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StGB I: Gewaltanwendung zur Beutesicherung?, oder: Beutesicherung muss nicht alleiniges Ziel sein

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Heute gibt es dann StGB-Entscheidungen.

Ich starte mit dem – schon etwas älteren – BayObLG, Beschl. v. 24.04.2025 – 203 StRR 55/25. In dem hat das BayObLG eingehend eine Zuständigkeitsproblematik erörtert – insoweit verweise ich auf den verlinkten Volltext – und dann aber auch zu einer materiell-rechtlichen Frage Stellung genommen, nämlich zum Vorliegen eines räuberischen Diebstahls (§ 252 StGB). Insoweit gehe ich hier auf die Entscheidung ein, wobei es um folgenden Sachverhalt geht:

Nach den Feststellungen des LG entwendete der Angeklagte in der Absicht, die Artikel anschließend zu veräußern, am 17.09.2022 in einem Verbrauchermarkt 10 Schachteln Zigaretten, indem er sie in seinen Rucksack steckte und den Kassenbereich ohne Bezahlung verließ. Als er nach der Kasse von zwei Detektiven und einem im Laden befindlichen Polizeibeamten gestellt wurde, rangelte er mit diesen, versuchte wegzulaufen, und schlug, bespuckte und beschimpfte den Polizeibeamten. Ob der Angeklagte die Gewalt – auch – anwandte, um zu verhindern, dass sich die Zeugen des Rucksacks mit dem Diebesgut bemächtigten, hat das LG offen gelassen.

Insoweit moniert das BayObLG:

„2. Die Verurteilung wegen Diebstahls in Tatmehrheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung begangen am 17. September 2022 kann hier bereits aus sachlich-rechtlichen Gründen keinen Bestand haben.

a) Das Landgericht hat nur eine lückenhafte Beweiswürdigung vorgenommen, die gebotenen Feststellungen zum Motiv des Angeklagten nicht getroffen und den Tatbestand des räuberischen Diebstahls nicht erörtert, obwohl der festgestellte äußere Sachverhalt dazu Anlass gegeben hätte.

b) Auf der Grundlage der lückenhaften Feststellungen hat das Landgericht angenommen, dass sich der Angeklagte wegen Diebstahls in Tatmehrheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung strafbar gemacht hätte und der Diebstahl und der tätliche Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tatmehrheit zueinander stehen würden. Es hat dem Angeklagten zudem nicht in Bezug auf den Diebstahl, jedoch in Bezug auf die Widerstandshandlungen infolge einer nicht ausschließbar erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit eine Strafrahmenverschiebung zugestanden und gegen den Angeklagten zwei Einzelstrafen in Höhe von 4 Monaten und 6 Monaten Freiheitsstrafe verhängt.

c) Läge allerdings ein räuberischer Diebstahl vor, hätte der Tatrichter – unter Beachtung des Verschlechterungsverbots – nur eine Einzelstrafe aussprechen dürfen und die Möglichkeit einer Strafrahmenänderung nach §§ 252, 249 Abs. 2 StGB und §§ 21, 49 Abs. 1 StGB bezüglich dieser Einzelstrafe prüfen müssen. Die wegen Diebstahls ausgesprochene Einzelstrafe von 4 Monaten Freiheitsstrafe, bezüglich derer das Landgericht eine Strafmilderung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB mit der rechtsfehlerhaften Begründung des gezielten und planmäßigen Vorgehens (vgl. BGH, Beschluss vom 23. November 2022 – 2 StR 378/22 –, juris Rn. 8 m.w.N.) versagt hat, könnte schon deshalb keinen Bestand haben, weil der Verbrechenstatbestand des § 252 StGB als das speziellere Gesetz den Diebstahl verdrängt (Vogel/Burchard in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Auflage, § 252 Rn. 81).

d) Handelte der Angeklagte ohne Besitzerhaltungsabsicht, stünden der Diebstahl und die Widerstandshandlungen gleichwohl zueinander im Verhältnis der Tateinheit (zur natürlichen Handlungseinheit vgl. BGH, Beschluss vom 14. März 2024 – 2 StR 7/24 –, juris Rn. 4; zur Tateinheit Vogel/Burchard a.a.O. Rn. 64).

3. Der neue Tatrichter wird sich mit der Einlassung des Angeklagten zu dessen Verkaufsabsicht und mit der Motivation des Angeklagten eingehender beschäftigen und der Frage nachgehen müssen, ob es dem Angeklagten auch auf eine Beutesicherung ankam. In diesem Fall wird er das Verfahren insoweit nach § 328 Abs. 2 StPO an das Schöffengericht zurückverweisen müssen. …..“

StGB III: Nichtrückgabe eines angemieteten Pkw, oder: Manifestation des Zueignungswillens?

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Im dritten Posting dann der BayObLG, Beschl. v. 09.10.2025 – 206 StRR 326/25 – zur Unterschlagung in den Fällen der Nichtrückgabe eines angemieteten Pkws. Die Staatsanwaltschaft hat dem Angeklagten zur Last gelegt, einen am 12. Juni 2023 angemieteten Pkw unterschlagen zu haben. Er habe diesen über die Dauer der Mietzeit hinaus behalten und ihn nicht an den Vermieter zurückgegeben; das Fahrzeug habe am Flughafen Belgrad aufgefunden werden können.

Das AG hat den Angeklagten freigesprochen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Angeklagte habe dem Berechtigten das Fahrzeug durch dessen Abstellen auf einem Parkplatz in der Nähe von Belgrad zwar dauerhaft entzogen. Es habe jedoch keine Manifestation eines Aneignungswillens festgestellt werden können. Auf die hiergegen eingelegte Berufung der Staatsanwaltschaft hat das LG den verurteilt. Die dagegen eingelegte Revision hatte Erfolg, das BayObLG hat freigesprochen:

„1. Der Senat stellt zunächst klar, dass Gegenstand des angegriffenen Urteils sowie der gegenständlichen Entscheidung des Senats allein das historische Geschehen ist, auf welches sich der Tatvorwurf einer Unterschlagung des Fahrzeugs nach dessen Anmietung stützt. Die Anmietung selbst und ein etwaig dabei verwirklichter Betrug gemäß § 263 StGB stellen eine hiervon zu unterscheidende prozessuale Handlung im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO dar. Bei der prozessualen Tat handelt es sich um einen einheitlichen geschichtlichen Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Die prozessuale Tat wird in der Regel durch Tatort, Tatzeit und das Tatbild umgrenzt und insbesondere durch das Täterverhalten sowie die ihm innenwohnende Angriffsrichtung sowie durch das Tatopfer bestimmt (BGH, Beschluss vom 13. Februar 2019, 4 StR 555/18, NStZ 2020, 46 Rn. 5). Zwischen der betrügerischen Anmietung bzw. Leasingnahme eines Gegenstandes und dessen nachfolgender Unterschlagung liegt regelmäßig keine Tatidentität vor (OLG Oldenburg, Beschl. v. 15. September 2011, 1 Ss 156/11, juris Rn. 6 f.; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 21. August 2009, 1 Ss 57/09, juris Rn. 21 ff.; OLG Hamm, Beschl. v. 13. Dezember 2007, 3 Ss 430/07, juris Rn. 23 f.; vgl. auch Senat, Beschluss vom 9. Januar 2023 206 StRR 365/22, n.v.).

2. Die Feststellungen des Landgerichts belegen jedenfalls in subjektiver Hinsicht nicht die Verwirklichung des Tatbestands der Unterschlagung.

a) Eine Unterschlagung gemäß § 246 Abs. 1 StGB setzt voraus, dass der Täter sich oder einem Dritten eine fremde bewegliche Sache rechtswidrig zueignet. Die Zueignung bezieht sich auf die Sache selbst oder den in ihr verkörperten wirtschaftlichen Wert. Sie setzt voraus, dass der Täter den Eigentümer auf Dauer von der Nutzung der Sache ausschließt und sich diese oder den in ihr verkörperten wirtschaftlichen Wert wenigstens vorübergehend in sein Vermögen einverleibt (vgl. BGH, Beschluss vom 29. November 2023, 6 StR 191/23, NJW 2024, 1050), oder zumindest, dass er einen entsprechenden Willen nach außen manifestiert (so die h.M.; BGH, Beschluss vom 13. März 2024, 4 StR 442/23, BeckRS 2024, 10417 Rn. 11 ff.; vgl. auch Tübinger Kommentar StGB/Bosch, 31. Aufl. 2025, § 246 Rn. 10 f. m.w.N.; Fischer, StGB, 72. Aufl. 2025, § 246 Rn. 5 ff.). Es genügt also nicht jede Handlung in Bezug auf eine fremde Sache, zu der nur der Eigentümer befugt wäre (vgl. BGH a.a.O. Rn. 11).

b) An der Verwirklichung der erstgenannten Voraussetzung, nämlich des Elements der „Enteignung“ des Berechtigten, besteht nach den Feststellungen kein Zweifel. Der Angeklagte hat das Fahrzeug durch Abstellen auf einem unbewachten Parkplatz in Serbien, ohne den Eigentümer vom Standort zu informieren bzw. Vorkehrungen für eine Sicherung und Rückführung des Fahrzeugs zu schaffen, und durch seinen anschließenden mehrmonatigen Aufenthalt in Portugal, ohne sich um das Fahrzeug noch zu kümmern, preisgegeben und für den Eigentümer die konkrete Gefahr seines dauerhaften Ausschlusses von der Nutzung seines Eigentums geschaffen.

c) Die Urteilsgründe belegen jedoch keine wenigstens vorübergehende Einverleibung des Fahrzeugs oder des in ihm verkörperten wirtschaftlichen Werts in das Vermögen des Angeklagten.

aa) Erforderlich ist insoweit als subjektives Element ein Aneignungswille bzw. Zueignungswille, und als objektives Merkmal ein nach außen erkennbares Verhalten des Täters, in dem sich der Wille, eine eigentümerähnliche Stellung zu begründen, manifestiert (vgl. Tübinger Kommentar StGB/ Bosch a.a.O., § 246 Rn. 10; Fischer a.a.O., § 246 Rn. 6a, je m.w.N.). Hinsichtlich weiterer Einzelheiten und eventuell weitergehender Anforderungen bestehen unterschiedliche Auffassungen. Nach der herkömmlichen in Rechtsprechung und Schrifttum, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen, herrschenden „Manifestationslehre“ ist eine nach außen erkennbaren Handlung im vorstehenden Sinn erforderlich, aber auch ausreichend (vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 2024, 4 StR 442/23, BeckRS 2024, 10417, Rn. 11, 25; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 21. August 2009, 1 Ss 57/09, juris Rn. 31; Fischer a.a.O. § 246 Rn. 6a). Davon abweichend hat der 6. Strafsenat des Bundesgerichtshofs jüngst (nicht tragend) entschieden, es bedürfe nicht lediglich der Manifestation eines Zueignungswillens, sondern der Täter müsse sich die Sache oder den wirtschaftlichen Wert tatsächlich wenigstens vorübergehend in sein Vermögen einverleibt haben (BGH, Beschluss vom 29. November 2023, 6 StR 191/23, NJW 2024, 1050; unter Ablehnung dieser Auffassung an der bisherigen Rechtsprechung festhaltend BGH, 4. Strafsenat, a.a.O., BeckRS 2024, 10417 Rn. 24).

bb) Einer Klärung der Streitfrage für die vorliegende Fallgestaltung bedarf es nicht, denn die Urteilsgründe lassen jegliche Feststellungen zu einem Zueignungswillen des Angeklagten vermissen.

Die Urteilsgründe beschränken sich auf die Feststellung, der Angeklagte habe „spätestens im Zeitpunkt des Abfluges aus Serbien … nicht mehr den Willen“ gehabt, „das Fahrzeug dem Geschädigten wieder zurückzuführen“ (UA S. 6). es ist weder der subjektive Wille des Angeklagten, das Fahrzeug wenigstens vorübergehend in sein Vermögen zu überführen, festgestellt, noch ist eine objektive Handlung beschrieben, welche als Manifestation eines vorhandenen Aneignungswillens zu werten sein könnte.

(1) Das Landgericht stellt für seine rechtliche Würdigung maßgeblich auf das Abstellen des Fahrzeugs in Belgrad und die Abreise von dort, bei gleichzeitigem Wegfall des Rückführungswillens, ab (UA S. 6).

Diese Handlung vermag aber lediglich den Willen zu belegen, dem Eigentümer und Vermieter des Fahrzeugs dauerhaft die Nutzung seines Eigentums zu entziehen. Ein Wille, das Fahrzeug in das eigene Vermögen einzuverleiben, ist darin nicht manifestiert.

Von § 246 StGB geschützt ist nur das Eigentum (Fischer, StGB, 72. Aufl. 2025, a.a.O., § 246 Rn. 2), nicht aber das Interesse einer Vertragspartei an der Erfüllung der schuldrechtlichen Verpflichtungen durch die andere Partei. Demgemäß entspricht es einhelliger Rechtsprechung, dass die bloße Unterlassung der geschuldeten Rückgabe einer Sache regelmäßig nicht als Manifestation des Zueignungswillens im Sinne von § 246 Abs. 1 StGB angesehen werden kann (BGH, Beschluss vom 14. November 2012, 3 StR 372/12, BeckRS 2013, 6121 Rn. 10; Beschluss vom 17. März 1987, 1 StR 693/86, NJW 1987, 2242, 2243; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 21. August 2009, 1 Ss 57/09, juris Rn. 31; Tübinger Kommentar StGB/Bosch a.a.O. Rn. 11). Es handelt sich um ein lediglich vertragswidriges Verhalten, das noch nicht den sicheren Schluss darauf zulässt, der Täter wolle sich die Sache zueignen.

(2) Weitere Umstände, die in Zusammenschau mit der fehlenden Rückgabe des Kfz den sicheren Schluss zulassen würden, der Angeklagte habe sich das Fahrzeug unter Ausschluss des Berechtigten zueignen wollen, sind nicht festgestellt. Solche Umstände können beispielsweise darin zu sehen sein, dass der Täter über das Eigentum an der fremden Sache, etwa durch Weiterveräußerung, verfügt (MünchKomm StGB/Hohmann, 5. Aufl. 2025, § 246 Rn. 25), dass er den Standort der Sache gegenüber dem Berechtigten verheimlicht, den Besitz ableugnet oder es durch die vertragswidrige Weiterbenutzung der Sache zu einem erheblichen Wertverlust kommt (BGH a.a.O. NJW 1987, 2242, 2243; Beschluss vom 14. November 2012, 3 StR 372/12, BeckRS 2013, 6121 Rn. 10; OLG Zweibrücken a.a.O. Rn. 31).

(i) Die bloße Weiterbenutzung des Fahrzeugs bis zum Abstellort in Belgrad, auch wenn sie über ein etwaiges Ende des Mietvertrags hinausging, lässt einen Aneignungswillen nicht erkennen. Daher kommt es auch nicht darauf an, wann die Mietdauer endete. Das Landgericht hat hierzu Widersprüchliches festgestellt (UA S. 3): Die Mietzeit sei bei Abschluss des Vertrages am 12. Juni 2023 nicht festgelegt worden, sie sei aber bis 9. Juli 2023 „verlängert“ worden. Schließlich habe der Angeklagte mitgeteilt, er wolle das Fahrzeug noch „bis zum Monatsende“ mieten. Auf einen erheblichen Wertverlust des Pkw durch die Weiterbenutzung bis zum Abstellzeitpunkt, wenige Wochen nach dem etwaigen Ablauf der Mietdauer, deutet nichts hin.

(ii) Entsprechendes gilt für den Umstand, dass der Angeklagte mit dem Pkw nach Serbien fuhr. Ausweislich der Aussage einer Angestellten der Autovermietung war eine Fahrt nach Serbien vertraglich zulässig (UA S. 5).

(iii) Die Feststellungen, dass der Angeklagte auf Anrufe (der Autovermietung) seit 13. Juli 2013 nicht mehr reagiert und ihr schließlich den Abstellort des Fahrzeugs nicht mitgeteilt hat, manifestieren ebensowenig einen (erst nach der Anmietung gefassten) Aneignungswillen. Ein Verheimlichen oder eine Besitzleugnung (s. dazu vorstehend) ergeben sich daraus nicht, ebensowenig wie aus den Handlungen in Belgrad (Abstellen des Pkw und Abreise nach Portugal). Letztere lassen es zwar möglich erscheinen, dass der Angeklagte das Fahrzeug auf diese Weise verbergen wollte, um sie nach seiner Rückkehr weiter wie ein Eigentümer zu nutzen. Ein sicherer Schluss ist insoweit jedoch nicht möglich; dagegen spricht konkret auch, dass der Angeklagte nach den Feststellungen vor seiner Abreise die Kosten für eine Rückführung erfragt hatte (dazu, dass die bloße Preisgabe einer Sache, die den Zugriff Dritter ermöglicht, für die Manifestation eines Zueignungswillens regelmäßig nicht ausreicht, vgl. auch BayObLG, Beschluss vom 7. Februar 1992, RReg 2 St 248/91, juris Rn. 11).“

StPO I: Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten, oder: Wahrnehmung der Verteidigungsrechte

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Heute mache ich einen StPO-Tag. Den eröffne ich mit einem Beschluss des BayObLG, den ich hier schon mal in anderem Zusammenhang vorgestellt habe (vgl. Berufung I: Der Angeklagte sitzt im Zuschauerraum, oder: Ist der Angeklagte erschienen?). 

In dem diesem Posting zugrunde liegenden BayObLG, Beschl. v. 23.06.2024 – 203 StRR 234/25 – hat das BayObLG dannn auch noch – in einer Segelanweisung – zur Verhandlungsfähigkeit Stellung genommen, und zwar wie folgt:

„3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:

Der neue Tatrichter wird mit Blick auf die Verhaltensauffälligkeiten des Angeklagten zu prüfen haben, ob in der Berufungshauptverhandlung Anhaltspunkte für eine Verhandlungsunfähigkeit bestehen.

a) Verhandlungsfähigkeit im strafprozessualen Sinne bedeutet nach allgemeiner Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum, dass der Angeklagte in der Lage sein muss, seine Interessen in und außerhalb der Verhandlung vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Februar 1995 – 2 BvR 345/95 –, juris Rn. 29 m.w.N.; BGH, Urteil vom 4. Juli 2018 – 5 StR 46/18 –, juris Rn. 9). Die Anforderungen an die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten sind je nach Verfahrensart und Verfahrenslage unterschiedlich. Neben der Schwierigkeit des Verhandlungsgegenstands und dem jeweiligen Verfahrensstand kommt es darauf an, wie und in welchem Ausmaß der Angeklagte darin beeinträchtigt ist, die ihm in der konkreten Verfahrenssituation zu gewährenden Mitwirkungsmöglichkeiten wahrzunehmen (Eschelbach a.a.O. § 329 Rn. 15; Schneider in KK-StPO a.a.O. § 205 Rn. 9). Bei Angeklagten, deren geistige, psychische oder körperliche Fähigkeit zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte eingeschränkt ist, liegt Verhandlungsunfähigkeit nicht vor, wenn die Auswirkungen dieser Einschränkungen auf die tatsächliche Wahrnehmung der Verfahrensrechte durch Hilfen für den Angeklagten hinreichend ausgeglichen werden können. Die Grenze zur Verhandlungsunfähigkeit ist erst dann überschritten, wenn dem Angeklagten auch bei Inanspruchnahme solcher verfahrensrechtlicher Hilfen eine selbstverantwortliche Entscheidung über grundlegende Fragen seiner Verteidigung und eine sachgerechte Wahrnehmung der von ihm persönlich auszuübenden Verfahrensrechte nicht mehr möglich ist (BGH, Urteil vom 4. Juli 2018 – 5 StR 46/18 –, juris Rn. 9). Ist der Angeklagte nur bedingt verhandlungsfähig, muss das Gericht, wenn es die Hauptverhandlung durchführen will, diese so gestalten, dass der Angeklagte ihr folgen kann (Becker a.a.O. § 230 StPO Rn. 7).

b) Erscheint der Angeklagte zur Berufungshauptverhandlung in einem Zustand der Verhandlungsunfähigkeit und ist dieser Zustand nicht vom Angeklagten verschuldet, kann nicht nach § 329 Abs. 1 StPO verfahren werden (Gössel a.a.O. § 329 Rn. 7; Paul a.a.O. § 329 Rn. 4). Nur die vorsätzliche und schuldhafte Herbeiführung einer Verhandlungsunfähigkeit kann die Folge des § 329 Abs. 1 StPO nach sich ziehen, weil nur der Fall des Erscheinens des Angeklagten in einem von ihm selbst verschuldeten Zustand der Verhandlungsunfähigkeit, besonders nach Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenkonsum, der physischen Abwesenheit zu Beginn der Hauptverhandlung gleichzustellen ist (BGH, Beschluss vom 6. Oktober 1970 – 5 StR 199/70 –, BGHSt 23, 331-336, juris; KG Berlin, Beschluss vom 12. September 2000 – (4) 1 Ss 107/00 (138/00), juris; BT Drucks. 18/3562 S. 69; Gössel a.a.O. § 329 Rn. 7; Paul a.a.O. § 329 Rn. 4; Schmitt a.a.O. § 329 Rn. 18; Frisch a.a.O. § 329 Rn. 9, 46e und 46f; Brunner a.a.O. § 329 Rn. 19; Eschelbach a.a.O. § 329 Rn. 15; a.A. Deiters a.a.O. § 230 Rn. 15 ff.; zur eigenverantwortlichen Herbeiführung eines psychopathologischen Zustandes BGH, Beschluss vom 22. Mai 1991 – 2 StR 453/90 –, juris und BayObLG, Beschluss vom 24. Februar 1999 – 5St RR 237/98 –, juris Rn. 11).

c) Voraussetzung der Verwerfung der Berufung wegen verschuldeter Verhandlungsunfähigkeit ist zwingend nach § 329 Absatz 1 Satz 3 StPO, dass das Berufungsgericht einen Arzt als Sachverständigen angehört hat (BT Drucks. 18/3562 S. 69; Schmitt a.a.O. § 329 Rn. 18; Frisch a.a.O. § 329 Rn. 9 und 46h; Brunner a.a.O. § 329 Rn. 19; Paul a.a.O. § 329 Rn. 4; Eschelbach a.a.O. § 329 Rn. 15).

d) Das Verschulden muss vom Tatrichter im Urteil zweifelsfrei festgestellt werden. Bei insoweit verbleibenden Zweifeln hat der Berufungsrichter von einer sofortigen Verwerfung der Berufung abzusehen (KG Berlin, Beschluss vom 12. September 2000 – (4) 1 Ss 107/00 (138/00) –, juris Rn. 4).

e) Hat das Tatgericht Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten, darf es nicht weiterverhandeln (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2023 – 5 StR 453/23 –, juris Rn. 7; BGH, Beschluss vom 17. Juli 1984 – 5 StR 449/84 –, juris; Gmel/Peterson a.a.O. § 230 Rn. 3).“

StPO II: Beweis- oder Beweisermittlungsantrag?, oder: Beweisziel als Beweisthema

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Im zweiten Posting gibt es dann zwei Entscheidungen zum Beweisantrag, und zwar zur Abgrenzung zum Beweisermittlungsantrag. Von beiden Entscheidungen stelle ich aber nur die Leitsätze vor. Die Einzelheiten bitte aus den verlinkten Volltexten entnehmen.

Es handelt sich um folgende Entscheidungen:

Soll die beantragte Beweiserhebung erst die Benennung der Wahrnehmungszeugen zum eigentlichen Beweisthema ermöglichen, handelt es sich nicht um einen Beweisantrag, sondern lediglich um einen Beweisermittlungsantrag, über den nach den Maßstäben der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) zu befinden ist.

Wird in einem Antrag kein bestimmtes Beweismittel (bestimmte Lichtbilder) benannt, sondern lediglich das Ziel des Antrages, nämlich aus einer Vielzahl gleichartiger Beweismittel (hier: Lichtbilder und Videos) erst diejenigen zu ermitteln, die die Beweisbehauptungen bestätigen können, handelt es sich nicht um einen Beweisantrag, sondern nur um einen Beweisermittlungsantrag.

Strafe I: Bindung nach Rechtsmittelbeschränkung, oder: Regelbeispiel „Gewerbsmäßigkeit“

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Zum Wochenstart in die 45. KW gibt es hier heute zwei Entscheidungen zur Strafe bzw. zur Strafzumessung. Ich starte mit dem BayObLG, Beschl. v. 30.09.2025 – 206 StRR 320/25 – zur Bindungswirkung bei der Rechtsmittelbeschränkung.

Der Angeklagte hatte seine Berufung gegen das amtsgerichtliche Urtei, mit dem er wegen Betruges in 89 tatmehrheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren 4 Monaten verurteilt worden war auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Das BayObLG beanstandet die vom LG wegen dieser Beschränkung Bindungswirkung an die amtsgerichtlichen Feststellungen (§ 327 StPO) und hat auf die Revision des Angeklagten den Rechtsfolgenausspruch aufgehoben:

„4. Es hat allerdings verkannt, dass von der Bindungswirkung nicht die ausschließlich die Strafzumessung betreffenden Feststellungen umfasst sind. Das Landgericht hat die Feststellung des Amtsgerichts, wonach der Angeklagte gewerbsmäßig gehandelt hat, als „bindend“ angenommen (UA S. 20) und deshalb (zunächst) für jede Tat den Strafrahmen des § 263 Abs. 3 Nr. 1 StGB wegen gewerbsmäßigen Handelns angewandt. Es handelt sich bei § 263 Abs. 3 StGB aber um Regelbeispiele für das Vorliegen besonders schwerer Fälle, die zur Anwendung eines Strafrahmens veranlassen können. Sie betreffen demnach nicht die Schuldfrage, sondern lediglich den Rechtsfolgenausspruch. Nach gefestigter Rechtsprechung nehmen die entsprechenden Tatsachen, soweit sie nicht im Einzelfall doppeltrelevant sind – was hier nicht der Fall ist -, bei einer Rechtsmittelbeschränkung auf die Rechtsfolge an der Bindungswirkung nicht teil. Dies gilt insbesondere für die „Gewerbsmäßigkeit“ (BGH, Beschluss vom 20. Juni 2017, 1 StR 458/16, wistra 2018, 133-136; BayObLG, Beschluss vom 12. Juli 2021, 202 StRR 37/21, juris Rn. 7 ff.; OLG Hamm, Beschluss vom 2. April 2024, III-3 ORs 18/24, juris; vgl. auch Schmitt/Köhler/Schmitt, StPO, 68. Aufl. 2025, § 327 Rn. 6 a.E. m.w.N).

5. Da das Landgericht – aus seiner Sicht folgerichtig – keine diesbezüglichen eigenen Feststellungen getroffen hat, beruht die Annahme jeweils besonders schwerer Fälle des Betruges auf diesem Rechtsfehler. Zwar hat das Landgericht erkannt, dass es sich bei § 263 Abs. 3 StGB um Regelbeispiele handelt, von denen im Einzelfall abgewichen werden kann. Im Ausgangspunkt hat es sich aber auf die – nicht selbst festgestellte – „Gewerbsmäßigkeit“ gestützt.

6. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die festgesetzten Einzelstrafen von jeweils 7 Monaten und damit auch die Gesamtstrafe auf dem Rechtsfehler beruhen. Zwar hat das Landgericht den Strafrahmen des § 263 Abs. 3 StGB auf Grund des erfolgten Täter-Opfer-Ausgleichs gem. §§ 46a, 49 Abs. 1 StGB gemildert, womit die Strafuntergrenze wieder auf das gesetzliche Mindestmaß gesenkt wurde (§ 49 Abs. 1 Nr. 3 letzte Alt. StGB). Das angedrohte Höchstmaß lag in der landgerichtlichen Rechtsanwendung gem. § 49 Abs. 2 StGB jedoch bei 7 Jahren und 6 Monaten, während es ohne die Annahme eines besonders schweren Falles 3 Jahre und 9 Monate betragen hätte. Da sich die Einzelstrafen deutlich vom gesetzlichen Mindestmaß entfernen, kann der Senat nicht ausschließen, dass ihr Verhältnis zum vorgenannten Höchstmaß bei der Strafzumessung relevant war.“

Und dann gibt es gleich noch eine „Segelanweisung“:

„Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass bei Betrugsdelikten, bei denen die Geringwertigkeitsgrenze nur in geringem Umfang überstiegen wird, die Anwendung des erhöhten Strafrahmens des § 263 Abs. 3 StGB ohne das Hinzutreten besonderer Umstände in der Regel nicht zu rechtfertigen ist (BayObLG, Beschluss vom 20. Juni 2023, 207 StRR 157/23, BeckRS 2023, 21112, Rn. 8 m.w.N.). Vorliegend hat der Angeklagte 89-mal einen Betrugsschaden von jeweils 79 Euro verursacht. Der Senat bezweifelt, dass vorliegend die strafschärfenden Umstände, insbesondere die 12 Jahre zurückliegende Verurteilung zu einer Vollzugsstrafe wegen gleichgelagerter Taten, als solche „besonderen Umstände“ gewürdigt werden können.“