Schlagwort-Archive: Gründe

Richterliche Vernehmung einer Zeugin – Ausschluss des Beschuldigten?

© sharpi1980 – Fotolia.com

Gegen den Beschuldigten ist ein Ermittlungsverfahren anhängig wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung in zwei Fällen. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft soll die Zeugin S. richterlich vernommen werden. Das AG Waldshut-Tiengen hat den Beschuldigten von der richterlichen Vernehmung der Zeugin gemäß § 168c Abs. 3 StPO ausgeschlossen, da zu befürchten sei, dass die Zeugin in Gegenwart des Beschuldigten nicht die Wahrheit sagen und von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen werde. Der LG Waldhut-Tiengen. Beschl. v. 09.10.2013 – 1 Qs 68/13 – sieht das anders:

„Wegen der Bedeutung des Anspruchs auf Anwesenheit ist die Ausschließungsmöglichkeit eng auszulegen (Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 168c Rn. 16). Es soll verhindert werden, dass im vorbereitenden Verfahren unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) und unter Außerachtlassung des Grundsatzes der Waffengleichzeit zwischen Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem ein für den weiteren Verlauf des Strafverfahrens möglicherweise entscheidendes Beweisergebnis herbeigeführt werden kann, ohne dass dem Beschuldigten und/oder seinem Verteidiger zuvor Gelegenheit gegeben war, hierauf Einfluss zu nehmen (Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl., § 168c Rn. 1; BGHSt 26, 332, 335).

Gemessen an diesen Grundsätzen ist ein Ausschluss des Beschuldigten nur dann möglich, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein Zeuge in Gegenwart des Beschuldigten nicht die Wahrheit sagen werde oder wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass der Beschuldigte seine Anwesenheit oder sein durch die Anwesenheit erlangtes Wissen dazu missbrauchen würde, durch Verdunkelungshandlungen — etwa durch Beseitigung oder Verfälschung von Beweismitteln oder durch unzulässige Beeinflussung von Zeugen oder Sachverständigen — die Ermittlung des Sachverhalts zu erschweren (Löwe-Rosenberg, aaO., § 168c Rn. 15; Karlsruher Kommentar, aaO., § 168c Rn. 6; Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl., § 168c Rn. 3). Dies gilt auch dann, wenn konkreter Anlass für die Befürchtung besteht, der Zeuge werde bei Anwesenheit des Beschuldigten voraussichtlich von seinem Aussage- bzw. Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen (Karlsruher Kommentar, aaO., § 168c Rn. 6; Löwe-Rosenberg, aaO, § 168c Rn. 16a).

Nach Aktenlage ist nicht erkennbar, dass ein solcher Ausschlussgrund vorliegt. Die Aussagebereitschaft der 20-jährigen Zeugin hat im Laufe des Ermittlungsverfahrens bereits mehrfach geschwankt, ohne dass dies gerade auf eine Anwesenheit des Beschuldigten hätte zurückgeführt werden können, zumal er bei den bisherigen polizeilichen Vernehmungen ohnehin nicht anwesend war. Bereits nach der Anzeigeerstattung am 26.04.2013 hatte die Zeugin angekündigt, von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen (AS 59a), war dann aber doch zu einer weiteren kriminalpolizeilichen Vernehmung am 30.04.2013 bereit gewesen, bevor sie — noch vor der Durchführung der bereits Anfang Mai 2013 erstmals beantragten richterlichen Vernehmung — am 03.05.2013 erklärte, ihre Anzeige zurückzuziehen (AS 105 f.). Der Umstand, dass die Zeugin in ihrer E-Mail an die Kriminalpolizei vom 03.05.2013 erklärte, dass sie „gerade mit den Nerven am Ende“ sei und „mit der Sache nix zu tun haben“ wolle, lässt eher darauf schließen, dass sie wegen der allgemeinen Belastungen, denen sie als Zeugin in einem Ermittlungsverfahren wegen möglicherweise zu ihrem Nachteil begangener Sexualdelikte ausgesetzt ist, keine Aussage machen wollte, und zwar unabhängig von der Anwesenheit des Beschuldigten bei einer Vernehmung. Als sie sich schließlich am 31.05.2013 wieder telefonisch bei KOK’in von G. meldete und erklärte, dass sie jetzt doch bereit sei auszusagen, begründete sie dies auch damit, dass ihre Cousine sie inzwischen unterstütze (AS 215). Konkrete Ankündigungen der Zeugin , wonach sie in Anwesenheit des Beschuldigten von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen werde, sind bislang nicht bekannt.

Ebenso wenig ist ersichtlich, dass der Beschuldigte die Zeugin im Laufe des Ermittlungsverfahrens bedroht oder anderweitig beeinflusst haben könnte. Soweit er bereits im Rahmen des von der Zeugin geschilderten Tatgeschehens geäußert haben soll, dass er — wenn sie ihn anzeige — die Familie auseinander bringen werde, indem er den Großvater und die Eltern der Zeugin gegeneinander aufhetze, ist das damit verbundene Drohpotential dadurch erledigt, dass die Zeugin ungeachtet dieser Drohung Anzeige erstattet hat.“

Auch einen schlechten Pflichtverteidiger muss man bezahlen….

Geld MünzenDer OLG Dresden, Beschl. v. 19.09.2013 – 2 Ws 445/12 lässt sich zusammenfassen in der Überschrift: Auch einen schlechten Pflichtverteidiger muss man = der Angeklagte bezahlen, denn auch die an ihn ausgezahlten Gebühren sind Kosten des Verfahrens. Mit dem Hinweis auf ungenügende Einsatzbereitschaft eines Pflichtverteidigers wird der Angeklagte im kostenrechtlichen Erinnerungs- und Beschwerdeverfahren nicht gehört. Denn:

„Soweit die Verurteilte sinngemäß vorträgt, Rechtsanwalt B. habe aufgrund seiner ungenügenden Einsatzbereitschaft für die Verteidigung seinen Gebührenanspruch verwirkt, ist dieses Vorbringen im Erinnerungs- und Beschwerdeverfahren gegen den Kostenansatz nicht zu berücksichtigen. Dieses Rechtsbehelfsverfahren ist allein wegen einer Verletzung des Kostenrechts statthaft. Die Verurteilte rügt mit ihrem Vortrag zur ungenügenden Einsatzbereitschaft des Pflichtverteidigers aber nicht die kostenmäßige Richtigkeit der in Ansatz gebrachten Beträge, sondern wendet sich gegen die Anspruchsberechtigung des Rechtsanwalts dem Grunde nach. Damit kann sie jedoch nicht gehört werden.

Im Erinnerungs- und Beschwerdeverfahren darf auch nicht geprüft werden, ob die Anordnung, welche die Auslagen verursacht hat – hier die Aufrechterhaltung der Pflichtverteidigerbestellung von Rechtsanwalt B. durch die Zurückweisung des Entpflichtungsantrags durch den Kammervorsitzenden – rechtsfehlerfrei gewesen ist. Hierfür wäre ein eigenständiges Anfechtungsverfahren (Beschwerde gemäß § 304 StPO) eröffnet gewesen, welches die – durch Rechtsanwalt S. wahlverteidigte -Verurteilte allerdings nicht wahrnahm.

Ergänzend ist anzumerken, dass die Aufrechterhaltung der Beiordnung eines Pflichtverteidigers zusätzlich zu der bereits bestehenden Wahlverteidigung eines Verurteilten ihren Grund darin hatte, die Hauptverhandlung gegen einen möglichen Ausfall des Wahlverteidigers abzusichern. Auch wenn eine solche Verfahrensweise in der Strafprozessordnung nicht vorgesehen ist, so ist sie doch zulässig und sogar geboten, wenn anders der zügige Fortgang des Verfahrens und vor allem der Hauptverhandlung nicht gesichert werden kann. Nur so kann auch dem Beschleunigungsgebot im Strafverfahren, das nicht zuletzt die Interessen eines Angeklagten im Auge hat, Genüge getan werden (vgl. BVerfGE 39, 238 (246 f.); 63, 45 (68 f.); BVerfG NStZ 1984, 561; BGHSt 15, 306, 309; Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl., § 141 Rdnr. 2; § 143 Rdnr. 2). Erfolgt die Bestellung eines Pflichtverteidigers (oder die Aufrechterhaltung seiner Bestellung) gegen den Willen eines Angeklagten, kann sie zwar zum Wegfall der Einheitlichkeit der Verteidigung führen; dies muss aber im Interesse einer wirkungsvollen staatlichen Strafrechtspflege in Kauf genommen werden. Kommt es zur Verurteilung, so greift auch hier das Verursachungsprinzip der Kostenbelastung nach § 465 Abs. 1 StPO. Eine Entlastung der Angeklagten von den Kosten einer durch prozessuale Vorsorge veranlassten zusätzlichen Pflichtverteidigung sieht das Gesetz auch dann nicht vor, wenn sie sich ausdrücklich gegen eine solche Maßnahme stellt (vgl. BVerfG NStZ 1984, 561, 562).

Hohes Alter – Führerschein weg?, oder: Die Feststellung der Fahreignung älterer Kraftfahrer

© J. Steiner – Fotolia.com

Eine ganze Reihe von verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen haben sich in der letzten Zeit mit der Frage befasst, welche Auswirkungen eigentlich ein hohes/höheres Alter auf die Fahrerlaubnis bzw. die Frage der Entziehung der Fahrerlaubnis hat. So jetzt vor kurzem noch einmal der VG Düsseldorf, Beschl. v. 13. 3. 2013 – 6 L 299/13, in dem es (auch) um die Frage ging, ob eine Fahrprobe ein geeignetes Mittel sein kann, um über die praktischen Fahrfertigkeiten des Fahrerlaubnisinhabers Aufschluss zu geben. Das VG fasst in der Entscheidung die Rechtsprechung zu „Alter und Fahrerlaubnis“ sehr schön zusammen und bejaht die Geeignetheit der Fahrprobe zur Überprüfung der Geeignetheit des Fahrerlaubnisinhabers. Es heißt da:

„Das hohe Alter eines Fahrerlaubnisinhabers ist für sich genommen noch kein Grund, die Fahreignung anzuzweifeln. Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. Mai 2012 – 1 S 25.12 -, […] Rdnr. 11 (= ZfSch 2012, 657).

Allerdings beginnen nach gerontologischen und verkehrspsychologischen Erkenntnissen bei vielen Menschen ab dem 40. Lebensjahr, häufig ab dem 50. Lebensjahr, die ersten Abbauprozesse. Hierzu ist bei Schubert u. a., Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung, 2. Auflage (Juni 2005), S. 222 – zwar im Zusammenhang mit der Personenbeförderung, aber ohne hierauf beschränkt zu sein – ausgeführt:

  • „Das Sehvermögen lässt nach, insbesondere die Sehschärfe und die Fähigkeit zur Hell-/Dunkeladaption. Auch die Schnelligkeit und Genauigkeit der Auffassung vor allem in komplexen Verkehrssituationen verschlechtert sich.
  • Das Leistungstempo wird geringer. Auch die Leistungsgüte und -genauigkeit sind insbesondere unter Zeitdruck zunehmend beeinträchtigt.
  • Bei hohen und komplexen Leistungsanforderungen steigt die Gefahr der Überforderung.
  • Beeinträchtigungen finden sich insbesondere beim Umgang mit neuen Situationen.
  • wenige alte Menschen neigen zur Selbstüberschätzung; (…)“

Trifft hohes Lebensalter (deutlich jenseits der 50 Jahre) mit einer Verkehrsauffälligkeit zusammen, die möglicherweise von diesen Abbauprozessen beeinflusst ist, kann dies in der Gesamtschau auf ein altersbedingtes Nachlassen der geistigen und körperlichen Kräfte hinweisen, das Anlass zu Zweifeln am Fortbestand der Fahreignung gibt. Das gilt insbesondere, wenn die Verkehrsauffälligkeiten von – typischerweise straßenverkehrserfahrenen – Polizeibeamten festgestellt und der Fahrerlaubnisbehörde nach § 2 Abs. 12 Satz 1 StVG übermittelt worden sind.

Selbst wenn sich solche Schwächen bislang nicht in Unfällen oder anderen Verkehrsauffälligkeiten manifestiert haben, kommt dem regelmäßig nicht die Bedeutung zu, dass die Fahrfähigkeit nicht überprüft werden dürfte. Vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. September 1987 – 7 C 79.86 -, […] Rdnr. 10 (= NJW 1988, 925) m.w.N.

Allerdings bietet nicht schon jeder altersbedingte Abbau der geistigen und körperlichen Kräfte Anlass für eine Entziehung oder Beschränkung der Fahrerlaubnis; hinzutreten muss vielmehr, dass es im Einzelfall zu nicht mehr ausreichend kompensierbaren, für die Kraftfahreignung relevanten Ausfallerscheinungen oder Leistungsdefiziten gekommen ist. Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. Mai 2012 – 1 S 25.12 -, […] Rdnr. 11 (= ZfSch 2012, 657).

Bestehen solche Zweifel, sind auf der Grundlage von §§ 46 Abs. 3, 11 Abs. 2 FeV regelmäßig ärztliche Gutachten einzuholen, um diese auszuräumen oder die mangelnde Fahreignung festzustellen. Geben diese keinen hinreichenden Aufschluss darüber, ob die Fahreignung trotz altersbedingter Einschränkungen fortbesteht, kann die Fahrerlaubnisbehörde die Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (MPU) nach § 11 Abs. 3 FeV anordnen oder gemäß § 11 Abs. 4 FeV eine Fahrprobe zu verlangen.

Bei Zweifeln am Fortbestand der Fahreignung in höherem Lebensalter kann eine Fahrprobe grundsätzlich ein geeignetes Mittel sein, um über einen wichtigen Teilbereich der Fahreignung, nämlich die praktischen Fahrfertigkeiten, Aufschluss zu geben. Denn es ist allgemein anerkannt, dass ältere Fahrerlaubnisinhaber mit langer Fahrpraxis psycho-physische Leistungsminderungen bis zu einem gewissen Grad durch Erfahrung und gewohnheitsmäßig geprägte Bedienungshandlungen ausgleichen können. Zur Feststellung einer solchen möglichen Kompensation wird sich, etwa zusätzlich zu funktionspsychologischen Leistungstests, häufig auch eine praktische Fahrprobe anbieten. Vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. September 1987 – 7 C 79.86 -, […] Rdnr. 12 (= NJW 1988, 925).

Insbesondere ist die Anordnung einer zusätzlichen Fahrprobe weniger einschneidend für den langjährigen Fahrerlaubnisinhaber als die zusätzliche Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens mit einer in diesem Verfahren gegebenenfalls erforderlich werdenden Fahrverhaltensprobe durch den psychologischen Gutachter. Vgl. VGH Bayern, Beschluss vom 23. November 2011 – 11 CS 11.2067 -, […] Rdnr. 14 m.w.N., und Nr. 2.5 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung.

Im entschiedenen Fall hatte die Verwaltungsbehörde die Fahrererlaubnis entzogen, was das VG nicht beanstandet hat. Begründet u.a. damit, dass der Fahrererlaubnisinhaber – sein Alter wird nicht mitgeteilt – eine Fahrprobe abgelegt hat, bei der es verschiedene Beanstandungen gab. u.a. das Beinahe-Überfahren einer roten Ampel, das zu einem Eingriff des begleitenden Fahrlehrers geführt hatte.

 

Das war das AG ein wenig zu schnell – den Betroffenen kann es aber freuen

© a_korn – Fotolia.com

Das AG verurteilt die von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung entbundene und in der Hauptverhandlung nicht durch ihren schriftlich bevollmächtigten Verteidiger vertretene Betroffene am 19.10.2012 wegen Unterschreitung des erforderlichen Sicherheitsabstandes in zwei Fällen zu einer Geldbuße von 280,00 € und verhängt ferner unter Gewährung von Vollstreckungsaufschub gemäß § 25 Abs. 2a StVG ein einmonatiges Fahrverbot.  Noch am 19.10.2012 hat die Richterin die förmliche Zustellung einer Ausfertigung des im Hauptverhandlungsprotokoll enthaltenen, nicht mit Gründen versehenen Urteils mit Rechtsmittelbelehrung an den Verteidiger nebst formloser Übersendung an die Betroffene sowie die Übersendung der Akten an die Staatsanwaltschaft „gemäß § 46 Absatz 1 OWiG, § 41 StPO“ verfügt, die jeweils ausgeführt wurden. Dem Verteidiger wurde das nicht mit Gründen versehene Urteil am 24. 10.2012 zugestellt, bei der Staatsanwaltschaft gingen die Akten am 25.10.2012 ein.  Nachdem die Betroffene unter dem 24.10.2012 durch Schreiben ihres Verteidi­gers vom selben Tage Rechtsbeschwerde unter Erhebung der allgemeinen Sachrü­ge eingelegt hatte, gelangte am 08. 11.2012 ein mit Gründen versehenes Urteil zu den Akten, welches dem Verteidiger am 12. 12. 2012 zugestellt wur­de.

Was passiert beim OLG Hamm mit der Rechtsbeschwerde? Nun, sie hat Erfolg. Der OLG Hamm, Beschl. v. 19.03.2013 – III 5 RBs 26/13 – hebt auf. Begründung:

Das angefochtene Urteil enthält entgegen §§ 46 Abs. 1, 71 OWiG, § 267 StPO keine für den Senat als Rechtsbeschwerdegericht beachtlichen Gründe. Die am 08. November 2012 zu den Akten gelangten schriftlichen Urteilsgründe sind unbeachtlich, da zu diesem Zeitpunkt bereits eine nicht mehr abänderbare Urteilsfassung ohne Gründe vorlag (vgl. dazu: Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 267 Rdnr. 39)…..

b) Denn aufgrund der richterlichen Übersendungsverfügung vom 19. Oktober 2012, die den misslichen Vorgaben des verwendeten judica-Formulars geschuldet sein mag, ist die nicht mit Gründen versehene (ursprüngliche) Urteilsfassung an den Verteidiger der Betroffenen unter dem 24. Oktober 2012 zugestellt worden, die im Protokoll enthalten und gesondert unterschrieben war sowie alle für das Urteilsrubrum erforderliche Angaben und die Urteilsformel und damit sämtliche Elemente eines abgekürzten Urteils in Bußgeldsachen enthielt (vgl. dazu: KG Berlin, Beschluss vom 08. Septem­ber 2004 zu 3 Ws (B) 382/04, zitiert nach juris Rn. 4 m.w.N.). Nach willentlicher Herausgabe dieser Urteilsfassung aus dem inneren Dienstbereich des Gerichts durch Übersendung an den Verteidiger, durfte diese Urteilsfassung indes nicht mehr geändert werden, da namentlich die Voraussetzungen des § 77b Abs. 2 OWiG nicht vorlagen (vgl.: Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 21. Juli 2003 zu 1 Ss (OWi) 123B/03, zitiert nach juris Rn. 9, 10; KG Berlin,–Beschluss vom 08. September 2004 zu 3 Ws (B) 382/04, zitiert nach juris Rn. 4, 5; vgl. auch: Beschluss des hiesigen 2. Senats für Bußgeldsachen vom 30. Juni 2003 zu 2 Ss OWi 412/03, zitiert nach juris Rn. 3-5). Denn die Zustellung der ersten — nicht begründeten — Urteilsfassung war nicht von § 77b Abs. 1 OWiG gedeckt.

Nun, mir leuchtet diese Vorgehensweise der Amtsrichterin nicht ein. Die Gefahr, die darin liegt, ist – wie der Beschluss zeigt – offensichtlich. Für die Betroffene allerdings ein erfreuliches Ergebnis, mit dem sie Zeit gewinnt, was im Zusammenhnag mit dem Fahrverbot – die Zweiahresfrist lässt grüßen – von Bedeutung sein kann.

Neonazi kann Fahrerlaubnis auch bei Gewalttaten außerhalb des Straßenverkehrs entzogen werden

© J. Steiner – Fotolia.com

Ich hatte schon öfter über die (auch) von der Stadt Münster geübte Praxis berichtet, die Fahrerlaubnis nach dem StVG auch bei Gewalttaten außerhalb des Straßenverkehrs zu entziehen. Eine Entziehung mit der Begründung ist jetzt – bei einem Neonazi –  vom VG Gelsenkirchen im Eilverfahren/Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bestätigt worden (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 27.08.2012 – 7 L 896/12). Dazu die PM des Landes NRW:

„Die Fahrerlaubnisbehörde entzog dem Antragsteller die Fahrerlaubnis, da aufgrund des von ihm ausgehenden hohen Aggressionspotentials nicht zu erwarten sei, dass er sich im Straßenverkehr hinreichend angepasst und an den Regeln orientiert verhalte.

Der zwanzigjährige Dortmunder ist seit seinem 15. Lebensjahr mehrfach und fortlaufend nach dem Jugendstrafrecht wegen (gefährlicher) Körperverletzung, Sachbeschädigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Beleidigung verurteilt worden. Anhaltspunkte dafür, dass die Strafverfahren und Jugendstrafen sowie ein nach eigenen Angaben durchgeführtes Anti – Aggressionstraining irgendeine Verhaltensänderung bewirkt haben könnten, waren für die Kammer nicht ersichtlich. Nach den Feststellungen der Kammer ist er zur Zeit zusammen mit Mitgliedern einer neonazistischen Gruppe vor dem Dortmunder Landgericht angeklagt, weil er an Körperverletzungen auf dem Dortmunder Weihnachtsmarkt im November 2011, dem Überfall auf die Gaststätte „HirschQ“ im Dezember 2010 und an Körperverletzungsdelikten in Duisburg ebenfalls im Dezember 2010 beteiligt gewesen sein soll. Diese Strafverfahren können nach Auffassung der Kammer berücksichtigt werden, obwohl sie noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sind, da aus ihnen in Verbindung mit den schon rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren deutlich wird, dass das Aggressionspotenzial des Antragstellers mit anderen Mitgliedern seiner Gruppierung zusammen und häufig auch unter erheblichem Alkoholeinfluss weiterhin ungehemmt wirkt und von einer Besserung oder gar Aufarbeitung nicht die Rede sein könne.

Deshalb sei, obwohl der Antragsteller bisher verkehrsrechtlich nicht aufgefallen ist, auch ohne Abklärung durch ein medizinisch-psychologisches Gutachten von der Nichteignung des Antragstellers auszugehen. Bei diesem Sachverhalt stehe die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht im Ermessen der Behörde.

An der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entziehungsverfügung bestehen nach Auffassung der Kammer keine Bedenken. Etwaige mit der sofort wirksamen Fahrerlaubnisentziehung verbundene insbesondere wirtschaftliche und berufliche Schwierigkeiten habe der Antragsteller hinzunehmen, weil gegenüber seinen Interessen das Interesse am Schutz von Leib, Leben und Gesundheit anderer Verkehrsteilnehmer eindeutig überwiege.“