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid nicht zur Bußgeldakte gelangt und daher fälschlicherweise von der Rechtskraft des Bußgeldbescheids ausgegangen wird. Wird in der Folge festgestellt, dass tatsächlich Einspruch eingelegt wurde, ist der Eintritt der Verfolgungsverjährung ausschließlich der Sphäre der Bußgeldbehörde zuzurechnen. Vorliegend war der Verteidiger gerade nicht verpflichtet, auf eine Fortsetzung des Bußgeldverfahrens gegen seine Mandantin in unverjährter Zeit hinzuwirken. Durch die mit Schreiben des Verteidigers vom 14.02.2023 erfolgte Vorlage des beA-Prüfprotokolls vom 20.07.2022 und dem Hinweis auf die zwischenzeitlich eingetretene Verfolgungsverjährung, konnte die Verteidigung die drohende Vollstreckung aus dem vermeintlich rechtskräftigen Bußgeldbescheid abwenden und eine endgültige Verfahrenseinstellung wegen Verjährung erreichen. Damit liegen die Voraussetzungen von Nr. 5115 Abs. 1 Nr. 1 VV RVG aus Sicht der Kammer vor.

Die Höhe der Gebühr bemisst sich nach der Verfahrensgebühr Nr. 5101 VV RVG und beträgt somit 176,00 €.“

Diesen zutreffenden Ausführungen des LG ist nichts mehr hinzuzufügen außer der Satz: Das Recht ist eben für die Hellen.

Berufung II: Wiedereinsetzung nach Verwerfungsurteil, oder: Ausreichend entschuldigt reicht

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Und als zweite Entscheidung dann das LG Freiburg, Urt. v. 18.04.2023 – 2/23 10 NBs 520 Js 15836/22 – zur Berufung und Wiedereinsetzung nach einem Verwerfungsurteil.

Das AG hatte den Einspruch des Angeklagten gegen einen Strafbefehl verworfen, nachdem der Angeklagte dem Hauptverhandlungstermin ohne vorherige Entschuldigung ferngeblieben ist. In In einem handschriftlichen Brief, der am 06.09.2022 beim AG eingegangen ist, trug der Angeklagte vor, seine Mutter habe den Brief mit der Ladung verlegt, und bat um einen neuen Termin. Das AG legte dieses Schreiben zu Gunsten des Angeklagten gem. § 300 StPO als Wiedereinsetzungsantrag und zugleich als Berufung aus. Den Wiedereinsetzungsantrag verwarf es als „unzulässig und unbegründet“ und legte die Akten nach Rechtskraft des Beschlusses zur Entscheidung über die Berufung dem LG vor.

Die Berufung hatte Erfolg:

„Die Einlassung des Angeklagten und die insbesondere durch die Vernehmung der Mutter des Angeklagten als Zeugin durchgeführte Beweisaufnahme hat folgende Umstände ergeben, die dazu führten, dass der Angeklagte den erstinstanzlichen Verhandlungstermin versäumte:

Der jetzt 55 Jahre alte Angeklagte ist seit fast 10 Jahren bei seiner jetzt knapp 80-jährigen Mutter gemeldet. Seine Mutter lebt seit vielen Jahrzehnten in Deutschland, spricht aber nur sehr rudimentär deutsch. Sie holte aber immer schon die Post der Familie aus dem Briefkasten und legte sie den jeweiligen Familienmitgliedern hin, an die die Post adressiert war. Seit dem Tod ihres Ehemanns vor ca. sechs Jahren ist sie für ihre eigenen Verwaltungsangelegenheiten auf die Hilfe ihres Sohnes angewiesen und wird immer unsicherer.

Der Angeklagte hat seit März oder April 2022 eine neue Freundin, bei der er sich seitdem auch öfters über Nacht aufhält. Er ging aber auch regelmäßig nach Hause zu seiner Mutter, kümmerte sich dort um ihre liegengebliebenen Dinge und nahm die Post in Empfang, die in den zurückliegenden Tagen für ihn angekommen war. Wenn Post für den Angeklagten dabei war, händigte sie ihm diese Briefe aus, wenn er nach Hause kam, bzw. hatte sie auf eine bestimmte Ablage gelegt, wo der Angeklagte sie dann an sich nehmen konnte. Die Ladung zum Termin hatte sie ihm aber nicht hingelegt oder gegeben. Bis dahin hatte der Angeklagte sich darauf verlassen können, dass sie seine und ihre Post nicht durcheinanderbrachte und ihm seine Post zuverlässig aushändigte bzw. hinlegte. Dies tat sie aber nicht mit der Ladung zum Termin zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung, die dem Angeklagten am 06.07.2022 durch Einlegung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt worden war. Erst als sie ihm das Urteil des Amtsgerichts vom 23.08.2022 gab, wurde ihm klar, dass sie seine Ladung verlegt hatte und dass er nicht mehr auf ihre Zuverlässigkeit vertrauen kann. Er machte sich Vorwürfe, dass er dies nicht vorher bemerkt hatte. Auch die Mutter des Angeklagten macht sich große Vorwürfe.

Soweit der Angeklagte in seinem Schreiben vom 06.09.2022 ausführt, er habe seine Mutter „par mal“ gefragt, ob Post vom Gericht gekommen sei, worauf sie geantwortet habe, sie könne sich nicht erinnern, blieb in der Hauptverhandlung unklar, ob diese Nachfragen vor oder nach dem Hauptverhandlungstermin vom 23.08.2022 stattgefunden hatten. Sowohl der Angeklagte als auch seine Mutter verstanden den Unterschied zwischen den beiden Konstellationen nicht und bejahten beide Varianten.

IV.

Bei dieser Sachlage hält die Strafkammer das Ausbleiben das Angeklagten in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung für ausreichend entschuldigt.

An den Begriff der genügenden Entschuldigung dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Die Möglichkeit, den Einspruch gegen den Strafbefehl bei Ausbleiben des Angeklagten zu verwerfen, birgt die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils in sich. Daraus folgt, dass bei der Prüfung vorgebrachter oder vorliegender Entschuldigungsgründe eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten angebracht ist, handelt es sich doch um den ersten Zugang des Angeklagten zum Gericht. Zu berücksichtigen sind stets die Umstände des Einzelfalls – insbesondere die konkreten Umstände in der Zeit vor der Hauptverhandlung, in der der Einspruch verworfen wurde – und die Verhältnisse des Angeklagten. Eine genügende Entschuldigung ist u.a. dann anzunehmen, wenn der Angeklagte die zu erwartenden Verhaltensweisen ergriffen hat, um für seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung Sorge zu tragen, oder wenn das Verschulden gering ist. Hat der Angeklagte die notwendigen Maßnahmen nicht ergriffen und dies auch zu vertreten, so sind die Gründe für das Ausbleiben mit der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung abzuwägen (KG Beschl. v. 12.5.2020 – (5) 161 Ss 101/19 (19/19), BeckRS 2020, 33654 Rn. 8, beck-online, m. w. N.).

Die Strafkammer hält das Verschulden des Angeklagten vorliegend auch dann für gering, wenn er seine Mutter vor dem Hauptverhandlungstermin am 23.8.2022 gefragt hatte, ob Post vom Gericht gekommen sei, und sie geantwortet hatte, sie wisse es nicht. Die Strafkammer schloss nämlich aus den überzeugenden Schilderungen des Angeklagten, dass er damals davon ausging, dass dann auch keine Post gekommen sei. Nie vorher habe sie ihm etwas nicht hingelegt. Daher habe er sich einfach nicht vorstellen können, dass sie einen amtlichen Brief vergisst bzw. irgendwo hinlegt, wo sie ihn nicht mehr findet. Dass dies inzwischen zu befürchten sei, sei ihm erst klar geworden, als das Verwerfungsurteil kam. Andernfalls hätte er sich natürlich z. B. durch einen Anruf beim Gericht erkundigt, da er unbedingt vor Gericht zu dem aus seiner Sicht falschen Tatvorwurf angehört werden möchte.

Dem bei dieser Sachlage nach Auffassung der Strafkammer geringen Verschulden des Angeklagten steht gegenüber, dass gegen den Angeklagten in dem genannten Strafbefehl nicht nur eine Geldstrafe, sondern insbesondere auch ein Fahrverbot verhängt wurde. In Hauptverhandlung über den überschaubaren Sachverhalt sollte nur ein Zeuge aussagen, so dass eine Neuladung keinen erheblichen Aufwand bedeutet.

In der Abwägung ist die Strafkammer der Auffassung, dass vorliegend das berechtigte Interesse des Angeklagten am ersten Zugang zum Gericht sein mögliches geringes Verschulden überwiegt.

Das Verwerfungsurteil war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Müllheim zurückzuverweisen.“

Im Ergebnis richtig. Ich meine allerdings, dass es auf eine „Abwägung“ nicht ankommt. Wenn „ausreichend entschuldigt“, ist „ausreichend entschuldigt“. Aber das mit der Abwägung meint das LG auch wohl nicht so (ernst) 🙂 .