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Anscheinsbeweis beim berührungslosen Unfall, oder: Haftungsverteilung beim berührungslosen Unfall

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Und dann die zweite Entscheidung, die mit dem OLG Celle, Urt. v. 13.12.2023 – 14 U 32/23 – auch vom OLG Celle kommt. Es geht u.a. um die Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises bei einem berührungslosen Unfall/Auffahrunfall und um die Haftungsverteilung bei einem berührungslosen Unfall.

Folgender Sachverhalt:

„Der Kläger begehrt die Feststellung, dass die Beklagten zur Zahlung von materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall verpflichtet sind, bei dem er mit seinem Motorrad stürzte und verletzt wurde.

Der Kläger befuhr am 31. März 2021 mit seinem Motorrad in Begleitung seines Sohnes, dem Zeugen A., auf dessen Motorrad die B. Straße (L ) in Richtung H. Vor dem Kläger und seinem Sohn befuhr der Zeuge A1 mit seinem PKW die B. Straße in gleicher Richtung. Die aus Fahrtrichtung des Klägers gesehene Gegenfahrbahn, die die Beklagte zu 1. mit dem bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversicherten Fahrzeug der Marke Mercedes befuhr, war im Kurvenverlauf durch einen Müllwagen blockiert, der zu diesem Zeitpunkt von Mitarbeitern des Abfallservice O. GmbH mit gelben Säcken beladen wurde. Die Beklagte zu 1. versuchte, an dem Müllwagen vorbei zu fahren, und wechselte hierzu auf die Fahrbahn des Klägers und des vor ihm fahrenden Zeugen A1. Der Zeuge A1 bremste sein Fahrzeug stark ab, um eine Kollision mit der Beklagten zu 1., die sich noch auf der Fahrbahn des Zeugen befand, zu vermeiden. Auch der Kläger, dessen Motorrad über kein ABS verfügte, machte eine Vollbremsung, geriet dabei ins Rutschen und stürzte. Die Fahrzeuge des Klägers und des Zeugen A1 kollidierten nicht. Der hinter dem Kläger fahrende Zeuge A. konnte sein Motorrad abbremsen, ohne selbst zu stürzen. Die Beklagte zu 1. wendete ihr Fahrzeug bei der nächsten Gelegenheit und fuhr zur Unfallstelle zurück. Die zugelassene Höchstgeschwindigkeit beträgt am Unfallort 70 km/h. Der Kläger, der vom Unfallort mit dem Rettungshubschrauber ins Krankhaus transportiert wurde, erlitt durch den Sturz eine Schulterblattfraktur links, eine Lungenkontusion sowie eine Schürfwunde am linken Knie. Er war infolgedessen bis zum 25. Mai 2021 arbeitsunfähig krankgeschrieben. Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 08. Juni 2021 forderte der Kläger die Beklagte zu 2. auf, ihre Haftung aus dem Unfallgeschehen vollständig dem Grunde nach anzuerkennen. Die Beklagte zu 2. lehnte jegliche Haftung ab.

Der Kläger hat behauptet, er habe zum Fahrzeug des Zeugen A1 einen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten. Er sei vor dem Sturz nicht schneller als 70 km/h gefahren. Er sei mit seinem Motorrad gestürzt, weil die Beklagte zu 1. Anlass für seine und die Vollbremsung des Zeugen A1 gegeben habe. Der Kläger war der Ansicht, dass der Unfall für ihn – auch aufgrund des fehlenden ABS – unvermeidbar gewesen sei. Ferner sei sein Motorrad durch den Sturz beschädigt worden und dieser Sachschaden betrage 2.750,00 €. Darüber hinaus seien weitere Kosten für das außergerichtliche Schadensgutachten in Höhe von 698,95 € sowie eine Kostenpauschale von 25 € angefallen. Die Heilbehandlungen des Klägers seien noch nicht abgeschlossen, wie sich aus dem ärztlichen Attest vom 19. Mai 2021 ergebe. Er könne daher seine – materiellen wie auch immateriellen – Schäden nicht abschließend beziffern, so dass ein Feststellungsinteresse bestehe.

Die Beklagten haben behauptet, der Kläger habe bereits zum Fahrzeug des Zeugen A1 keinen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten und darüber hinaus die zugelassene Höchstgeschwindigkeit überschritten. Die Beklagte zu 1. habe ohne Komplikationen an dem Müllwagen vorbeifahren können. Der Kläger habe daher seinen Sturz durch einen Bremsfehler und das Überschreiten der zulässigen Geschwindigkeit allein verursacht. Eine Haftung der Beklagten bestünde nicht. Zudem bestehe bereits kein Feststellunginteresse. Die Behandlungen des Klägers seien abgeschlossen, so dass ihm eine Bezifferung seiner Schäden möglich gewesen wäre.“

Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Feststellungsklage sei zwar zulässig, aber in der Sache unbegründet. Der Kläger habe den Sturz seines Motorrades allein verschuldet. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei nicht erwiesen, dass die Beklagte zu 1. risikoreich „überholt“ habe. Eine Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer durch den Überholvorgang der Beklagten zu 1. sei nicht festzustellen. Nach Würdigung der Angaben der Parteien und der Zeugenaussagen ließe sich zwar weder ein risikoreiches Überholen der Beklagten zu 1. noch ein zu geringer Abstand des Klägers auf das Fahrzeug des Zeugen A1 sicher nachweisen. Es bestünden aber Indizien für ein zu dichtes Auffahren, die sich aus den Schilderungen der Zeugen A. und A1 ergeben würden. Nach Würdigung des Gutachtens lasse sich feststellen, dass durch das Tätigen des Handbremshebels das Vorderrad blockiert und dadurch das Motorrad Stabilität verloren habe. Infolgedessen sei das Motorrad weggerutscht und der Kläger gestürzt. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. O. sei jedoch keine zeitliche Kopplung zwischen der Bewegung des Motorrades und dem Fahrzeug des Zeugen A. herstellbar. Der Kläger habe damit den Nachweis der Unvermeidbarkeit nicht geführt. Vielmehr sei aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen festzustellen, dass der Kläger den Unfall hätte vermeiden können, wenn er kontrolliert gebremst hätte. Der entstandene Schaden sei ihm daher selbst zuzurechnen.

Dagegen die Berufung, die teilweise Erfolg hatte. Auch hier verweise ich wegen des Umfangs der Gründe wegen der Einzelheiten auf den verlinkten Volltext und stelle hier nur die Leitsätze ein. Die lauten:

    1. Auch bei einem berührungslosen Unfall können die Grundsätze zum Anscheinsbeweis Anwendung finden (ebenso OLG Schleswig, Beschluss vom 17. Februar 2022 – 7 U 144/21, SVR 2022, 302; entgegen OLG München, Urteil vom 7. Oktober 2016 – 10 U 767/16, Rn. 9; OLG Hamm, Urteil vom 9. Mai 2023 – 7 U 17/23, Rn. 51)
    2. Gelingt es einem Verkehrsteilnehmer nicht, rechtzeitig auf eine wahrgenommene Gefahrenlage zu reagieren, und verhindert er lediglich durch einen vorherigen Sturz (hier: als Motorradfahrer) eine Kollision mit dem vorausfahrenden Kraftfahrzeug, spricht wie im Fall einer „Auffahrkollision“ der Beweis des ersten Anscheins für einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Hinterherfahrenden.
    3. Wer an einer unübersichtlichen Engstelle vor einer Kurve ein Hindernis (hier: ein haltendes Müllfahrzeug) links umfährt, muss gemäß § 6 Satz 1 StVO den Gegenverkehr sichern und besonders vorsichtig prüfen, ob ein Vorbeifahren den Gegenverkehr behindern würde.

Haftung nach Verkehrsunfall mit Kind/Radfahrer, oder: Abwägung Betriebsgefahr/Verschulden

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Und dann heute der erste „Kessel Buntes“ im neuen Jahr 2024. Und in dem liegen zwei verkehrzivilrechtliche Entscheidungen. Beide kommen vom OLG Celle.

Ich beginne mit dem OLG Celle, Urt. v. 11.10.2023, Az.: 14 U 157/22 – zur Haftungsverteilung bei einem berührungslosen Unfall.

Das Urteil geht von folgendem Sachverhalt aus: Der Kläger verlangt von den Beklagten als Gesamtschuldner unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens in Höhe von 40 % die Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall am 07.03.2017.

Der zum Unfallzeitpunkt 12 Jahre alte Kläger fuhr am 07.03.2017 gegen 13.50 Uhr parallel zu der S.straße kurz vor der Einmündung M.straße – wobei zwischen den Parteien streitig ist, ob er den Radweg oder den Gehweg befuhr. Er war mit seinem Mountainbike (ohne Helm) unterwegs. Die Beklagte zu 3) fuhr mit dem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Pkw Smart fortwo Coupé ebenfalls auf der S.straße Richtung M.straße. Als der Kläger auf seinem Fahrrad fahrend die Fahrbahn der S.straße in Höhe der M.straße überquerte – wobei zwischen den Parteien insoweit streitig ist, ob auf oder hinter dem dortigen Zebrastreifen – kam es zur Kollision, durch die der Kläger 18,5 Meter weit geworfen und im rechten Seitenbereich einer Parkbucht zu Fall kam. Der Kläger erlitt lebensgefährliche Verletzungen (u. a. ein schweres offenes Schädel-Hirn-Trauma mit Einblutungen, eine Felsenbeinfraktur rechts, eine Schlüsselbeinfraktur rechts und multiple Prellungen sowie Schürfungen an beiden Kniegelenken). Im Krankenhaus erhielt er eine Hirndrucksonde und wurde bis zum 12.03.2017 künstlich beatmet. Zehn Tage nach dem Unfall wurde er von der Intensiv- auf die Normalstation verlegt. Am 20.03.2017 kam er in die H.-Klinik G. zur Anschlussheilbehandlung, die ursprünglich drei bis sechs Monate dauern sollte. Da der Kläger starkes Heimweh hatte, blieb er nur bis zum 12. April 2017 und absolvierte in der Folgezeit von zuhause aus eine Vielzahl von Behandlungen und Therapien.

Mit außergerichtlichem Schreiben vom 15. März 2017 forderte der Kläger die Beklagte zu 1) – die Versicherung – auf, ihre Regulierungsbereitschaft anzuzeigen. Die hat abgelehnt.

Gestritten worden ist dann im Klageverfahren um den genauen Hergang des Unfallgeschehens sowie die Bildung der Haftungsquote.

Das LG hat dann  der Klage zu einem überwiegenden Teil stattgegeben und die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 40.000 EUR und Erstattung materieller Schadensersatzansprüche in Höhe von 1.790,93 EUR verurteilt. Zudem hat es dem auf Feststellung der Haftung gerichteten Antrag beschränkt auf eine Ersatzpflicht in Höhe von 60 % sowie dem auf Freistellung von den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten gerichteten Antrag stattgegeben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung führte das LG insbesondere Folgendes aus:

„Die Beklagte zu 3) habe den Unfall überwiegend verschuldet. Der Unfall sei bei dem Betrieb des Fahrzeuges entstanden. Die Beklagten hätten aus dem Verkehrsunfallgeschehen mit einer Quote von 60 % für die Schäden des Klägers einzustehen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei erwiesen, dass die Beklagte zu 3) den Unfall durch einen Verstoß gegen § 3 Abs. 2a StVO verschuldet habe. Die Beklagte zu 3) habe von dem Zeitpunkt an, in dem sie den Kläger an der S.straße hätte sehen können, besondere Vorkehrungen im Sinne einer Verringerung der Fahrgeschwindigkeit und Einnehmen der Bremsbereitschaft zu treffen gehabt. Die konkrete Gefahrenlage habe sich daraus ergeben, dass ein Kind auf einem Fahrrad in Richtung Zebrastreifen gefahren sei. Dass die Beklagten behauptet hätten, der Kläger habe nicht wie ein Kind ausgesehen, vermöge sie bereits deshalb nicht zu entlasten, weil die Beklagte zu 3) den Kläger überhaupt nicht wahrgenommen habe, als er auf den Zebrastreifen zufuhr, was sie jedoch hätte tun können und müssen. Die Beklagte zu 3) sei jedoch – wie sich aus den Ausführungen des Sachverständigen ergäbe – mit einer Geschwindigkeit im Bereich von 50 km/h auf den Zebrastreifen zugefahren. Nach Ansicht des Landgerichts hätte die Beklagte zu 3) richtigerweise zumindest auf 30 km/h abbremsen müssen, um eine Gefährdung des Klägers auszuschließen. Im Ergebnis läge daher ein Verstoß der Beklagten zu 3) gegen § 3 Abs. 2a StVO vor. Ob der Kläger vor dem Auffahren auf den Zebrastreifen angehalten habe, könne dahinstehen, da der Sachverständige ausgeführt habe, dass die Beklagte zu 3) bei einem Abbremsen auf 30 km/h in jedem Fall die Kollision vermieden hätte. Schließlich sei der Kläger nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Landgerichts in einer Bogenfahrt nach links in die Fahrbahn eingefahren. Anhand der Unfallspuren habe sich feststellen lassen, dass der Kollisionsort auf dem Zebrastreifen gewesen sei. Der Vernehmung der Zeugin H., die zum Termin vor dem Landgericht nicht erschienen war, habe es demnach nicht bedurft. Erstattungsfähig seien materielle Schäden des Klägers unter Berücksichtigung seines Mitverschuldens von 40 % in Höhe von 1.790,93 €. Darüber hinaus sei die Klage diesbezüglich nicht begründet. Zudem sei ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000 € angemessen. Aufgrund der vom Kläger vorgelegten Arztberichte und Gutachten sowie der Angaben des Klägers und seiner Eltern im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung im Verhandlungstermin am 31. August 2022 könne ohne weitere – gerichtliche – Gutachten das Schmerzensgeld bemessen werden. Der Kläger habe unstreitig erhebliche lebensbedrohliche Verletzungen erlitten und sei durch diesen aus seinem Leben komplett herausgerissen worden. Die Tage des zum Unfallzeitpunkt erst 12-jährigen Klägers seien anschließend durch Schmerzen, körperliche Einschränkungen und Therapien geprägt gewesen und nur mit Kraft und Energie und dank der Unterstützung durch seine Familie habe er es trotz der schwersten Verletzungen geschafft, ins Leben zurückzufinden. Es würden gleichwohl physische und psychische Einschränkungen verbleiben und im Bereich der knöchernen Verletzungen könnten zukünftig Verschleißschäden auftreten, wie etwa Arthrose. Dieser Mechanismus sei der Einzelrichterin, die jahrelang Mitglied in einer Spezialkammer für Arzthaftungssachen gewesen sei, aus einer Vielzahl von Fällen bekannt. In Anbetracht der gravierenden Folgen des Unfalls für den Kläger sei unter Berücksichtigung des Mitverschuldensanteils von 40 % ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000,00 € angemessen. Auf die von den Beklagten bestrittenen Folgen des Unfalls käme es insoweit nicht an. Schließlich bewege sich die geforderte Höhe im Rahmen der Vergleichsrechtsprechung.“

Dagegen die Berufung der Beklagten, die teilweise Erfolg hatte. Das OLG hat – anders als das LG –  eine Haftungsquote der Beklagten von 1/3 angenommen.  Wegen der Begründungen verweise ich auf die recht umfangreichen Gründe der OLG-Entscheidung im Volltext. Hier stelle ich nur die Leitsätze des OLG ein. Sie lauten: 

    1. Wer von einem Radweg auf die Fahrbahn einfahren will, hat sich dabei gemäß § 10 S. 1 StVO so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies gilt auch für denjenigen, der vom Radweg auf einem Fußgängerüberweg auf die Fahrbahn einfährt.
    2. Auch gegenüber Kindern gilt der Vertrauensgrundsatz. Der Fahrer eines PKW muss besondere Vorkehrungen für seine Fahrweise gemäß § 3 Abs. 2a StVO nur dann treffen, wenn das Verhalten der Kinder oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten zeigt, die zu einer konkreten Gefährdung führen können, und das Kind nach dem äußeren Erscheinungsbild als solches erkennbar war.
    3. Ein Fahrzeugführer muss auch bei Annäherung an einen Fußgängerüberweg ohne erkennbare Umstände nicht damit rechnen, dass ein 12-jähriges Kind, ohne seine Absicht merklich anzuzeigen, auf dem Fahrrad fahrend den Fußgängerüberweg überquert.
    4. Bei der Abwägung der Betriebsgefahr eines Fahrzeuges gegenüber dem schuldhaften Verstoß eines 12-jährigen Kindes gegen § 10 S. 1 StVO tritt die Betriebsgefahr des Kfz unter Berücksichtigung des Alters des geschädigten Kindes einerseits sowie der deutlichen Erhöhung der Betriebsgefahr des Fahrzeugs im Unfallgeschehen andererseits, auch angesichts der weiteren Gesamtumstände des Unfallgeschehens, nicht zurück (hier: Betriebsgefahr mit 1/3 berücksichtigt).

Unfall nach Rückwärtsfahrt auf der Einbahnstraße, oder: Wie haftet der „Rückwärtsfahrer“?

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Und dann vor Weihnachten noch einmal ein „Kessel-Buntes“. Und in dem köcheln heute zivilgerichtliche Entscheidungen.

Zunächst stelle ich das BGH, Urt. v. 10.10.2023 – VI ZR 287/22 – vor. Gestritten wird um Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall. Der Kläger hatte sein Fahrzeug vorwärts in einer Grundstückszufahrt ab­gestellt, die sich an einer Einbahnstraße rechtwinklig in Fahrtrichtung rechts be­findet. Die Beklagte war mit ihrem Fahrzeug in Fahrtrichtung der Einbahnstraße an der Grundstückszufahrt vorbeigefahren. Sie hielt im Bereich einer gerade freiwerdenden Parklücke, die sich links parallel zur Fahrbahn befindet und etwa auf Höhe der Grundstückszu­fahrt beginnt, um in diese einzufahren. Die Fahrzeuge stießen zusammen, als der Kläger aus der Grundstückszufahrt rückwärts in einem Rechtsbogen auf die Einbahnstraße fuhr und die Beklagte zu 1 auf der Einbahnstraße einige Meter rückwärts fuhr, um dem aus der Parklücke herausfahrenden Fahrzeug Platz zu machen. Das Fahrzeug des Klägers wurde an der linken Seite beschädigt.

Vorgerichtlich regulierte die Versicherung der Beklagte auf der Grundlage einer Haftungsquote der Beklagten von 40 %. Mit seiner Klage macht der Kläger die restlichen 60 % geltend. Das AG hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das LG die Klage abgewiesen. Dieses Urteil hat der BGH auf die Revision aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.

Hier die Leitsätze zu der Entscheidung – Rest dann bitte selbst lesen:

1. Das Vorschriftszeichen 220 in Verbindung mit § 41 Abs. 1 StVO gebietet, dass die Einbahnstraße nur in vorgeschriebener Fahrtrichtung befahren werden darf. Verboten ist auch das Rückwärtsfahren entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung. Lediglich (unmittelbares) Rückwärtseinparken („Rangieren“) ist – ebenso wie Rückwärtseinfahren aus einem Grundstück auf die Straße – kein unzulässiges Rückwärtsfahren auf Richtungsfahrbahnen gegen die Fahrtrich­tung.

2. Zur Anwendung des Anscheinsbeweises bei einem Verkehrsunfall (hier: Zu­sammenstoß eines aus einer Grundstückszufahrt auf eine Einbahnstraße ein­fahrenden Fahrzeugs mit einem auf der Einbahnstraße unzulässig rückwärts fahrenden Fahrzeug).

OWi III: Zwei Entscheidungen zur OWiG-Geldbuße, oder: Abwesender Betroffener/mathematische Berechnung

Und im letzten Posting des Tages zwei Entscheidungen zur Geldbuße, und zwar wie folgt, wobei m.E. auch die Leitsätze genügen:

    1. Äußert sich der den abwesenden Betroffenen vertretende Rechtsanwalt nicht zu dessen Vermögensverhältnissen, so begibt er sich der Möglichkeit, für den Betroffenen Umstände vorzutragen, die ein Abweichen vom Regelfall hätten begründen können.
    2. Bei dieser Sachlage ist die Bußgeldbemessung auch dann nicht zu beanstanden, wenn das Tatgericht den Regelsatz des Bußgeldkatalogs wegen einer Vorbelastung um einen moderaten Betrag erhöht hat.
    1. Bei der Bemessung der Geldbuße sind verwaltungsinterne Bußgeldrichtlinien für die Gerichte nicht von maßgeblicher Bedeutung.
    2. Eine mathematische Berechnung der Bußgeldhöhe sieht das geltende Recht nicht vor. Vielmehr hat das Tatgericht die Bußgeldhöhe aufgrund einer wertenden Gesamtbetrachtung aller hierfür maßgeblichen Gesichtspunkte zu bestimmen.
    3. Die Berücksichtigung des wirtschaftlichen Vorteils im Sinne des § 17 Abs. 4 Satz 1 OWiG bei der Bemessung der Bußgeldhöhe setzt voraus, dass das Tatgericht konkrete Feststellungen dazu trifft, welche Vorteile der Täter durch die Begehung der Ordnungswidrigkeit tatsächlich gezogen hat.

OWi II: Das bußgeldrechtliche Widerspruchsverfahren, oder: Voraussetzungen eines wirksamen Widerspruchs

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Und im zweiten Posting noch eine KG-Entscheidung, und zwar der KG, Beschl. v. 07.11.2023 – 3 ORbs 222/23 – 122 Ss 104/22 – zum Widerspruchsverfahren nach § 72 OWiG und den Voraussetzungen eines wirksamen Widerspruchs.

Da reicht aber der Leitsatz, der lautet:

  1. Der Widerspruch nach § 72 Abs. 1 Satz 1 OWiG kann bereits im Vorverfahren oder mit der Einlegung des Einspruchs erklärt werden. Mit dem Eingang der Akten beim Amtsgericht entfaltet er seine Sperrwirkung für das Beschlussverfahren.

  2. Ein auf diese Weise wirksam erklärter Widerspruch wird auch nicht dadurch unwirksam, dass das Amtsgericht im späteren Verfahren ankündigt, durch Beschluss entscheiden zu wollen, und der Betroffene dem nicht widerspricht. Vielmehr bedarf es in diesem Fall einer eindeutigen Rücknahme des zuvor erklärten Widerspruchs.

  3. Ob eine Äußerung als Widerspruch zu bewerten ist, ist unter Berücksichtigung des konkreten Falls und namentlich des wirklichen Willens des Betroffenen und der Bedeutung seiner abgegebenen Erklärungen festzustellen. (Anschluss OLG Koblenz NStZ 1991, 191)

  4. Zwar kann ein Widerspruch im Grundsatz auch durch schlüssiges Verhalten erklärt werden. Die Auffassung, dass ein – gegebenenfalls substantiiertes – Bestreiten das Beschlussverfahren schlechthin sperre und sogar einer späteren Zustimmung die Rechtswirkung nehmen könne, teilt der Senat aber nicht. (entgegen OLG Karlsruhe VRS 59, 136).