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Heute dann mal wieder Pflichtverteidigungsentscheidungen – verbunden mit einem herzlichen Dankeschön an alle Einsender.
Ich beginne mit dem Dauerbrenner „Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung“ , gekoppelt mit der Frage: Welche Auswirkungen hat es, wenn der Beschuldigte einen Wahlanwalt hat.
Zu den Fragen drei Entscheidungen, und zwar den LG Neubrandenbrug, Beschl. v. 30.07.2021 – 23 Qs 86/21-, den LG Stralsund, Beschl. v. 23.08.2021 – 26 Qs 161/21 – und den AG Torgau, Beschl. v. 03.08.2021 – 5 Gs 163/21. Beide LG und das AG haben die nachträgliche Bestellung als zulässig angesehen.
Ich stelle hier aber mal nur die Gründe des Beschlusses des LG Neubrandenburg ein, weil die sich auch noch zu § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO verhalten:
„Gemäß § 140 Abs. 1 Ziff. 2 StPO liegt jedoch ein Fall der notwendigen Verteidigung deshalb vor, weil Gegenstand des Verfahrens ein versuchtes Verbrechen gemäß § 306 StGB gewesen ist. Dieser Tatvorwurf ist im Sinne des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO eröffnet worden. Im Gegensatz zur nicht ganz eindeutigen, wohl im nachfolgenden Sinne auszulegenden Auffassung in der Kommentierung von Schmitt (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64.A, Rdr. 3 zu § 141) ist der Begriff der Eröffnung des Tatvorwurfes nicht so eng auszulegen, dass nur förmliche Mitteilungen über die Bekanntgabe eines Ermittlungsverfahrens im Sinne von § 163 a StPO – oder § 136 StPO – im Rahmen einer Beschuldigtenvernehmung hinreichend sind. Die in der Kommentierung genannten Fundstelle (BT-Drucks 19/13829 S 35) bezieht sich auf die Richtlinie 2013/48 EU. Diese setze voraus, dass die beschuldigte Person durch „amtliche Mitteilung oder auf sonstige Weise Kenntnis“ von der Verdächtigung der Begehung einer Straftat erhalten habe, womit Anträge aufgrund der Vermutung bestehender Ermittlungen unzulässig seien. Dem lässt sich entnehmen, dass nach Auffassung des Gesetzgebers Voraussetzung für die Möglichkeit der Antragstellung die Konfrontation von amtlicher Seite mit dem Tatvorwurf notwendige, aber auch hinreichende Voraussetzung ist. Ob der Begriff „auf sonstige Weise“ auch die Inkenntnissetzung durch Dritte – etwa durch Mitbeschuldigte, deren Verteidiger Akteneinsicht hatten – mit umfasst, kann dahinstehen, erscheint aber eher fraglich (vgl. Krawczyk, Beck StPO § 141 Rdr. 4; weitergehend auf die bloße Kenntnis des Beschuldigten abstellend LG Magdeburg 25 Qs 233 Js 9703/19 (65/20), 25 65/20)
Der Tatverdacht wurde dem Beschuldigten noch am 16.3.2021 durch die Polizeibeamten mitgeteilt, der Verteidiger wurde noch in der Nacht informiert, nach Aktenlage wohl auch darüber, dass eine Ingewahrsamnahme erfolgt und möglicherweise eine richterliche Vernehmung anstehe. Dies ist jedenfalls im Sinne des § 141 Abs. 1 StPO eine amtliche Mitteilung.
Da die Neufassung der Vorschriften über die Pflichtverteidigerbestellung eine zeitnahe Beiordnung eines Verteidigers ermöglichen soll, ist nach Auffassung der Kammer in der Regel die vorläufige tatbestandliche Einordnung im Zeitpunkt des Tatvorwurfes oder zumindest im Zeitpunkt der Antragstellung maßgebend.
Zu beiden Zeitpunkten war der Vorwurf der versuchten Brandstiftung Gegenstand des Ermittlungsverfahrens.
Sofern man die Meinung vertreten will, die rechtlich zutreffende Einordnung sei maßgebend, würde dies im Ergebnis nichts ändern. Der bisher ermittelte Sachverhalt ergibt nach Auffassung der Kammer Tatverdacht in Bezug auf eine versuchte Brandstiftung. Mit dem Übergießen mit Benzin, dem Anbringen benzingetränkter Tücher unter den Wischerblättern und dem Beisichführen von Feuerzeugen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nach den Tätervorstellungen ein Zeitpunkt erreicht, dem die Inbrandsetzung unmittelbar folgen soll, vorausgesetzt die Feuerzeuge waren funktions-tüchtig griffbereit mitgeführt (vgl. die Erwägungen in BGH 3 StR 28/06).
3. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO. Zum einen bezieht sich die Ausnahmevorschrift nur auf die Fälle, in denen unabhängig von einem Antrag von Amts wegen ein Pflichtverteidiger beizuordnen wäre, zum anderen haben sich die Untersuchungshandlungen nicht in der Einholung von Registerauskünften und der Beiziehung von Akten erschöpft. Es wurden nämlich versucht, eine Zeugenaussage einzuholen, eine Beschlagnahme wurde richterlich bestätigt und ein KTU-Antrag vorbereitet.
Nach dem Verfahrenslauf kann auch von einer Absicht, das Verfahren „alsbald“ einzustellen nicht ausgegangen werden.
4. Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens steht der – nachträglichen – Beiordnung nicht entgegen……
…. Jedenfalls in der vorliegenden Fallkonstellation ist davon auszugehen, dass aufgrund des Gesetzes zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 und des nunmehr ausdrücklich konstituierten Unverzüglichkeitsgebots des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO bei dessen Missachtung eine rückwirkende Bestellung möglich ist, wobei im Fall einer Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO auch zu bedenken ist, dass ein eingestelltes Ermittlungsverfahren jederzeit wieder aufgenommen werden kann.
Das zum früheren Recht vorgebrachte Argument der Obergerichte, die Beiordnung diene nicht „fiskalischen Interessen“, sondern nur der Gewährleistung der Verteidigungsmöglichkeit, solange diese notwendig erscheint, greift jedenfalls bei der nunmehr geänderten Rechtslage nicht mehr. Zum einen ist die Gesetzesänderung in der Umsetzung einer EU-Richtlinie erfolgt, die die finanziellen Möglichkeiten des Beschuldigten als eine wichtige Voraussetzung für die Beiordnung erachtet, zum anderen ist der Gesamtzusammenhang der Regelungen nunmehr auf schnellstmögliche Umsetzung des Anspruchs auf Beiordnung eines Verteidigers gerichtet, wie auch die Tatsache zeigt, dass das zuvor gültige Rechtsmittel der einfachen Beschwerde nunmehr durch das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde ersetzt worden ist. Bei gesetzeskonformer Handhabung der einschlägigen Vorschriften tritt das Problem der nachträglichen Beiordnung nur noch in Ausnahmefällen auf, die nicht gesetzeskonforme Handhabung durch die Ermittlungsbehörden bedarf der Korrektur durch die Eröffnung der Möglichkeit nachträglicher Beiordnung (vgl. zur aktuellen Rechtslage mit im wesentlichen gleicher Auffassung OLG Nürnberg Ws 962/20; OLG Bamberg, 1 Ws 260/21; LG Hamburg 604 Qs 6/21; LG Bochum 11-10 Qs – 36 Js 596/19 – 6/20; LG Aurich 12 Qs 78/20; unentschlossen Meyer-Goßner/Schmitt § 142, Rdr. 20; die nachträgliche Beiordnung weiterhin ablehnende Entscheidungen beziehen sich überwiegend nicht auf solche einer Beantragung nach § 141 Ab. 1 Satz 1, etwa OLG Hamburg StraFo 2020, 486; die bei Mey-er-Goßner/Schmitt benannte Entscheidung des OLG Brandenburg NStZ 2020, 625 bezieht sich zudem entgegen der dortigen Ausführungen auf die vor dem 10.12.2019 geltende Rechtslage).“
Und zum „Einwand“: Du hast ja einen Wahlanwalt führt das LG Neubrandenburg aus:
„5. Dass der Beschuldigte durch den Wahlverteidiger „ausreichend vertreten“ wurde, ist auch nach der neuen Rechtslage entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft nach dem Willen des Gesetzgebers ohne Relevanz.
Dazu BT-Drucks 19/13829, S 36: „Außerdem ist Grundvoraussetzung für die Antragstellung, dass der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat oder der gewählte Verteidiger bereits mit dem Antrag ankündigt, das Wahlmandat mit der Bestellung niederzulegen. Damit soll der Vorrang der Wahlverteidigung (vgl. § 141 Absatz 1 StPO-E) aufrechterhalten werden.“
Der Verteidiger hat die Niederlegung des Wahlmandates für den Beiordnungsfall zumindest im Schriftsatz vom 18.5.2021 angekündigt, es ist aber von einer dahingehenden konkludenten Erklärung bereits im Schriftsatz vom 27.4.2021 auszugehen.“
Ganz anders zum letzten Punkt dann der AG Rostock, Beschl. v. 24.08.2021 – 23 Ds 161/21, der mich – gelinde ausgedrückt – etwas ratlos zurücklässt. Am AG Rostock scheint die Rechtsprechung der letzten Zeit vorbei gegangen zu sein bzw.: Man hätte sich ja mal zur Frage der konkludenten Niederlegung äußern können:
„Vorliegend beantragte der Verteidiger zwar seine unverzügliche Beiordnung als Pflichtverteidiger, kündigte jedoch nicht an, im Fall der Bestellung das Wahlmandat niederlegen zu wollen. Da der Angeschuldigte somit im Zeitpunkt der Antragstellung am 07.05.2021 bereits einen Verteidiger hatte, war eine unverzügliche Verteidigerbestellung auf Antrag nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht erforderlich, da gerade nicht alle Voraussetzungen der Vorschrift vorlagen.“