Archiv der Kategorie: Rechtsmittelverfahren

WE II: Closed Shop beim AG wegen Karneval(sfeier)?, oder: Das zu eilige Amtsgericht

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, kommt aus Bayern. Das BayObLG hat im BayObLG, Beschl. v. 12.09.2024 – 201 ObOWi 837/24 – zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Verweigerung der Aufnahme der Rechtsbeschwerdebegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle Stellung genommen. Ergangen ist die Entscheidung in einem Bußgeldverfahren, sie hat aber in allen Fällen Bedeutung, in denen ein Rechtsmittel zu Protokoll der Geschäftsstelle begründet werden kann, also auch im Strafverfahren.

Das AG hatte den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Der Betroffene hat gegen das in seiner Anwesenheit verkündete Urteil form- und fristgerecht Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gestellt. Das vollständige Urteil wurde ihm am 10.01.2024 zugestellt. Am Rosenmontag, den 12.02.2024 hat das AG den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen, da das Rechtsmittel nicht innerhalb der Monatsfrist begründet worden sei. Gegen diesen Beschluss hat der Betroffene die Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Das BayObLG hat dem Betroffenen Wiedereinsetzung gewährt, seinen Zulassungsantrag aber verworfen:

„Dem Betroffenen ist auf seinen Antrag hin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde zu bewilligen (§ 44 Satz 1 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG), da er ohne eigenes Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist gehindert war.

1. Nach dem Vortrag des Betroffenen, welcher ausreichend glaubhaft gemacht wurde (§ 45 Abs. 2 Satz 1 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG), ist von folgendem Sachverhalt auszugehen:

Das Amtsgericht hatte sowohl im Internet als auch durch ein Schild am Eingang des Gerichts die Sprechzeiten der Geschäftsstelle mit 8:00 Uhr bis 12:00 Uhr angegeben. Am 12.02.2024, dem letzten Tag der Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, um 11:49 Uhr war der Betroffene bei Gericht erschienen, um seinen Antrag zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts zu begründen. Dort teilte man ihm mit, dass die zuständige Stelle nur bis 11:30 Uhr geöffnet hatte. Ein Bediensteter erklärte um 11:54 Uhr nochmals ausdrücklich, die Begründung des Betroffenen werde heute nicht mehr protokolliert, da die Geschäftsstelle geschlossen habe. Der Betroffene solle am nächsten Tag wiederkommen. Eine Protokollierung der Antragsbegründung des Betroffenen am 12.02.2024 erfolgte deshalb nicht.

2. Der form- und fristgerecht (§ 45 Abs. 1 StPO; § 46 Abs. 1 OWiG) zu Protokoll der Geschäftsstelle des Amtsgerichts gestellte Wiedereinsetzungsantrag des Betroffenen führt zur Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in die versäumte Frist zur formgerechten Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil vom 14.12.2023.

Die verspätete Begründung beruhte auf einem Justizverschulden, weil das Amtsgericht deren fristgerechte Aufnahme zu Unrecht abgelehnt hatte. In einem solchen Fall ist dem Betroffenen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (Meyer Goßner/Schmitt StPO 67. Aufl. § 345 Rn. 22 m.w.N).

a) Art. 19 Abs. 4 GG garantiert die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes. Davon umfasst ist zum einen das formelle Recht, überhaupt Gerichte einschalten zu können. Zum anderen ist die Effektivität des Rechtsschutzes und der gerichtlichen Kontrolle selbst Teil des Gewährleistungsgehalts des Art. 19 Abs. 4 GG (st. Rspr. vgl. nur BVerfGE 35, 263, 274; 40, 272, 275; 67, 43, 58; 84, 34, 49). Auch der Anspruch eines Betroffenen auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) ist berührt. Der Zugang zu einer gerichtlichen Entscheidung in der Sache darf daher – vorbehaltlich verfassungsunmittelbarer Schranken – in keinem Fall ausgeschlossen, faktisch unmöglich gemacht oder in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (BVerfGE 40, 272, 174; 44, 302, 305). Zulässig ist es lediglich, den Zugang zu den Gerichten von der Erfüllung formeller Voraussetzungen, insbesondere von der Einhaltung bestimmter Fristen, abhängig zu machen (BVerfGE 9, 194, 199; 10, 264, 267). Die Anforderungen, die an den Rechtsschutzsuchenden dabei gestellt werden, dürfen nicht überspannt werden (BVerfGE 25, 158, 166; 26, 315, 318; 31, 388, 390). Prozessuale Fristen dürfen deshalb bis zu ihrer Grenze ausgenutzt werden (BVerfGE 40, 42, 44; 41, 323, 328; 52, 203, 207; 69, 381, 385). Dass ein Betroffener bis zum letzten Tag der Frist abwartet, ehe er eine fristgebundene prozessrechtliche Erklärung abgibt, kann ihm daher grundsätzlich nicht vorgeworfen werden. Lediglich dann, wenn ihm hinsichtlich der Fristversäumnis ein Verschulden zur Last liegt, kann ihm diese vorgehalten werden, mit der Folge, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweigert werden kann. Er hat beispielsweise den Aufwand zu kalkulieren, der zeitlich und organisatorisch erforderlich ist, damit die Rechtsmittelerklärung in der gesetzlich vorgeschriebenen Form innerhalb der Frist gegenüber der zuständigen Stelle abgegeben wird (st. Rspr. vgl. zuletzt BVerfG, Kammerbeschl. v. 14.02.2023 – 2 BvR 653/20 bei juris = NStZ-RR 2023, 145; BayObLG, Beschl. v. 05.06.2024 – 204 StObWs 223/24 bei juris = NStZ-RR 2024, 296). Das Recht eines Rechtsmittelführers, ein Rechtsmittel zu Protokoll der Geschäftsstelle zu begründen, besteht wiederum nur innerhalb der normalen Dienststunden, wobei der Betroffene den begrenzten personellen Möglichkeiten der Justiz Rechnung zu tragen hat (BGH, Beschl. V. 06.03.1995 – 2 StR 683/95 bei juris = NStZ 1996, 353 = BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 9 = StV 1997, 230). In diesem Zusammenhang kann er nicht erwarten, dass der Rechtspfleger während seiner gesamten Dienststunden für die Prüfung der Rechtsmittelbegründung zur Verfügung steht. Zu berücksichtigen bleibt insoweit das Interesse der Allgemeinheit an der Gewährleistung einer funktionstüchtigen, nicht allein auf eine Person fokussierten Rechtspflege (BGH, Beschl. v. 27.11.2008 – 5 StR 496/08 bei juris = NStZ 2009, 585 = StraFo 2009, 23). Auch besteht kein Anspruch darauf, dass bei später Antragstellung allein wegen des bevorstehenden Fristablaufs überobligatorische Tätigkeiten außerhalb des normalen Geschäftsganges entfaltet werden, um die Einhaltung von Fristen zu gewährleisten. Die gesetzlich vorgeschriebene Rechtsmittelfrist beinhaltet nämlich keine reine Bedenkzeit, sondern umfasst zugleich die Zeitspanne, die dem Betroffenen je nach den Umständen zur Erledigung des rein technischen Vorgangs der Rechtsmitteleinlegung und -begründung verbleibt. Es wird deshalb von einem Betroffenen erwartet, dass er seinerseits alles ihm Zumutbare veranlasst, um die rechtzeitige Protokollierung des Rechtsmittels sicherzustellen (OLG Hamm, Beschl. v. 28.05.2015 – 1 Vollz (Ws) 248/15 bei juris = NStZ-RR 2015, 327).

b) Dies zugrunde gelegt haben die Justizbehörden zu Unrecht die rechtzeitige Aufnahme der Rechtsmittelbegründung des Betroffenen am 12.02.2024 verweigert, ohne dass diesen ein Verschulden daran träfe, dass er erst am letzten Tag der First 11 Minuten vor Ende der veröffentlichten Sprechzeit der Geschäftsstelle erschienen war.

aa) Angesichts der öffentlich bekannt gemachten Sprechzeiten der Geschäftsstelle des Amtsgerichts, in denen nicht auf die Möglichkeit einer Verkürzung hingewiesen worden war, stellte es ein Justizverschulden dar, die Geschäftsstelle vorzeitig und ohne Ankündigung zu schließen. Auf die veröffentlichten Dienstzeiten durfte die rechtsuchende Bevölkerung vertrauen. Der Betroffene war deshalb nicht verpflichtet, sich vorsichtshalber noch einmal nach ihnen zu erkundigen. Indem diese verkürzt wurden, wurde der Zugang Rechtssuchender zu einer gerichtlichen Sachentscheidung in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise eingeschränkt.

bb) Ein Verschulden des Betroffenen kann auch nicht aus dem Umstand hergeleitet werden, dass die Schließung der Geschäftsstelle und die Weigerung der Protokollierung der Rechtsmittelbegründung durch den Umstand veranlasst waren, dass die zuständigen Bediensteten befürchteten, eine solche werde erst nach 12:00 Uhr und damit zu einem Zeitpunkt abgeschlossen werden können, der außerhalb der öffentlich bekannt gemachten Sprechzeiten der Geschäftsstelle lag. Hierauf musste sich der Betroffene nicht einstellen, was den Zeitpunkt seines Erscheinens betraf.

Zum einen wollte der Betroffene lediglich die allgemeine Sachrüge erheben und insbesondere das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung geltend machen. Anders als in den höchstrichterlich (BGH NStZ 1996, 353; 2009, 585) entschiedenen Fällen waren vorliegend gerade keine komplexen Verfahrensrügen zu protokollieren. Dafür, dass die Aufnahme einer einfach gelagerten Erklärung nicht binnen weniger Minuten möglich gewesen wäre, bestehen bereits keine Anhaltspunkte.

Zum anderen hätte es dem Rechtspfleger des Amtsgerichts oblegen, die die Sachrüge beinhaltende Rechtsmittelbegründung des Betroffenen auch dann zu protokollieren, wenn absehbar gewesen wäre, dass er den Vorgang nicht bis exakt 12:00 Uhr würde abschließen können. In einem Fall in welchem der verfassungsrechtlich verbürgte Justizgewährleistungsanspruch des Staates einerseits und der Wunsch des zuständigen Rechtspflegers an der pünktlichen Einhaltung seiner Dienstzeit andererseits inmitten stehen, führt die Abwägung der gegenläufigen Interessen zu dem Ergebnis, dass dem Rechtspfleger die Aufnahme einer Erklärung auch dann zumutbar ist, wenn dies mit einer geringfügigen Verlängerung seiner Arbeitszeit an dem konkreten Tag verbunden wäre. Anders als in dem vom OLG Hamm (a.a.O.) entschiedenen Fall wäre vom Rechtspfleger gerade keine überobligatorische Tätigkeit außerhalb des normalen Geschäftsganges erwartet worden, sondern lediglich eine überschaubare Dienstzeitüberschreitung inmitten gestanden. Insoweit besagt die Entscheidung gerade nicht, dass die Justizbehörden zu keinerlei Überschreitung der Dienstzeit verpflichtet sind, um den Rechtsschutz rechtsuchender Personen zu gewährleisten. Vielmehr handelt es um eine Frage der Zumutbarkeit staatlichen Verhaltens im Einzelfall. In diesem Zusammenhang mag es bei wertender Betrachtung unzumutbar erscheinen, vom Rechtspfleger zu verlangen, sich zur Protokollierung einer fristgebundenen Erklärung in eine weit entfernte Justizvollzugsanstalt begeben zu müssen oder neben der Sachrüge komplexe Verfahrensrügen zu formulieren, die eine intensive Einarbeitung in den Fall erfordern. So liegt der Fall jedoch nicht. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass der Zugang zum Rechtsschutz lediglich von der Formulierung einer einfachen Sachrüge abhängig war. Weder im Hinblick auf die Arbeitsfähigkeit der Justiz noch im Hinblick auf die finanziellen Interessen des Staates wegen eventuell anfallenden Überstunden oder persönliche Interessen der Bediensteten an einem pünktlichen Dienstschluss war im vorliegenden Fall die Aufnahme der Rechtsmittelbegründung des Betroffenen unzumutbar.“

Die Entscheidung wird Rechtspfleger, die mit der in § 345 Abs. 2 StPO eingeräumten Möglichkeit der Aufnahme der Begründung einer Revision/Rechtsbeschwerde zu Protokoll der Geschäftsstelle betraut sind, nicht freuen, denn ggf. rückt der pünktliche Feierabend in – etwas weitere – Ferne, und das ggf. noch an Rosenmontag. Andererseits ist dem BayObLG Recht zu geben, dass bei der bloßen Aufnahme einer Sachrüge die Zeitverzögerung nicht allzu groß sein kann. Komplexe Verfahrensrügen, die eine intensive Einarbeitung in den Fall erfordern, werden von der Entscheidung ausdrücklich nicht erfasst.

Abgesehen davon: Man scheint es bei dem betroffenen AG eh besonders eilig gehabt zu haben. Denn das AG hat den Zulassungsantrag des Betroffenen nämlich noch vor Ablauf der Begründungsfrist verworfen. Das Urteil vom 14.12.2023 war dem Betroffenen am 10.01.2024 zugestellt worden. Gemäß § 345 Abs. 1 StPO i.V.m. § 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG beträgt die Begründungsfrist einen Monat nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels (§ 345 Abs. 1 Satz 1 StPO). Damit begann die Begründungsfrist nach Zustellung des Beschlusses am 10.1.2024 zu laufen und endete, da es sich beim 10.02.2024 um einen Samstag handelte, gemäß § 43 Abs. 2 StPO erst mit Ablauf des folgenden Montags, mithin am 12.02.2024. An dem Tag ist aber der Zulassungsantrag bereits verworfen worden. Das BayObLG hat nach Gewährung von Wiedereinsetzung daher zur Klarstellung festgestellt, dass der Beschluss des AG vom 12.2.2024 gegenstandslos ist.

 

StPO II: Neues Beweismittel für die Wiederaufnahme?, oder: Zeuge kann nur per Video vernommen werden

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

In der zweiten Entscheidung, dem OLG Zweibrücken, Beschl. v. 23.09.2024 – 1 Ws 274/23 – geht es noch einmal um die Wiederaufnahme (§§ 359 ff. StPO). Dazu hatte ich ja neulich schon ein paar Entscheidungen vorgestellt.

In dem OLG-Beschluss hat das OLG zur Eignung eines neuen Beweismittels im Sinne von § 359 Nr. 5 StPO Stellung genommen. Gestritten wird um die Eignung eines als Zeuge benannten früheren Mitangeklagten als neues Beweismittel, wenn der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht unmittelbar, sondern lediglich per Videokonferenz vernommen werden kann. Das OLG hat die Eignung im Sinne von § 359 Nr. 5 StPO verneint, wenn die frühere, nunmehr teilweise widerrufene Einlassung durch gewichtige Indizien gestützt werden. Dazu das OLG:

„3. Dies allein reicht jedoch nicht aus. Die Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrages setzt auch voraus, dass das Beweismittel geeignet ist, die Freisprechung oder die geringere Bestrafung des Beschwerdeführers herbeizuführen. Zu diesem Zweck hat sich die Prüfung nicht allein auf die Schlüssigkeit des Antragsvorbringens zu beschränken. Es ist vielmehr auch eine gewisse Wertung der Beweiskraft der angebotenen Beweismittel vorzunehmen (vgl. BGH, NJW 1977, 59 = JR 1977, 217; OLG Braunschweig, NStE Nr. 5 zu § 359 StPO = NStZ 1987, 377 (378); OLG Nürnberg, MDR 1964, 171; OLG Köln, NJW 1963, 967; KG, JR 1975, 166; Gössel, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 368 Rdnr. 22; KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl. 2023, StPO § 368 Rn. 5). Denn um festzustellen, ob neue Beweismittel geeignet sind, eines der in § 359 Nr. 5 StPO genannten Ziele zu erreichen, ist zu prüfen, ob die Schuldfrage vom Standpunkt des erkennenden Gerichts anders entschieden worden wäre, wenn die neuen Beweismittel dem Gericht bekannt gewesen wären (vgl. Kleinknecht-Meyer, § 368 Rdnr. 9). Dabei sind sie zu dem gesamten Inhalt der Akten und den früheren Beweisergebnissen in Beziehung zu setzen (vgl. OLG Braunschweig, NStZ 1987, 377; KG, JR 1975, 166; Kleinknecht-Meyer, § 368 Rdnr. 9). Ist das Beweismittel ein Zeuge, so ist zu unterstellen, dass er so aussagen werde, wie es der Beschwerdeführer behauptet, nicht aber auch, dass die Tatsachen zutreffen, die der Zeuge bekunden soll (vgl. OLG Karlsruhe, OLGSt § 368 OLGSt S. 2; Gössel, in: Löwe-Rosenberg, § 368 Rdnr. 22; KK-StPO/Tiemann StPO § 368 Rn. 9; Paulus, in: KMR, StPO, § 368 Rdnr. 10). Gleiches ist anzunehmen, wenn das Geständnis eines Mitverurteilten nachträglich (teilweise) widerrufen wird. Der Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO zielt auf eine Erschütterung des den Urteilsfeststellungen zugrundeliegenden Beweisgebäudes in seiner Gesamtheit, weshalb eine Gesamtbetrachtung der Beweislage daher unabdingbar ist; der Normwortlaut legt die Zulässigkeit dieser Vorgehensweise nahe („in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen“) (MüKoStPO/Engländer/Zimmermann StPO § 368 Rn. 31).

Das Landgericht Kaiserslautern hat sich in dem Beschluss vom 30.10.2023 ausführlich mit der Vereinbarkeit des geänderten Aussageverhaltens des Mitverurteilten C. mit der im Übrigen aus dem Urteil des Landgerichts Koblenz und dem sonstigen Akteninhalt zu entnehmenden Beweislage auseinandergesetzt. Das Landgericht führt dazu wie folgt aus:

„Die insoweit getroffenen Feststellungen (im Einzelnen s. S. 50 ff. d. Urteils) begründen sich dabei nicht ausschließlich auf der geständigen Einlassung des damaligen Mitangeklagten C. Es ist der Verteidigung zwar zuzustimmen, dass die Feststellungen des Landgerichts Koblenz, soweit es die Abrede zwischen dem Antragsteller und seinem ehemaligen Mitangeklagten C. betrifft, unter anderem auf dessen geständiger Einlassung beruhen. Diese Einlassung wird jedoch durch zahlreiche Indizien gestützt, die mit der geänderten Aussage des ehemaligen Mitangeklagten C. gerade nicht in Einklang zu bringen wären. Diese Indizien bestätigen nicht nur die Feststellungen zu einer Scheinrechnungsabrede bereits ab Mai 2014 und den Umstand, dass den Rechnungen keine Leistungen zugrunde lagen, sondern auch den Umstand, dass der Antragsteller an seine Arbeitnehmer (Teil-)Schwarzlöhne auszahlte und in der Folge keine Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeträge zur Sozialversicherung leistete und sowohl die Lohn- als auch Umsatzsteuern hinterzog. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass allein das geänderte Aussageverhalten des ehemaligen Mitangeklagten C. zu Feststellungen des erkennenden Gerichts geführt hätte, die den beabsichtigten Teilfreispruch zur Folge hätten.

Dies ergibt sich aus Folgendem:….“

Die weiteren Einzelheiten zum konkreten Fall dann bitte selbst lesen.

StPO III: Bindungswirkung an Geständnis I. Instanz, oder: Zumindest Fair-Trial beim Landgericht

Bild von Annette auf Pixabay

Und zum Tagesschluss etwas vom OLG Naumburg. Das hat im OLG Naumburg, Beschl. v. 24.09.2024 – 1 ORs 112/24 – zur „Bindungswirkung“ an ein erstinstanzliches Geständnis in den Verständigungsfällen Stellung genommen.

„Das AG hatte den Angeklagten, gestützt auf dessen geständige Einlassung, u.a. wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Gegen dieses Urteil haben sich der Angeklagte mit zunächst unbeschränkter Berufung sowie die Staatsanwaltschaft mit einer auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Berufung gewendet. Im Berufungshauptverhandlungstermin beim LG beschränkte der Angeklagte seine Berufung ebenfalls auf den Rechtsfolgenausspruch. Daraufhin änderte das LG unter Annahme einer beiderseitigen wirksamen Beschränkung der Berufung den Rechtsfolgenausspruch des AG-Urteils ab und verurteilte den Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte. Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Angeklagten. Diese hatte mit der Sachrüge Erfolg:

„Die Revision des Angeklagten hat bereits mit der Sachrüge Erfolg und führt zur Aufhebung des Urteils.

Die Beschränkung der Berufung der Staatsanwaltschaft auf den Rechtsfolgenausspruch war nicht wirksam, so dass das Landgericht nicht über alle Teile des amtsgerichtlichen Urteils entschieden hat, die seiner Prüfungskompetenz unterlagen.

Die Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung hatte der Senat von Amts wegen im Freibeweis zu prüfen (vgl. KG Berlin, Urteil vom 17. August 2022 – (3) 161 Ss 129/22 (44/22) – , Rn. 14; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 16. Juni 2021 – 206 StRR 226/21 – , Rn. 4, 8; OLG Celle, Beschluss vom 23. November 2020 – 3 Ss 48/20 – , Rn. 23; jeweils zitiert nach juris; Paul in Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Auflage, § 318 Rn. 11 m. w. N).

Aufgrund der substanziierten Angaben des Angeklagten in seiner Revisionsbegründungsschrift, denen die Staatsanwaltschaft nicht entgegengetreten ist, der mit der Revisionsgegenerklärung der Staatsanwaltschaft mitgeteilten Erklärung des erstinstanzlichen Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft, die mit den Angaben des Angeklagten (jedenfalls soweit es die Absprache der Verhängung einer Gesamtstrafe unter Einbeziehung von Vorstrafen betrifft) in Einklang steht, sowie der im Protokoll festgehaltenen Vorgänge in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung geht der Senat davon aus, dass vor der erstinstanzlichen Hauptverhandlung zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten eine – wenn auch informelle und damit unzulässige – Verständigung jedenfalls dahingehend getroffen worden ist, dass für den Fall eines Geständnisses des Angeklagten unter Einbeziehung der Strafen aus den Urteilen des Amtsgerichts Köthen vom 3. Mai 2023 und vorn 19. Oktober 2022 eine Gesamtfreiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr und neun Monaten verhängt wird.

Die Staatsanwaltschaft war durch die vorangegangene Verständigung nicht an der Einlegung der Berufung gehindert (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 22. November 2017 – 111-1 RVs 79/17 -, Rn. 16; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Auflage, vor § 312 Rn. 1e).

Jedoch hat die Staatsanwaltschaft ausweislich der Berufungsbegründung mit ihrer Berufung das Ziel verfolgt, die verhängten Einzelstrafen zu erhöhen und von der Gesamtstrafenbildung mit den erwähnten Strafen aus den vorangegangenen Urteilen abzusehen. Dieses verfolgte Ziel bedeutete für den Angeklagten in jedem Fall eine Überschreitung des Verständigungsstrafrahmens. Denn mit dem Urteil des Amtsgerichts Köthen vom 3. Mai 2023 war unter Einbeziehung der Strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Köthen vom 19. Oktober 2022 eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verhängt worden. Selbst bei Beibehaltung der erstinstanzlich verhängten beiden Einzelstrafen von vier und fünf Monaten hätte aus diesen zwingend eine Gesamtfreiheitsstrafe gebildet werden müssen, mit der sich ohne die Bildung einer Gesamtstrafe mit den Strafen aus den genannten Vorverurteilungen die Gesamthöhe der Strafen gegenüber der nach dem Inhalt der Verständigung höchstmöglichen, aus allen Strafen gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe erhöht.

Das erstinstanzlich aufgrund einer getroffenen Verständigung erfolgte Geständnis des Angeklagten darf in der Berufungsinstanz aber jedenfalls dann nicht verwertet werden, wenn – wie hier – das Berufungsgericht den Angeklagten zu einer Strafe über der erstinstanzlich vereinbarten Strafobergrenze verurteilten will. Denn der Schutz des Angeklagten, welcher in dem Grundsatz des fairen Verfahrens (Art 6 Abs. 1 S. 1 EMRK) manifestiert ist, verlangt, dass ein verständigungsbasiertes Geständnis bei einer fehlgeschlagenen Verständigung unverwertbar ist, weil er dieses im Vertrauen auf die Einhaltung der vereinbarten Strafobergrenze abgelegt hat (BGH, Beschluss vom 17. Februar 2021 – 5 StR 484/20 BGHSt 66, 37-48, Rn. 20; OLG Hamm, Beschluss vom 22. November 2017 – 111-1 RVs 79/17 Rn. 19; OLG Naumburg, Urteil vom 16. März 2017 2 Rv 3/17 -, Rn. 7; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 6. Oktober 2010 – 111-4 RVs 60/10 -, Rn. 12; jeweils zitiert nach juris; Meyer-Goßner/Schmitt a. a. O.).

Das Verbot, das Geständnis zu verwerten, führt hier dazu, dass Schuldspruch und Rechtsfolgenausspruch rechtlich und tatsächlich nicht mehr selbstständig beurteilt werden können (vgl. OLG Hamm a. a. O. Rn. 20; OLG Naumburg a. a. O. Rn. 8; KG Berlin, Beschluss vom 7. Oktober 2020 – (4) 161 Ss 121/20 (166/20) – , Rn. 9; zitiert nach juris; Meyer-Goßner/Schmitt a. a. O.). Dem fair-trial-Grundsatz widerspräche es, wenn Gericht, Staatsanwaltschaft und Angeklagter sich – sei es unter den Voraussetzungen des § 257c StPO oder im Rahmen einer unzulässigen informellen Absprache – auf einen bestimmten Strafrahmen verständigt hätten, der Angeklagte mit Rücksicht darauf ein Geständnis abgibt, das Gericht absprachegemäß verurteilt, die Staatsanwaltschaft sodann aber gegen das Urteil Rechtsmittel mit dem Ziel einer höheren Bestrafung einlegt, welche dann – letztlich auf der Grundlage des erstinstanzlichen Geständnisses – erfolgt (OLG Düsseldorf a. a. O.).

Wegen der fehlenden Trennbarkeit von Schuld- und Rechtsfolgenausspruch war daher die Beschränkung der Berufung der Staatsanwaltschaft auf den Rechtsfolgenausspruch unwirksam.

Das Landgericht hätte daher nicht von der Wirksamkeit der Beschränkung der Berufung der Staatsanwaltschaft ausgehen dürfen und das erstinstanzliche Urteil umfassend im Schuldspruch mit eigenen Feststellungen überprüfen müssen.

Daran ändert in der vorliegenden Konstellation auch nichts, dass es in der Berufungshauptverhandlung ebenfalls zu einer – diesmal formal ordnungsgemäßen -Verständigung der Verfahrensbeteiligten nach § 257c StPO gekommen ist. Diese Verständigung hatte zum Inhalt, dass bei Beschränkung der Berufung des Angeklagten auf den Rechtsfolgenausspruch eine Gesamtfreiheitsstrafe zwischen neun Monaten und einem Jahr, ausgesetzt zur Bewährung, verhängt wird, woraufhin der Angeklagte seine Berufung entsprechend beschränkt hat. Zu einem Geständnis, das zur Grundlage der Überprüfung des Schuldspruches hätte gemacht werden können, kam es aufgrund der Verständigung bereits nicht. Ferner hätte ein solches Geständnis aufgrund der vom Landgericht angenommen wirksamen Beschränkung der Berufungen auf den Rechtsfolgenausspruch auch keine Bedeutung für die Entscheidungsfindung betreffend den Schuldspruch mehr entfalten können (vgl. OLG Düsseldorf a. a. O. Rn. 15). Nur wenn das Berufungsgericht den Schuldspruch auch tatsächlich überprüft, kann eine aufgrund der neu zu treffenden Verständigung abgegebene geständige Einlassung des Angeklagten Grundlage für eine Verurteilung sein (s. a. OLG Hamm a. a. O. Rn. 22).“

Im Ergebnis richtig. Bei der Begründung ist mir nicht so ganz klar, ob das OLG auf § 257c Abs. 4 und 5 StPO abstellt, zumindest „konkludent“ 🙂 . Das wäre m.E. aber nicht richtig. Denn die vom OLG entschiedene Frage ist (zunächst) keine Problematik des § 257c Abs. 4 und 5 StPO, der die Bindungswirkung bei einer formellen Absprache regelt. Denn eine formelle Absprache nach § 257c hat hier beim AG nicht vorgelegen. Im Übrigen wäre das LG aber auch an eine solche Absprache nicht gebunden gewesen, da die Bindungswirkung nur bei dem Gericht besteht, bei dem die Absprache zustande gekommen ist. Und das war das AG. Das OLG argumentiert hier daher ja auch mit dem fair-trial-Grundsatz, was letztlich nicht zu beanstanden ist, obwohl sich das OLG nicht mit der Frage der Bindungswirkung der informellen Absprache befasst.

Und zur Bindungswirkung kann man nachlesen <<Werbemodus an“ bei vgl. Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 11. Aufl., 2025, Rn 305 ff. m.w.N.).; das Werk kann man hier bestellen. <<Werbemodus aus>>.

Wiederaufnahme III: Begründetheit des Antrags, oder: Widerruf eines Geständnisses

© artefacti – Fotolia.com

Und dann als dritte Entscheidung zur Wiederaufnahme hier der LG Essen, Beschl. v. 21.06.2024 –  31 NBs-10 Js 50/23-17/23. Es geht um die Begründetheit eines Wiederaufnahmeantrags. Über den Beschluss der LG Essen, mit dem der Antrag in dem Verfahren zugelassen worden ist, habe ich ja vorhin schon berichtet (vgl. Wiederaufnahme II: Widerruf eines Geständnisses, oder: Neues Beweismittel). Hier dann also jetzt die Entscheidung zur Begründetheit. Das LG hat den Wiederaufnahmeantrag als begründet angesehen:

„Die Kammer hat bereits mit Beschluss vom 01.08.2023 das Wiederaufnahmeverfahren zugelassen, da die Zulässigkeitsvoraussetzungen insoweit gegeben sind. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf den Inhalt des vorgenannten Beschlusses Bezug genommen.

Die Kammer hat sodann am 10.04.2024 einen Beweistermin durchgeführt und tatrelevante Zeugen vernommen. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf das Protokoll vom 10.04.2024 Bezug genommen. Im Rahmen der nach § 369 StPO durchgeführten Beweisaufnahme haben die vom Antragsteller vorgetragenen Wiederaufnahmetatsachen genügende Bestätigung gefunden. Hierbei ist eine hinreichende Wahrscheinlichkeit bzw. die konkrete Möglichkeit ausreichend, ein Vollbeweis, der jedweden vernünftigen Zweifel ausschließt, ist nicht erforderlich (vgl. Singelnstein in BeckOK StPO, 51 Edition, Stand: 01.04.2024, § 370 Rn. 3 m.w.N.). So liegt der Fall hier, da sich infolge der durchgeführten Beweisaufnahme konkrete Anhaltspunkte ergeben haben, die dafürsprechen, dass der Angeklagte zu Unrecht wegen des ihm vorgeworfenen Deliktes verurteilt worden ist.

Die abschließende Klärung bleibt letztlich der erneuerten Hauptverhandlung vorbehalten. Eine eigenständige Entscheidung der Kammer gemäß § 371 Abs. 2 StPO, wie der Angeklagte durch Schriftsatz seines Verteidigers vom 16.05.2024 anregte, ist der Kammer verwehrt, da hierzu die Zustimmung der Staatsanwaltschaft erforderlich ist, die allerdings weder zur Beweisaufnahme noch zur Anregung des Verteidigers vom 16.05.2024 Stellung genommen hat. Mithin muss die endgültige Klärung des Verfahrens der erneuerten Hauptverhandlung vorbehalten bleiben.

Eine Kostenentscheidung war vorliegend nicht zu treffen; erst aufgrund der neuen Hauptverhandlung wird über die Kosten des gesamten früheren Verfahrens zu entscheiden sein (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Auflage 2024, § 473 Rn. 37 m.w.N.).“

Vielleicht erfahren wir ja demnächst, was aus dem Verfahren geworden ist.

Wiederaufnahme II: Widerruf eines Geständnisses, oder: Neues Beweismittel

Bild von Jannik Texler auf Pixabay

Die zweite Entscheidung kommt vom LG Essen. Das hat im LG Essen, Beschl. v. 01.08.2023 – 31 NBs 13/23 – die Wiederaufnahme gegen ein Berufungsurteil des LG Dortmund zugelassen.

Folgender Sachverhalt: Dem Verurteilten ist in dem Verfahren zur Last gelegt worden, einen Menschen bedroht und in zwei Fällen eine Falschverdächtigung begangen zu haben. Hintergrund des Vorwurfs der Bedrohung ist, dass der Verurteilte am 19.05.2019 gegenüber dem JVHS pp. geäußert haben soll, dass er ihn und seine Familie „kalt machen“ werde.

In der Hauptverhandlung vor dem AG vom 25.02.2020 räumte der Verurteilte den Anklagevorwurf geständig ein, so dass er wegen Bedrohung und falscher Verdächtigung zu einer Gesamtgeldstrafe von 130 Tagessätzen zu je 10,- EUR verurteilt wurde. Eine weitergehende Beweisaufnahme fand nicht statt. Infolge von Berufungseinlegungen der Staatsanwaltschaft und des Verurteilten verhandelte die 45. Kleine Strafkammer des LG Dortmund die Sache am 17.03.2021. Während die Berufung der Staatsanwaltschaft bereits auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt war. beschränkte der Verurteilte seine Berufung in der Berufungshauptverhandlung ebenfalls auf den Rechtsfolgenausspruch. Im Folgenden gab der Verurteilte eine geständige Einlassung ab. Eine weitere Beweisaufnahme zur Sache fand nicht statt. Mit Urteil vom 17.03.2021 verwarf das LG die Berufung des Verurteilten und änderte aufgrund der Berufung der Staatsanwaltschaft das amtsgerichtliche Urteil im Rechtsfolgenausspruch dahingehend ab, dass der Verurteilte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt worden ist, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Das OLG Hamm hat die Revision des Angeklagten. soweit er wegen Bedrohung zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt worden ist, verworfen. Im Übrigen wurde das landgerichtliche Urteil in Bezug auf die Verurteilung wegen falscher Verdächtigung und im Gesamtstrafenausspruch aufgehoben und das Verfahren bzgl. des Vorwurfs der falschen Verdächtigung nach § 354 Abs. 1 StPO eingestellt.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 05.12.2022 hat der Verurteilte Zulassung der Wiederaufnahme des Verfahrens gegen das Berufungsurteil des Landgerichts Dortmund vom 17.03.2021  beantragt. Der Antrag wurde auf § 359 Nr. 5 StPO gestützt und unter Darlegung neuer Tatsachen und Beweismittel dargelegt, dass in der Sache — Verurteilung wegen Bedrohung —ein Freispruch zu erfolgen habe, da das ausgebrachte Geständnis unzutreffend und aus rein taktischen Erwägungen erfolgt sei und sich aus den Aussagen benannter, bislang nicht vernommener Zeugen ergebe, dass der Angeklagte die Tat nicht begangen habe. Der Antrag hatte Erfolg:

„1. Der Antrag auf Zulassung des Wiederaufnahmeverfahrens war stattzugeben.

Der Antrag ist gemäß der in § 366 StPO genannten Form eingebracht worden und benennt insbesondere § 359 Nr. 5 StPO als Wiederaufnahmegrund zugunsten des Angeklagten. Zudem sind die Beweismittel angegeben, die den Wiederaufnahmegrund belegen sollen. Diese sind derart hinreichend konkret bezeichnet worden_ so dass das Gericht sie beiziehen und für eine Beweisaufnahme nach § 369 Abs. 1 StPO verwenden kann. Das Ziel der Wiederaufnahme, einen Freispruch zu erlangen. ist legitim.

Zudem sind die Voraussetzungen des § 359 Nr. 5 StPO gegeben, da der Verurteilte Tatsachen und Beweismittel benennt. die als neu zu bewerten sind, und die geeignet sind, zu einem anderen Ergebnis in der Sache zu führen. Hierbei sind die Tatsachen und Beweismittel als neu zu bewerten, da diese bei der Überzeugungsbildung des erkennenden Gerichts nicht berücksichtigt worden sind. da die Feststellung zum Tatgeschehen sich allein auf der damaligen geständigen Einlassung des Verurteilten gründete, die nunmehr widerrufen wurde. Dahingehend sind die genannten Tatsachen und Beweismittel auch hinreichend geeignet, ggfs. zu einem Freispruch des Verurteilten zu führen. Der Verurteilte hat zudem im Rahmen seiner besonderen Darlegungspflicht dargelegt. dass er das Geständnis damals lediglich aus taktischen Erwägungen abgegeben habe. um eine Verurteilung zu einer in Rede stehenden vollstreckbaren Freiheitsstrafe durch das Berufungsgericht zu vermeiden. Dass das Geständnis hierbei vor dem Landgericht Dortmund im Rahmen einer Verständigung i_S.v. § 257c StPO abgegeben wurde, ist hierbei unerheblich, da die Verfahrensabsprache grundsätzlich keine Bindungswirkung entfaltet (vgl. hierzu Singelnstein in BeckOK StPO, 47. Edition, Stand: 01.04.2023, § 359 Rn. 37 m.w.N.). Zudem ist hierbei zu beachten, dass das damals abgegebene Geständnis des Angeklagten nicht im Hinblick auf die Richtigkeit überprüft worden ist. Die Kammer hat hierbei auch in den Blick genommen, dass der Verurteilte bereits vor dem Amtsgericht eine geständige Einlassung abgegeben hat, wozu er allerdings ebenfalls konkret dargelegt hat, dass dies allein auf Anraten seines Verteidigers erfolgt sei, um hierdurch eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe zu vermeiden.“