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Einstellung des Bußgeldverfahrens wegen Verjährung, oder: „Danke“ für die Auslagenerstattung

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Zum (Fast)Wochenschluss dann noch Gebührenentscheidungen bzw. heute zwei Entscheidungen zur Auslagenerstattung im Bußgeldverfahren. Beide sind m.E. „interessant“, beide stammen vom Kollegen Gratz aus Bous.

Ich beginne mit AG Büdingen, Beschl. v. 30.05.2023 – 60 OWi 48/23. Der Betroffenen wurde in dem Verfahren eine Geschwindigkeitsüberschreitung zur Last gelegt. Im Laufe des Verfahrens beantragte der Verteidiger gerichtliche Entscheidung bezüglich verschiedener, ihm seitens der Verwaltungsbehörde nicht zur Verfügung gestellter, Beweismittel. Mit Beschluss des AG wurde dem Antrag teilweise stattgegeben. Zu diesem Zeitpunkt war dem AG nicht bekannt, dass die Verwaltungsbehörde das Verfahren gegen die Betroffene bereits gemäß § 46 OWiG i.V.m. § 170 StPO eingestellt und den erlassenen Bußgeldbescheid zurückgenommen hatte.

Der Verteidiger hat der Verwaltungsbehörde seine Kostenrechnung übermittelt. Mit selbständigen Kostenbescheid vom 7.3.2023 hat die Verwaltungsbehörde entschieden, dass „nach Rücknahme des Bußgeldbescheides … und nach Einstellung des Verfahrens auf Antrag des Betroffenen die ihm entstandenen notwendigen Auslagen der Staatskasse auferlegt“ werden. In der Begründung wird darauf abgestellt, dass das Verfahren eingestellt worden sei, weil nach Erlass des Bußgeldbescheides Verfolgungsverjährung eingetreten und gleichzeitig der Bußgeldbescheid zurückgenommen worden sei. Nach Aktenlage bestehe, wenn man die Verjährung außer Betracht lässt, ein dringender Tatverdacht dahingehend, dass die Betroffene die vorgeworfene Ordnungswidrigkeit begangen habe. Die Geschwindigkeitsmessung sei ordnungsgemäß erfolgt, das Gerät sei geeicht gewesen, die mit der Messung beauftragten Personen seien entsprechend geschult und in staatlicher Anstellung. Die Messunterlagen seien vollständig gewesen. Das Fahrerfoto entspreche dem Lichtbild des Betroffenen bei der Personalausweisbehörde. Und weiter: „Da der Betroffene folglich nur nicht belangt wurde, weil ein Verfahrenshindernis bestand, konnte die Verwaltungsbehörde gemäß § 105 Abs. 1 OWiG, §§ 467a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO davon absehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen (vgl. AG FFM, 981 OWi 75/21, AG Lampertheim 53 AR 70/22).“

Hierauf hat der Verteidiger „sich für die Auslagenerstattung bedankt und den Bescheid vom 07.03.2023 „insoweit angenommen“. Weiterhin hat er endgültige Festsetzung und Ausgleichung der Kosten beantragt.

Mit erneuten selbständigen Kostenbescheid vom 6.4.2023 hat die Verwaltungsbehörde den Antrag, die notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen, zurückgewiesen und den selbstständigen Kostenbescheid vom 7.3.2023 für nichtig erklärt. Dieser Bescheid enthält dieselbe Begründung wie der Kostenbescheid vom 7.3.2023.

Hiergegen hat der Verteidiger Rechtsmittel eingelegt. Die Verwaltungsbehörde hat eine Nichtabhilfeentscheidung getroffen und das wie folgt begründet: „In analoger Anwendung der verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätze ist mein Bescheid vom 07.03.2023 als nichtig anzusehen. Nichtigkeit eines Bescheides liegt bei besonders schwerwiegenden und offenkundigen Fehlern vor. Mein o.g. Bescheid enthält keine inhaltlich konsistente Kostenentscheidung, hier in der Form einer Auslagenentscheidung. Zwar erlegt der Tenor des Bescheids der Staatskasse die Auslagen auf, die Gründe tragen jedoch diese Entscheidung nicht, da sie in sich widersprüchlich sind. So wird an einer Stelle zur Auferlegung an die Staatskasse verwiesen, an anderer Stelle wiederum an die Betroffene. Der Verweis auf § 467 Abs. 3 S.1 StPO schon nicht zum Sachverhalt des vorliegenden Ordnungswidrigkeitsverfahrens. Die damit vorliegenden Fehler sind schwerwiegend und offensichtlich und ohne weiteres erkennbar. Es entspricht zudem der ständigen Veraltungspraxis, in vergleichbaren Verfahrenskonstellationen von der Auferlegung der Kosten/Auslagen zum Nachteil der Staatskasse abzusehen, wenn lediglich die Zustellurkunde zum Bußgeldbescheid nicht in Rücklauf kommt und damit ein Fall des § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 StPO vorliegt.“

Der Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung hatte Erfolg. Das AG hat den selbstständige Kostenbescheid vom 6.4.2023 aufgehoben und festgestellt, dass die Staatskasse die der Betroffenen entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen hat:

„Der zulässige Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist auch begründet.

Zunächst bedarf es keiner ausdrücklichen Entscheidung, ob die Rechtsauffassung des Regierungspräsidiums zutreffend ist, wonach der Kostenbescheid vom 07.03.2023 nichtig ist. Dagegen würde jedenfalls sprechen, dass der Tenor der Entscheidung eindeutig formuliert ist, auch wenn die Gründe hierzu und auch in sich zum Teil widersprüchlich sind. Darüber hinaus korrespondiert der Tenor im selbständigen Kostenbescheid mit der grundlegenden Entscheidung des Gesetzgebers, wonach regelmäßig bei Rücknahme des Bußgeldbescheides und Einstellung des Verfahrens die Staatskasse die notwendigen Auslagen des Betroffenen zu tragen hat (vgl. § 105 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 467a StPO und § 467 Abs. 2 bis 5 StPO). Deshalb dürfte auch eine Berichtigung wegen offensichtlicher Unrichtigkeit ausscheiden.

Ebenfalls offenbleiben kann, ob die Verwaltungsbehörde, unabhängig davon, zur Abänderung dieser, die Betroffene begünstigten, Entscheidung (analog §§ 48, 49 VwVfG) befugt war.

Denn auch wenn man von der Befugnis der Behörde, erneut über die Frage der Auslagenerstattung zu entscheiden, ausgeht, erweist sich der Antrag auf gerichtliche Entscheidung als begründet. Die notwendigen Auslagen der Betroffenen sind zu erstatten.

Zutreffend ist die Verwaltungsbehörde davon ausgegangen, dass sie, nachdem sie das Verfahren eingestellt hat, über die Auslagen der Betroffenen zu entscheiden hat. Denn eine Auslagenentscheidung der Verwaltungsbehörde ist nach § 105 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 467a StPO erforderlich, wenn das Verfahren nach Rücknahme eines Bußgeldbescheids eingestellt wird. § 467a Abs. 1 StPO regelt sinngemäß, dass die dem Betroffenen erwachsenen notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen sind, wobei § 467 Abs. 2 bis 5 StPO ebenfalls sinngemäß gilt (Grommes, in: BeckOK OWiG, Graf, 38. Edition, Stand: 01.04.2023 Rn. 8 ff.).

Daraus ergibt sich die grundlegende Entscheidung des Gesetzgebers, dass regelmäßig bei Rücknahme des Bußgeldbescheides und Einstellung des Verfahrens die Staatskasse auch die notwendigen Auslagen des Betroffenen zu tragen hat. Die im vorliegenden Fall einzig in Betracht kommende Ausnahme hiervon regelt § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO, wonach von der Auslagenerstattung abgesehen werden kann, wenn es nur deshalb nicht zu einer Verurteilung kommt, weil ein Verfahrenshindernis besteht.

Diese Ausnahmevoraussetzung liegt im Ergebnis nicht vor, so dass die entstandenen notwendigen Auslagen der Betroffenen zu erstatten sind.

Zum Zeitpunkt der Rücknahme des Bußgeldbescheides lag zwar Verfolgungsverjährung vor (§ 31 OWiG). Gemäß § 26 Abs. 3 S. 1 StVG beträgt die Frist der Verfolgungsverjährung bei Ordnungswidrigkeiten nach § 24 Abs. 1 drei Monate, solange wegen der Handlung weder ein Bußgeldbescheid ergangen ist noch öffentliche Klage erhoben worden ist, danach sechs Monate. Zunächst wurde die Verfolgungsverjährung durch die am 17.08.2022 seitens der Verwaltungsbehörde verfügte Anhörung der Betroffenen unterbrochen. Zwar wurde vor Ablauf der Dreimonatsfrist am 10.11.2022 der Bußgeldbescheid erlassen. Allerdings gelangte die Zustellungsurkunde nicht in Rücklauf, so dass die Verjährung gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG nicht unterbrochen wurde.

Allerdings fehlt es an der weiteren Voraussetzung, dass es nur wegen des Verfahrenshindernisses nicht zu einer Verurteilung gekommen ist. Hierbei ist nämlich stets dem Ausnahmecharakter der Bestimmung Rechnung zu tragen. Bei Hinwegdenken des Verfahrenshindernisses muss deshalb mit Sicherheit von einer Verurteilung auszugehen sein. Ist diese zweifelhaft, sind auch die notwendigen Auslagen des Beschuldigten bzw. Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen (Gieg, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 9. Auflage 2023, § 467 Rn. 10 f. m.w.N.).

Von einer sicheren Verurteilung kann bereits deshalb nicht ausgegangen werden, da eine Identifizierung der Betroffenen als Fahrerin durch den Tatrichter nicht stattgefunden hat. Zwar legt ein Abgleich der Messbilder mit den in der Akte befindlichen Lichtbildern der Betroffenen nahe, dass diese das Fahrzeug zur Tatzeit geführt hat. Die Fahrereigenschaft wurde allerdings nicht eingeräumt und es kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass nicht ein ähnlich aussehender Familienangehöriger das Fahrzeug gesteuert hat. Jedenfalls wäre das Gericht im Rahmen einer Hauptverhandlung gehalten gewesen, einem solchen – möglichen – Einwand nachzugehen.

Darüber hinaus kann auch nicht mit hinreichender Sicherheit von dem vorgeworfenen Höchstgeschwindigkeitsverstoß ausgegangen werden. Mit Beschluss des Amtsgerichts Büdingen vom 12.04.2023 wurde die Verwaltungsbehörde dazu verpflichtet, dem Verteidiger verschiedene Beweismittel zur Verfügung zu stellen und darüber hinaus wurde in diesem Beschluss ausdrücklich darauf hingewiesen, dass weitere Fragen des Verteidigers im Rahmen einer Hauptverhandlung durch Zeugenvernehmung geklärt werden können. Auch wenn bislang nach Aktenlage von einer ordnungsgemäßen Messung auszugehen ist, ist es, wie sich gelegentlich zeigt, gerade nicht auszuschließen, dass sich dies u.a. durch Vernehmung des Messbeamten in der Hauptverhandlung ausnahmsweise anders darstellt.

Im Übrigen wäre es inkonsequent, wenn nun von einer zu erwartenden sicheren Verurteilung ausgegangen würde, wenngleich mit Beschluss vom 12.04.2023 dem Antrag des Verteidigers auf Überlassung von Beweismitteln teilweise stattgegeben und darüber hinaus ausdrücklich darauf hingewiesen worden ist, dass weitere, vom Verteidiger aufgeworfene Fragen, in der Hauptverhandlung zu klären seien. Zu diesem Beschluss mit dieser Begründung wäre es allerdings nicht gekommen, wenn die Verwaltungsbehörde dem Gericht mitgeteilt hätte, dass der Bußgeldbescheid aufgehoben und das Verfahren eingestellt worden ist. Deshalb wird dringend angeraten, dem Gericht zukünftig zeitnah eine erfolgte Verfahrenseinstellung  mitzuteilen, wenn dort (lediglich) ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung in derselben Sache anhängig ist.

Auf die Frage, ob die Verwaltungsbehörde ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat, kommt es mangels Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen nicht an.“

Eine schöne Entscheidung, die hinsichtlich der Auslagenerstattung in diesen Fällen noch einmal ins Gedächtnis ruft, dass es sich die Verwaltungsbehörde manchmal doch recht einfach machen, wenn es um die Auferlegung der notwendigen Auslagen des Betroffenen auf die Staatskasse nach einer Einstellung geht. „Übersehen“ wird nämlich häufig, dass in der Regel die Staatskasse diese zu tragen hat und sie nur in Ausnahmefällen dem Betroffenen selbst auferlegt werden können. Dieses „Regel-Ausnahme-Verhältnis“ wird von den Verwaltungsbehörden „gern“ umgekehrt. Treffend ist in dem Zusammenhang der Hinweis des Gerichts auf eine potentielle Widersprüchlichkeit, wenn man im Rahmen der Auslagenerstattung von einer sicheren Verurteilung des Betroffenen ausgeht, dem aber im Vorverfahren die Einsicht und das Zurverfügungstellen weiterer Unterlagen zur Überprüfung der Messung zugebilligt hat. So sicher war die Verurteilung dann wohl doch nicht.

Treffend übrigens auch das „Dankeschön“ des betroffenen Kollegen 🙂

Ob die Frage der Zulässigkeit der Rücknahme dahinstehen konnte, ist letztlich egal, da es am Ergebnis nichts ändert.

 

Pflichti II: Pflichtverteidiger im Bußgeldverfahren, oder: Rückwirkende Bestellung bei Haft des Betroffenen

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Die nächste Entscheidung, die ich vorstelle, ist der LG Kaiserslautern, Beschl. v. 17.03.2023 – 5 Qs 9/23. Die hätte heute Morgen auch zu den Beiordnungsgründen gepasst, aber ich will sie als „Solitär“ vorstellen, da es um eine rückwirkende Bestellung im Bußgeldverfahren geht.

Das AG hatte die Bestellung abgelehnt, die Beschwerde hat dann beim LG Erfolg:

„b) Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Vorschriften über die notwendige Verteidigung (§§ 140 ff. StPO) über § 46 Abs. 1 OWiG auch im gerichtlichen Verfahren Bußgeldverfahren anwendbar sind. Für das behördliche Verfahren trifft § 60 OWiG eine abweichende Regelung, doch war dieses vorliegend bereits abgeschlossen und das Amtsgericht mit dem Verfahren betraut. Die Tatbestände des § 140 Abs. 1 StPO sind hier somit anzuwenden (vgl. KK-OWiG/Kurz, 5. Aufl., § 60 Rn. 26; Krenberger/Krumm, OWiG, 7. Aufl., § 46 Rn. 40).

Bei Antragsstellung lag ein Fall notwendiger Verteidigung gem. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor. Auch wenn – wie im vorliegenden Fall – Haft in einer anderen Sache vollstreckt wird, liegt nach zutreffender Ansicht ein Fall der notwendigen Verteidigung i.S.v. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor (OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 22.04.2010 – 3 Ws 351/10, NStZ-RR 2011, 19; LG Mainz, Beschluss vom 11.10.2022 – 1 Qs 39/22, BeckRS 2022, 27767; LG Köln, Beschluss vom 28.12.2010 – 105 Qs 342/10, BeckRS 2011, 25712; BeckOK StPO/Krawczyk, 44. Ed. 1.7.2022, StPO § 140 Rn. 12; a.A.: LG Dresden, Beschluss vom 23.05.2018 – 14 Qs 16/18, BeckRS 2018, 13746; LG Osnabrück, Beschluss vom 06.06.2016 – 18 Qs 526 Js 9422/16 (17/16), BeckRS 2016, 13008). Weder § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO noch Art. 4 Abs. 4 der EU-Richtlinie 2016/1919 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, auf der die Neuregelung der StPO-Normen zu dem Pflichtverteidiger basieren, differenziert danach, in welchem Verfahren die Freiheitsentziehung angeordnet worden ist, sondern bejaht die notwendige Verteidigung bei jeder Inhaftierung. Die Regelung des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO bezweckt es, solche Nachteile zu kompensieren, die der Beschuldigte aufgrund eingeschränkter Freiheit und der damit einhergehenden eingeschränkten Möglichkeit, seine Verteidigung vorzubereiten, erleidet (MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl., § 140 Rn. 19). Derartige Nachteile entstehen bei jeder Inhaftierung.

Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist möglich. Der Antrag auf die Beiordnung des Verteidigers wurde bereits am 30.08.2022, vor Einstellung des Verfahrens am 02.01.2023, gestellt. Während bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung am 10.12.2019 eine Beiordnung zum Pflichtverteidiger nach Verfahrensabschluss bzw. Einstellung des Verfahrens teilweise noch abgelehnt wurde, ist dieser Auffassung nach der Reform der §§ 141, 142 StPO nicht mehr zu folgen (OLG Nürnberg Beschluss vom 06.11.2020 – Ws 962/20, Ws 963/20, BeckRS 2020, 35193; BeckOK StPO/Krawczyk, 46. Ed. 1.1.2023, § 142 Rn. 30; MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl., § 142 Rn. 14; a.A.: OLG Hamburg, Beschluss vom 16.09.2020 – 2 Ws 112/20, BeckRS 2020, 27077; OLG Braunschweig, Beschluss vom 02.03.2021 – 1 Ws 12/21, BeckRS 2021, 3268). Jedenfalls dann, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt wurde und die Entscheidung alleine aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der Betroffene keinen Einfluss hatte, führt die zwischenzeitlich erfolgte Einstellung nicht dazu, dass die Verteidigerbeiordnung unzulässig wird (OLG Bamberg Beschluss vom 29.04.2021 – 1 Ws 260/21, BeckRS 2021, 14711; OLG Nürnberg Beschluss vom 06.11.2020 – Ws 962/20, Ws 963/20, BeckRS 2020, 35193). So liegt der Fall hier.

Zum Zeitpunkt der Antragsstellung war der Verfahrensausgang für den Betroffenen noch nicht absehbar, die Bestellung war zur Vorbereitung einer etwaigen Hauptverhandlung erforderlich (KK-OWiG/Kurz, 5. Aufl., § 60 Rn. 28).“

OWi II: Zum Verfahrensrecht im Bußgeldverfahren, oder: Quer durch das OWiG

Und im zweiten Psting hier ein paar Entscheidungen zum Verfahrensrecht im Bußgeldverfahren, ein wenig „Ecken sauber machen“. 🙂 Vorgestellt werden aber jeweils nur die Leitsätze, und zwar:

Eine Vertretung des Betroffenen in der Hauptverhandlung im Sinne der § 73 Abs. 3, 79 Abs. 4 OWiG setzt den Nachweis der Vertretungsvollmacht voraus. Im Falle einer Untervertretung genügt es hierfür nicht, wenn zwar eine vom Wahlverteidiger dem Untervertreter erteilte Vollmacht zu den Akten gelangt ist, aber keine dem Wahlverteidiger erteilte Vertretungsvollmacht nachgewiesen ist.

1. Zur Beurteilung der Frage, ob bei der Verhängung mehrerer Geldbußen die Wertgrenze des § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG überschritten ist, sind einzelne Geldbußen zu addieren, soweit sie wegen einer Tat im prozessualen Sinne gemäß § 264 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG verhängt wurden.

2. Kann aufgrund der unzulänglichen tatrichterlichen Feststellungen nicht beurteilt werden, um wie viele prozessuale Taten es sich bei den abgeurteilten Verstößen gegen das Steuerberatungsgesetz handelt, sind die verhängten Geldbußen für die Prüfung der Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde zusammenzurechnen.

Das Verschlechterungsverbot hindert das neue Tatgericht im neuen Rechtsgang nicht an der Verurteilung wegen einer für den Betroffenen nachteiligen Schuldform (hier Vorsatz statt Fahrlässigkeit), wohl aber an der Verhängung einer gegenüber dem ersten Rechtsgang höheren Geldbuße.

1. Nach der unmissverständlichen Formulierung des § 79 Abs.1 Satz 2 OWiG ist die Zulassung der Rechtsbeschwerde nur gegen Urteile möglich. Gegen nach § 72 OWiG erlassene Beschlüsse ist eine Zulassungsrechtsbeschwerde ausgeschlossen.

2. Gibt das Tatgericht dem Betroffenen unter Fristsetzung die Möglichkeit, rechtsfolgenmindernde Umstände nachzuweisen (hier: verkehrserzieherische Nachschulung), so stellt es eine Verletzung rechtlichen Gehörs im Sinne des § 79 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 OWiG dar, wenn der nach § 72 OWiG ergehende Beschluss vor Fristablauf ergeht.

1. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist nicht allein deshalb geboten, weil das angefochtene Urteil keine Urteilsgründe enthält, obwohl die Voraussetzungen des § 77b OWiG, unter denen von der Fertigung von Urteilsgründen abgesehen werden kann, nicht gegeben sind, da ggf. insbesondere bei massenhaft auftretenden Bußgeldverfahren wegen einfacher Verkehrsordnungswidrigkeiten, die in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht keine Schwierigkeiten aufweisen, die Zulassungsvoraussetzungen häufig auch ohne Kenntnis von Urteilsgründen geprüft werden können.

2. Ist jedoch das Recht auf rechtliches Gehär des Betroffenen verletzt, ist die Rechtsbeschwerde ggf. zuzulassen.

So, Ecken sauber. Und das Bild mal nur so bzw.: Die o.a. Fragen sind alle auch in unserem OWi-Hnadbuch angesprochen. Zur <<Werbemodus an>> Bestellseite geht es hier. <<Werbemodus aus>>.

 

 

 

Akteneinsicht III: Zweimal OLG zur (Akten) Einsicht, oder: Einsichtsort und gesamte Messreihe

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Und im dritten Posting dann mal wieder zwei OLG-Entscheidungen zur (Akten) Einsicht im Bußgeldverfahren – Stichwort: Messreihe, Token und so. Das sind:

Das Zugangsrecht des Verteidigers auf Messunterlagen erstreckt sich nicht lediglich auf Einsicht in die Unterlagen in den Räumen der Dienststelle des Messbeamten. Eine Reise dorthin nur zu dem Zweck, die gesamte Messreihe einzusehen, kann dem ortsfremden Verteidiger des Betroffenen, bzw. dem von diesem beauftragten Sachverständigen grundsätzlich nicht zugemutet werden, da deren Anreise mit Mühen und Kosten verbunden ist, die außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache stehen.

1. Der Betroffene hat keinen Anspruch auf Einsicht in die gesamte Messreihe.

2. Aus dem Recht auf ein faires Verfahren kann aber grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang des Betroffenen zu nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgen. Die begehrten Informationen müssen aber zum Zweck der Ermittlung entstanden und weiterhin vorhanden sein, damit sie dem Betroffenen zur Verfügung gestellt werden können.

In dem Zusammenhang: Man fragt sich, wo die Entscheidung des BVerfG in 2 BvR 1167/20 bleibt. Angekündigt ist sie ja schon länger- Jetzt hört man, dass es im Juni etwas werden soll. Hoffentlich im Juni 2023 🙂 .

beA II: Einspruch im OWi-Verfahren nur elektronisch?, oder: Ebenfalls „Nein“, sagt das OLG Karslruhe

folgenden Text dazu nutzen:
Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Ich hatte vor einigen Tagen über den OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 28.02.2023 – 1 Ss-OWi 1460/22 – berichtet. Das ist/war die Entscheidung, in der das OLG klar gestellt hat, dass die Einlegung des Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid auch nach der Einführung der Pflicht zur elektronischen Übermittlung von Dokumenten nicht der Formvorschrift gemäß § 110c OWiG, § 32d Satz 2 StPO unterliegt. Die Frage war bis dahin ja obergerichtlich noch nicht entschieden.

Nun gibt es eine zweite OLG-Entscheidung zu der Frage, nämlich den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 22.03.2023 – 2 ORbs 35 Ss 125/23. Das OLG Karlsruhe nimmt im Rahmen einer Rechtsbeschwerde – Stichwort: Wirksamkeit des Einspruchs – ebenfalls zu der Frage Stellung. Es löst sie wie das OLG Frankfurt am Main:

„1. Der Bußgeldbescheid des Landratsamts des X-Kreises vom 3.6.2022 ist nicht bestandskräftig geworden, weshalb das Amtsgericht nicht am Erlass des angefochtenen Urteils gehindert war.

a) Aus den Akten, die dem Senat bei der Prüfung von Verfahrenshindernissen uneingeschränkt zugänglich sind, ergibt sich dazu folgender Verfahrensablauf: Einen ersten am 19.4.2022 erlassenen und dem Betroffenen am 22.4.2022 zugestellten Bußgeldbescheid nahm die Bußgeldbehörde mit dem Erlass des Bußgeldbescheids vom 3.6.2022, der dem Betroffenen am 9.6.2022 zugestellt wurde, zurück. Der Betroffene legte gegen den Bescheid vom 3.6.2022 am 17.6.2022 Einspruch mittels Schriftsatz seines Verteidigers ein, der als Telefax eingereicht wurde.

b) In der Instanzrechtsprechung ist bisher unterschiedlich beurteilt worden, ob die Formvorschriften der §§ 110c Satz 1 OWiG, 32d Satz 2 StPO auch für die Einlegung des Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid gelten, bei der Einlegung durch Rechtsanwälte also nur die Einreichung als elektronisches Dokument zugelassen ist und ansonsten die Erklärung unwirksam ist. Dies ist vom Amtsgericht Hameln (Beschluss vom 14.2.2022 – 49 OWi 23/22 = NZV 2022, 333, ebenso Seitz/Bauer in Göhler, OWiG, 18. Aufl., § 67 Rn. 21a; Rebmann/Roth/Herrmann, OWiG, 3. Aufl./32. Lfg., § 110c Rn. 24; wohl auch KK-Graf, OWiG, 5. Aufl., § 110c Rn. 49, 53) verneint, vom Amtsgericht Tiergarten (Beschluss vom 5.4.2022 – 310 OWi 161/22 = StraFo 2022, 318; ebenso Stahnke in Gassner/Seith, OWiG, 2. Aufl., § 110c Rn. 25 unter Bezugnahme auf die in der 5. Aufl. von Krenberger/Krumm, OWiG, § 110c Rn. 13 vertretene Auffassung, wohingegen dort die Frage in der aktuellen 7. Aufl. offen gelassen wird; ebenso offenlassend BeckOK-OWiG/Valerius, 37. Ed., § 110c Rn. 1.1) hingegen unter Hinweis auf die Regelung in § 335 Abs. 2a HGB und die Entstehungsgeschichte bejaht worden. Obergerichtlich ist die Frage bislang – soweit ersichtlich – noch nicht entschieden worden.

c) Der Senat schließt sich der vom Amtsgericht Hameln vertretenen Auffassung an; die hiergegen in der Entscheidung des Amtsgerichts Tiergarten vorgebrachten Argumente vermögen nicht zu überzeugen. Soweit dabei an Materialien zum Gesetz zum Ausbau des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten und zur Änderung weiterer prozessrechtlicher Vorschriften (BT-Drs. 29/28399) angeknüpft wird, geht dies schon deshalb fehl, weil die Vorschriften des § 110c OWiG und § 32d StPO gar nicht Gegenstand dieses Gesetzes waren. In der Begründung zum Entwurf des Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs, mit dem die genannten Vorschriften eingeführt wurden, heißt es hingegen zur maßgeblichen Bestimmung des § 32d StPO unmissverständlich: „Satz 2 sieht demgegenüber eine Rechtspflicht zur elektronischen Einreichung von Dokumenten nur für bestimmte Verfahrenserklärungen vor, die aufgrund der Besonderheiten des Strafverfahrens auf die hier abschließend aufgeführten Erklärungen beschränkt werden soll.“ (BR-Drs. 236/16 S. 49 f.) Mit dieser bewussten Entscheidung des Gesetzgebers für das Enumerationsprinzip ist es unvereinbar, die Rechtspflicht des § 32d Satz 2 StPO auf dort nicht genannte Rechtshandlungen bzw. über § 110c OWiG ihre Entsprechungen im Bußgeldverfahren auszudehnen. Da § 110c OWiG die entsprechende Anwendung von § 32d Satz 2 StPO anordnet, aber § 32d Satz 2 StPO die Rechtspflicht zur Einreichung als elektronisches Dokument nicht für eine dem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid entsprechende Handlung im Strafverfahren vorschreibt, wird danach der Einspruch gegen den Bußgeldbescheid von diesen Vorschriften nicht erfasst.

d) Infolge der danach wirksamen rechtzeitigen Einlegung des Einspruchs ist der Bußgeldbescheid vom 3.6.2022 nicht in Bestandskraft erwachsen.“

Damit sollte die „Kuh vom Eis“ sein. Aber: Sicher ist sicher – also Einspruch ggf. doch als elektronisches Dokument.