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StPO I: Rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers, oder: Eine kleine Rechtsprechungsübersicht

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Ich stelle heute dann StPO-Entscheidungen vor, und zwar vornehmlich Pflichtverteidigungsentscheidungen vor. Da hat sich in den letzten Wochen einiges angesammelt, was mir die Kollegen geschickt haben. Allen besten Dank.

Zunächst kommen Entscheidungen zur Frage der rückwirkenden Beiordnung. Da es so viel ist, mache ich hier mal nur eine kleine Rechtsprechungsübersicht. Unterteilt in: „Pro“ und „Contra“.

Ja, inzwischen gibt es einige Entscheidungen, die entgegen der wohl h.M. die rückwirkende Bestellung ablehnen. Teilweise hat man zumindest den Versuch einer Begründung unternommn, die sich aber letztlich immer nur auf das Argument: „Pflichtverteidigung dient nicht dem Kosteninteresse des Verteidigers“ zurückzieht. Und dann wird häufig auch nur alte Rechtsprechung bzw. Rechtsprechung zum neuen Recht zitiert, die sich selbst dann nur auf alte Rechtsprechung bezieht. Nicht so toll. Wenn man schon ablehnt, sollte man es vielleicht mal mit neuen Argumenten versuchen und nicht nur das Mantra der OLG zum alten Recht wiederholen.

Hier dann also:

Pro rückwirkende Bestellung

Contra rückwirkende Bestellung

Verkehrsrecht II: Straßenverkehrsgefährdung, oder: Vorrang/Vorfahrt einer Straßenbahn

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Und als zweite Entscheidung dann das LG Freiburg, Urt. v. 26.09.2019 – 18/19 14 Ns 510 Js 19422/18.

Gegenstand der Entscheidung: Vorrang oder Vorfahrt einer Straßenbahn im Sinne von § 315c Abs. 1 Nr. 2 a) StGB.

„Die Strafkammer hat auf der Grundlage der durchgeführten Beweisaufnahme im Wesentlichen dieselben Feststellungen getroffen, wie das Amtsgericht Freiburg im angefochtenen Urteil. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird zunächst auf die Feststellungen unter II. des amtsgerichtlichen Urteils verwiesen. Auch die Hinzuziehung des Sachverständigen konnte mangels zureichender objektiver Anknüpfungstatsachen keine weitere sichere Aufklärung im Hinblick auf die vom Angeklagten geschilderte Überforderungssituation wegen eines Busses, der zumindest teilweise die von ihm benutzte linke Fahrspur blockierte, bringen. Fest steht nunmehr nach dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Dr. pp., das sich die Kammer nach kritischer Überprüfung zu eigen gemacht hat, dass -falls der Bus tatsächlich in die K straße einbog, wie vom Angeklagten geschildert und nicht bereits nur der L Straße vor ihm fuhr, wie vom Zeugen W, dem Beifahrer des Angeklagten geschildert – dessen Heck so in die linke Fahrspur hineingeragt hätte, dass der Angeklagte nur den Gegenverkehr .,schneidend“ in die W straße hätte einbiegen können oder, wenn er wie von ihm angegeben ordnungsgemäß abbiegt, der Bus bereits den Kreuzungsbereich wieder frei gemacht hätte; so dass der Bus für den Angeklagten kein objektives Hindernis für das Weiterfahren auf dem S ring war. Unabhängig vom Vorhandensein und Agieren des Busses ist jedenfalls nach der Beweisaufnahme in der Berufungshauptverhandlung von einem Fahrfehler‚ der nicht ausschließbar als Augenblicksversagen des Angeklagten einzustufen ist, auszugehen. Entweder ist er bewusst vorschriftswidrig links abgebogen oder hat darüberhinaus beim vorschriftswidrigen Linksabbiegen auch noch bewusst den Gegenverkehr „geschnitten“, wobei er seiner doppelten Rückschaupflicht nicht nachgekommen ist, weshalb es zum Unfall kam.

IV.

Der Angeklagte hat sich somit der fahrlässigen Körperverletzung schuldig und – nach Überzeugung der Kammer auch strafbar gemacht.

Eine fahrlässige Gefährdung des Straßenverkehrs nach § 315 c Abs. 1 Nr. 2 a StGB konnte die Kammer auch nach Durchführung einer ausführlichen Beweisaufnahme in der Berufungshauptverhandlung nicht sicher feststellen. Einerseits blieb zweifelhaft, ob das Verhalten des Angeklagten, der verbotswidrig nach links in die W. straße abbog und deshalb mit der mit Vorrang auf den Schienen parallel zur Straße fahrenden Straßenbahn zusammenstieß, sich überhaupt einer Vorfahrtsverletzung schuldig gemacht hat, weil die Straßenbahn als Schienenfahrzeug gemäß § 9 Abs. 1 S. 3 und Abs. 3 StVO zwar Vorrang hat, allerdings eine Situation der „Vorfahrt“ im Sinne des § 315 c Abs. 1 Nr. 2 a StGB nicht nur im gesetzestechnischen Sinne des § 8 StVO zu verstehen ist, allerdings sind unter dem Begriff der „Vorfahrt“ nur solche Verkehrsvorgänge zu verstehen, bei die denen die Fahrlinien verschiedener Fahrzeuge bei unveränderter Fahrtrichtung zusammentreffen oder einander so nahe kommen, dass der Verordnungsgeber sich veranlasst gesehen hat, durch ausdrückliche Regelung einem Verkehrsteilnehmer den Vorrang einzuräumen (Thomas Fischer „Strafgesetzbuch“ 66. Auflage § 315 c Rn 5a). Nicht erfasst ist jedoch zum Beispiel unvorsichtiges Abbiegen aus der linken über die rechte Fahrspur (vgl. OLG Stuttgart VRs 43, 274 sowie Thomas Fischer „Strafgesetzbuch“ 66. Auflage § 315 c Rn 5a mit weiteren Nachweisen) oder das Missachten des Vorrechts eines Fußgängers nach § 9 Abs. 3 S. 3 StVO (OLG Düsseldorf NJW 84, 1246 u. Fischer aaO mit weiteren Nachweisen), was mit dem vorliegend zu beurteilenden Verhalten vergleichbar ist.

Darüber hinaus ist die Kammer nach der umfangreichen Beweisaufnahme auch zu dem Ergebnis gelangt, dass dem Angeklagten zwar ein grober Fehler im Straßenverkehr – nämlich das verbotswidrige Abbiegen nach links sowie die Verletzung der doppelten Rückschaupicht- vorzuwerfen ist, jedoch unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände kein rücksichtsloses Handeln. Rücksichtslos handelt, wer sich aus „eigensüchtigen Gründen über seine Pichten gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern hinwegsetzt oder aus Gleichgültigkeit von vorneherein Bedenken gegen sein Verhalten nicht aufkommen lässt (BGH St 15, 346; ständige Rechtsprechung und Fischer StGB 66. Auflage § 15c Rn 14 mit weiteren Nachweisen). Der Angeklagte, der sich durch eine objektiv nicht überfordernde Situation subjektiv überfordert geführt hat und sich deshalb spontan zum verbotenen Abbiegen nach links entschieden hat, ist zwar seinen Pflichten nicht nachgekommen, jedoch ist ein Augenblicksversagen nicht auszuschließen. Vor diesem Hintergrund konnte die Kammer eine Strafbarkeit nach § 315 c Abs. 1 Nr. 2a StGB nicht erkennen, so dass der Angeklagte wegen fahrlässiger Körperverletzung schuldig zu sprechen war und auch zu bestrafen war.“

Die Rechtsbeugung des Staatsanwaltes, oder: Scheinerledigung

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Schon etwas länger hängt in meinem Blogordner das LG Freiburg, Urt. v. 25.02.2016 – 2 KLs 270 Js 21058/12. In dem geht es um die Verurteilung eines Freiburger Staatsanwaltes wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Strafvereitelung (§§ 258, 258a, 339 StGB). Der Staatsanwalt hatte Akten nicht bearbeitet bzw. „scheinerledigt“ (vgl. die PM des LKG Freiburg und ein Bericht aus der Stuttgarter Zeitung). Der Staatsanwalt ist zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt worden. Aus der PM:

„Nach Auffassung der Kammer konnte dem Angeklagten in den genannten sechs Fällen je­weils ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz und die Pflicht zur zeitnahen Ankla­geerhebung nachgewiesen werden, da er die entsprechenden Verfahren nicht entsprechend seiner Pflicht bearbeitet hatte. Im Hinblick auf die Zeiträume der Nichtbearbeitung wurde durch das Gericht festgehalten, dass es sich bei jedem der Fälle um besonders gravierende Verstöße gehandelt hatte. Der Angeklagte hatte demnach die betreffenden Verfahren nur zum Schein erledigt, um insoweit keiner behördlichen Kontrolle mehr zu unterliegen, den Abschluss dieser Verfahren jedoch unterlassen. Das Gericht konnte nicht feststellen, dass der Angeklagte infolge einer Arbeitsüberlastung nicht in der Lage gewesen wäre, die Verfah­ren sachgemäß und zeitnah zu erledigen. Ebenso wenig ließ sich für die Große Strafkammer feststellen, dass der Ange­klagte die Verfahren etwa aus den Augen verloren hätte, diese gleichsam versehentlich lie­gen geblieben oder ihm „durchgerutscht“ wären.“

Zwei der sechs Fälle waren übrigens verjährt, in den übrigen vier Fällen konnten die Verfahren noch durchgeführt werden. Es ging dabei um Ermittlungsverfahren u.a. wegen Betrugs, versuchten Totschlags, Körperverletzung und sexuellen Missbrauchs.

Das Urteil des LG Freiburg ist nicht rechtskräft. Vermutlich hören wir zu der Sache also noch etwas vom BGH. Bahnbrechend Neues wird es allerdingsw ahrscheinlich nicht sein, denn das LG weist zu Recht darauf hin:

„Auch ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz durch pflichtwidrige Verfahrensverzögerung kann den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllen, insbesondere dann, wenn die Bedeutung des Beschleunigungsgebotes besonders hervorgehoben ist, wie beispielsweise in Haftsachen aufgrund Art. 2 Abs. 2 S. 2, 104 GG und Art. 5 Abs. 3, Abs. 4 MRK (vgl. BGHSt 47, 105, Rn. 11; OLG Karlsruhe, a.a.O.). Darüber hinaus gilt dies aber auch bei „Weglegen“ von Akten, unvertretbarem und sachwidrigen Hinausschieben gebotener Entscheidungen und sonstigem Unterlassen (Fischer, a.a.O., § 339 Rn. 24).“

Nochmals: Strafbefehl – nur mit Übersetzung ist Zustellung wirksam….

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Klein, aber fein ist der LG Freiburg, Beschl. v. 17.06.2016 – 3 Qs 127/15. Er behandelt eine Problematik, die vor kurzem auch schon das LG Stuttgart im LG Stuttgart, Beschl. v. 12.05.2014 – 7 Qs 18/14entschieden hat (vgl. Strafbefehl: Nur mit Übersetzung ist Zustellung wirksam….). Es geht noch einmal um die Wirksamkeit der Zustellung eines Strafbefehls an einen der deutschen Sprache nicht mächtigen Beschuldigten. Das LG Freiburg sagt ebenso wie das LG Stuttgart:

„Der Angeklagte ist der deutschen Sprache nicht mächtig. Seine Belehrung im Rahmen seines polizeilichen Aufgriffs erfolgte mittels eines in georgischer Sprache abgefassten Vordrucks. Nach Auskunft der Justizvollzugsanstalt Freiburg ist eine Verständigung in deutscher Sprache mit dem Angeklagten nicht möglich. Daher wäre der Strafbefehl dem Angeklagten gemäß § 187 Abs. 2 GVG in einer Übersetzung in die georgische Sprache zuzustellen gewesen. Erst mit der Zustellung eines übersetzten Strafbefehls wird die Frist zur Einlegung des Einspruchs gegen den Strafbefehl in Gang gesetzt (vgl. hierzu auch Meyer-Goßner/Schmitt, Kommentar zur StPO, 57. Auflage 2014, § 37 Rn. 28; LG Stuttgart NStZ-RR 2014, 216 ff.).“

Recht hat es.

Unbestimmtes Rechtsmittel, oder: Auf diese Fallgruben muss man als Verteidiger achten

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Auf den ersten Blick scheint das LG Freiburg, Urt. v. 27.10.2015 – 10 Ns 550 Js28148/14 -AK 23/15 – nichts Besonderes zu sein/zu enthalten. Wenn man dann aber genauer hinschaut, stellt man fest: Es zeigt einige Fallgruben/Fallstricke auf, in die man als Verteidiger hineintappen kann.

Zugrunde liegt der Entscheidung folgender – im Grudne alltäglicher – Sachverhalt: Gegen den Angeklagten war wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung gem. §§ 315 c Ab. 1 Nr. 1a, Abs. 3 StGB ein Strafbefehl erlassen worden. Verurteilt worden ist der Angeklagte vom AG dann aber nur wegen eines Verstoßes gegen § 24a Abs. 1 StVG zu einer Geldbuße, außerdem wurde jedoch – nach § 44 StGB (!!) – ein Fahrverbot verhängt. Die Kosten des Verfahrens wurden insgesamt dem Angeklagten auferlegt. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte über seinen Verteidiger „Rechtsmittel“ eingelegt. Ziel war, das Fahrverbot auf § 24 StVG, nicht aber auf § 44 StGB zu stützen. Außerdem sollte die erstinstanzliche Kostenentscheidung dahin abgeändert werden, entsprechend § 465 Abs. 2 StPO sämtliche Verfahrenskosten und notwendigen Auslagen der ersten Instanz der Staatskasse aufzuerlegen. In der Hauptverhandlung hat der Angeklagte sein Rechtsmittel dann auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Seine Berufung hatte überwiegend Erfolg. Allerdings ist die erstinstanzliche Kostenentscheidung nicht abgeändert worden:

„Die fristgerechte Einlegung einer sofortigen Beschwerde wäre – entgegen der Auffassung des Verteidigers – Voraussetzung dafür gewesen, die Kostenentscheidung des Amtsgerichts einer Überprüfung zuzuführen.

Die Kostenentscheidung des Amtsgericht muss grundsätzlich gesondert mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden, § 464 Abs. 3 S. 1 StPO. Eine Ausnahme hiervon gilt nach der zutreffenden neueren Rspr. und h. M. (vgl. Hilger in Löwe-Rosenberg, StPO, 2010, § 464, Rn. 42 f., m. w. N.) nur, wenn die Hauptsacheentscheidung so geändert wird, dass sie der erstinstanzlichen Kostenentscheidung widerspricht (Grundsatz der unlösbaren Verknüpfung der Sach- mit der Kostenentscheidung). Dies ist hier nicht der Fall und war auch von vornherein mit dem Rechtsmittel nicht angestrebt. Der Angeklagte hatte die vom Amtsgericht abgeurteilte Ordnungswidrigkeit nämlich gestanden. Es ging ihm mit dem Rechtsmittel darum, dass das Fahrverbot – der Rechtslage entsprechend – mit der Vollstreckungsflexibilität des § 25 Abs. 2 a StVG ausgestattet sein sollte.

Dem Angeklagten war auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Einlegung der sofortigen Beschwerde zu bewilligen. Zum einen hat er dies nicht beantragt und auch die sofortige Beschwerde nicht nachgeholt. Zum anderen wäre eine Wiedereinsetzung, auch von Amts wegen, schon deshalb ausgeschieden, weil der Verteidiger die Einlegung der sofortigen Beschwerde versäumt hat. Im Bereich des Kostenrechts wird dem Angeklagten das Verschulden seines Anwalts ebenso zugerechnet wie im Zivilprozess, vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 2015, § 464/21 m. w. N.; BGHSt 26, 126; OLG Düsseldorf, OLGSt StPO § 464 Nr. 5.“

Aus der Entscheidung lassen sich also folgende Lehren ziehen bzw. man sollte sich (noch einmal) Folgendes vergegenwärtigen:

  • Das in der Praxis nicht seltene „unbestimmte Rechtsmittel“ (§ 335 Abs. 1 StPO; zum „unbestimmten Rechtsmittel“ Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl., 2015, Rn. 2183 m.w.N.) erfasst nicht auch Nebenentscheidungen erfasst. Gegen sie muss ausdrücklich das zulässige Rechtsmittel eingelegt werden.
  • Etwas anderes gilt nur, wenn die ausdrückliche Kostenbeschwerde ausnahmsweise nicht erforderlich ist, wenn also, die Hauptsacheentscheidung ggf. so geändert wird, dass sie der erstinstanzlichen Kostenentscheidung widerspricht (Grundsatz der unlösbaren Verknüpfung der Sach- mit der Kostenentscheidung). Das ist z.B. der Fall, wenn nach Verurteilung in erster Instanz mit der Kostenfolge des § 465 StPO in zweiter Instanz ein Freispruch erfolgt, für den dann § 467 StPO gelten muss.
  • Im Kostenrecht gibt es im Zweifel keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, weil dem Angeklagten ein Verschulden des Verteidigers – anders als sonst im Strafverfahren – zugerechnet wird (vgl. dazu grundlegend BGHSt 26, 126).