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Haftung nach Verkehrsunfall mit Kind/Radfahrer, oder: Abwägung Betriebsgefahr/Verschulden

Bild von Stephan Wusowski auf Pixabay

Und dann heute der erste „Kessel Buntes“ im neuen Jahr 2024. Und in dem liegen zwei verkehrzivilrechtliche Entscheidungen. Beide kommen vom OLG Celle.

Ich beginne mit dem OLG Celle, Urt. v. 11.10.2023, Az.: 14 U 157/22 – zur Haftungsverteilung bei einem berührungslosen Unfall.

Das Urteil geht von folgendem Sachverhalt aus: Der Kläger verlangt von den Beklagten als Gesamtschuldner unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens in Höhe von 40 % die Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld nach einem Verkehrsunfall am 07.03.2017.

Der zum Unfallzeitpunkt 12 Jahre alte Kläger fuhr am 07.03.2017 gegen 13.50 Uhr parallel zu der S.straße kurz vor der Einmündung M.straße – wobei zwischen den Parteien streitig ist, ob er den Radweg oder den Gehweg befuhr. Er war mit seinem Mountainbike (ohne Helm) unterwegs. Die Beklagte zu 3) fuhr mit dem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Pkw Smart fortwo Coupé ebenfalls auf der S.straße Richtung M.straße. Als der Kläger auf seinem Fahrrad fahrend die Fahrbahn der S.straße in Höhe der M.straße überquerte – wobei zwischen den Parteien insoweit streitig ist, ob auf oder hinter dem dortigen Zebrastreifen – kam es zur Kollision, durch die der Kläger 18,5 Meter weit geworfen und im rechten Seitenbereich einer Parkbucht zu Fall kam. Der Kläger erlitt lebensgefährliche Verletzungen (u. a. ein schweres offenes Schädel-Hirn-Trauma mit Einblutungen, eine Felsenbeinfraktur rechts, eine Schlüsselbeinfraktur rechts und multiple Prellungen sowie Schürfungen an beiden Kniegelenken). Im Krankenhaus erhielt er eine Hirndrucksonde und wurde bis zum 12.03.2017 künstlich beatmet. Zehn Tage nach dem Unfall wurde er von der Intensiv- auf die Normalstation verlegt. Am 20.03.2017 kam er in die H.-Klinik G. zur Anschlussheilbehandlung, die ursprünglich drei bis sechs Monate dauern sollte. Da der Kläger starkes Heimweh hatte, blieb er nur bis zum 12. April 2017 und absolvierte in der Folgezeit von zuhause aus eine Vielzahl von Behandlungen und Therapien.

Mit außergerichtlichem Schreiben vom 15. März 2017 forderte der Kläger die Beklagte zu 1) – die Versicherung – auf, ihre Regulierungsbereitschaft anzuzeigen. Die hat abgelehnt.

Gestritten worden ist dann im Klageverfahren um den genauen Hergang des Unfallgeschehens sowie die Bildung der Haftungsquote.

Das LG hat dann  der Klage zu einem überwiegenden Teil stattgegeben und die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 40.000 EUR und Erstattung materieller Schadensersatzansprüche in Höhe von 1.790,93 EUR verurteilt. Zudem hat es dem auf Feststellung der Haftung gerichteten Antrag beschränkt auf eine Ersatzpflicht in Höhe von 60 % sowie dem auf Freistellung von den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten gerichteten Antrag stattgegeben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung führte das LG insbesondere Folgendes aus:

„Die Beklagte zu 3) habe den Unfall überwiegend verschuldet. Der Unfall sei bei dem Betrieb des Fahrzeuges entstanden. Die Beklagten hätten aus dem Verkehrsunfallgeschehen mit einer Quote von 60 % für die Schäden des Klägers einzustehen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei erwiesen, dass die Beklagte zu 3) den Unfall durch einen Verstoß gegen § 3 Abs. 2a StVO verschuldet habe. Die Beklagte zu 3) habe von dem Zeitpunkt an, in dem sie den Kläger an der S.straße hätte sehen können, besondere Vorkehrungen im Sinne einer Verringerung der Fahrgeschwindigkeit und Einnehmen der Bremsbereitschaft zu treffen gehabt. Die konkrete Gefahrenlage habe sich daraus ergeben, dass ein Kind auf einem Fahrrad in Richtung Zebrastreifen gefahren sei. Dass die Beklagten behauptet hätten, der Kläger habe nicht wie ein Kind ausgesehen, vermöge sie bereits deshalb nicht zu entlasten, weil die Beklagte zu 3) den Kläger überhaupt nicht wahrgenommen habe, als er auf den Zebrastreifen zufuhr, was sie jedoch hätte tun können und müssen. Die Beklagte zu 3) sei jedoch – wie sich aus den Ausführungen des Sachverständigen ergäbe – mit einer Geschwindigkeit im Bereich von 50 km/h auf den Zebrastreifen zugefahren. Nach Ansicht des Landgerichts hätte die Beklagte zu 3) richtigerweise zumindest auf 30 km/h abbremsen müssen, um eine Gefährdung des Klägers auszuschließen. Im Ergebnis läge daher ein Verstoß der Beklagten zu 3) gegen § 3 Abs. 2a StVO vor. Ob der Kläger vor dem Auffahren auf den Zebrastreifen angehalten habe, könne dahinstehen, da der Sachverständige ausgeführt habe, dass die Beklagte zu 3) bei einem Abbremsen auf 30 km/h in jedem Fall die Kollision vermieden hätte. Schließlich sei der Kläger nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Landgerichts in einer Bogenfahrt nach links in die Fahrbahn eingefahren. Anhand der Unfallspuren habe sich feststellen lassen, dass der Kollisionsort auf dem Zebrastreifen gewesen sei. Der Vernehmung der Zeugin H., die zum Termin vor dem Landgericht nicht erschienen war, habe es demnach nicht bedurft. Erstattungsfähig seien materielle Schäden des Klägers unter Berücksichtigung seines Mitverschuldens von 40 % in Höhe von 1.790,93 €. Darüber hinaus sei die Klage diesbezüglich nicht begründet. Zudem sei ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000 € angemessen. Aufgrund der vom Kläger vorgelegten Arztberichte und Gutachten sowie der Angaben des Klägers und seiner Eltern im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung im Verhandlungstermin am 31. August 2022 könne ohne weitere – gerichtliche – Gutachten das Schmerzensgeld bemessen werden. Der Kläger habe unstreitig erhebliche lebensbedrohliche Verletzungen erlitten und sei durch diesen aus seinem Leben komplett herausgerissen worden. Die Tage des zum Unfallzeitpunkt erst 12-jährigen Klägers seien anschließend durch Schmerzen, körperliche Einschränkungen und Therapien geprägt gewesen und nur mit Kraft und Energie und dank der Unterstützung durch seine Familie habe er es trotz der schwersten Verletzungen geschafft, ins Leben zurückzufinden. Es würden gleichwohl physische und psychische Einschränkungen verbleiben und im Bereich der knöchernen Verletzungen könnten zukünftig Verschleißschäden auftreten, wie etwa Arthrose. Dieser Mechanismus sei der Einzelrichterin, die jahrelang Mitglied in einer Spezialkammer für Arzthaftungssachen gewesen sei, aus einer Vielzahl von Fällen bekannt. In Anbetracht der gravierenden Folgen des Unfalls für den Kläger sei unter Berücksichtigung des Mitverschuldensanteils von 40 % ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000,00 € angemessen. Auf die von den Beklagten bestrittenen Folgen des Unfalls käme es insoweit nicht an. Schließlich bewege sich die geforderte Höhe im Rahmen der Vergleichsrechtsprechung.“

Dagegen die Berufung der Beklagten, die teilweise Erfolg hatte. Das OLG hat – anders als das LG –  eine Haftungsquote der Beklagten von 1/3 angenommen.  Wegen der Begründungen verweise ich auf die recht umfangreichen Gründe der OLG-Entscheidung im Volltext. Hier stelle ich nur die Leitsätze des OLG ein. Sie lauten: 

    1. Wer von einem Radweg auf die Fahrbahn einfahren will, hat sich dabei gemäß § 10 S. 1 StVO so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dies gilt auch für denjenigen, der vom Radweg auf einem Fußgängerüberweg auf die Fahrbahn einfährt.
    2. Auch gegenüber Kindern gilt der Vertrauensgrundsatz. Der Fahrer eines PKW muss besondere Vorkehrungen für seine Fahrweise gemäß § 3 Abs. 2a StVO nur dann treffen, wenn das Verhalten der Kinder oder die Situation, in der sie sich befinden, Auffälligkeiten zeigt, die zu einer konkreten Gefährdung führen können, und das Kind nach dem äußeren Erscheinungsbild als solches erkennbar war.
    3. Ein Fahrzeugführer muss auch bei Annäherung an einen Fußgängerüberweg ohne erkennbare Umstände nicht damit rechnen, dass ein 12-jähriges Kind, ohne seine Absicht merklich anzuzeigen, auf dem Fahrrad fahrend den Fußgängerüberweg überquert.
    4. Bei der Abwägung der Betriebsgefahr eines Fahrzeuges gegenüber dem schuldhaften Verstoß eines 12-jährigen Kindes gegen § 10 S. 1 StVO tritt die Betriebsgefahr des Kfz unter Berücksichtigung des Alters des geschädigten Kindes einerseits sowie der deutlichen Erhöhung der Betriebsgefahr des Fahrzeugs im Unfallgeschehen andererseits, auch angesichts der weiteren Gesamtumstände des Unfallgeschehens, nicht zurück (hier: Betriebsgefahr mit 1/3 berücksichtigt).

Bewährungswiderruf 54 (!!) Monate nach Ende der Bewährungszeit – geht „natürlich nicht“

Gesicht ärgerlichDie Frage: „Bewährungswiderruf 54 (!!) Monate nach Ende der Bewährungszeit – geht das?“ stellen, heißt: Sie verneinen. Nein, das geht natürlich nicht – und ich schreibe bewusst natürlich. Denn wenn man den sich mit dieser Frage befassenden KG, Beschl. v. 22.01.2014 – 2 Ws 17/14 – mit dem Leitsatz:

Eine Strafaussetzung kann nach Ablauf der Bewährungszeit nicht mehr widerrufen werden, wenn durch das fehlerhaft betriebene Widerrufsverfahren ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde, der dem Widerruf entgegensteht. Dies ist der Fall, wenn die Strafaussetzung erst etwa 54 Monate nach dem Ende der Bewährungszeit und über zwei Jahre nach Rechtskraft der Anlassverurteilung widerrufen wurde, obwohl dies früher möglich gewesen wäre.

liest, dann kann man m.E. nur mit „natürlich nicht“ formulieren.

Das das KG „angefressen“ war über die Behandlung der Sache beim AG Tiergarten und/oder bei StA kann man m.E. unschwer den Formulierungen/ Wendungen im Beschluss entnehmen, wenn es dort u.a. heißt – man kann es sich „auf der Zunge zergehen lassen“:

„Zu einem aus der Akte nicht ersichtlichen Zeitpunkt – wohl im Jahre 2009 – wurde diese vom Amtsgericht versandt und später beim Landgericht Berlin als Beiakte zu dem Verfahren – (522) 1 Kap Js 1228/09 Ks (18/09) – geführt….

Ausweislich eines Rechtspflegervermerks gelangten sie erst am 9. März 2011 zur Staatsanwaltschaft zurück. Dort fiel immerhin auf, dass die Entscheidung über den Straferlass noch nicht getroffen worden war, weshalb darum gebeten wurde, diese nunmehr (etwa zwei Jahre nach Ablauf der Bewährungszeit) nachzuholen.

Doch auch diese Anregung führte nicht zu einer sachgemäßen Bearbeitung des Verfahrens durch das Amtsgericht Tiergarten, wo zunächst zudem „unentdeckt“ blieb, dass längst nicht mehr das ursprüngliche Urteil vom 13. Januar 2005 Grundlage der Bewährungsüberwachung war, sondern der (eigene) nachträgliche Beschluss vom 11. April 2006…..

Obwohl die Akten nun ausweislich des oben erwähnten Rechtspflegervermerks „wieder aufgetaucht“ waren und auf Anforderung der Staatsanwaltschaft am 28. April 2011 auch eine Ausfertigung des (nicht rechtskräftigen) Urteils vom 21. Dezember 2010 zur Akte gelangte, geschah – für den Verurteilten erkennbar – nichts. Zwar hatte die staatsanwaltliche Dezernentin – völlig zutreffend – am 16. Mai 2011 angeregt, nunmehr den Verurteilten darauf hinzuweisen, dass im Hinblick auf das noch laufende Revisionsverfahren auch ein Widerruf der Strafaussetzung in Betracht komme, doch wurde diese Anregung durch das Amtsgericht nicht umgesetzt, weil es zunächst weiterhin davon ausging, dass die Bewährungszeit bereits am 12. Januar 2008 geendet hatte. Erst nach einer Anfrage bei der Staatsanwaltschaft unternahm der zuständige Amtsrichter am 16. Juni 2011 einen ersten Anlauf, den Verurteilten (und seine frühere Pflichtverteidigerin) darauf hinzuweisen, dass er weiterhin mit dem Widerruf der Bewährung zu rechnen habe. Die Nachricht erreichte den Verurteilten jedoch nicht, weil sie ihm nicht in die Untersuchungshaftanstalt gesandt worden war, wo er sich seit dem 21. Juni 2009 aufhielt, was sich dem Urteil vom 21. Dezember 2010 unschwer hätte entnehmen lassen. Erst die Rücksendung des Schreibens durch die Postzustellungsfirma am 28. Juni 2011 führte beim Amtsgericht zu der nahe liegenden Überlegung, dass ein (nicht rechtskräftig) zu neun Jahren Freiheitsentzug verurteilter Mann in Berlin mit hoher Wahrscheinlichkeit in der JVA-Moabit aufzufinden sein dürfte, was sodann durch eine telefonische Nachfrage insoweit seine Bestätigung fand, als der Verurteilte sich zu dieser Zeit im Haftkrankenhaus aufhielt. Doch auch dieser Umstand wurde – soweit aktenkundig – nicht zum Anlass genommen, den Verurteilten nunmehr über die fortbestehende Möglichkeit des Bewährungswiderrufs zu informieren…….

Nichts dergleichen wurden indessen von der Staatsanwaltschaft beantragt oder vom Amtsgericht in Angriff genommen. Dafür gab es keinen sachlichen und somit auch keinen dem Verurteilten erkennbaren Grund. ….

Erst am 5. November 2013 erkannte das Amtsgericht Tiergarten seine Unzuständigkeit im Hinblick auf die laufende Strafvollstreckung (§ 462a Abs. 1 StPO) und verwies die Sache zur Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer, die etwa 54 Monate nach dem Ende der Bewährungszeit die angefochtene Entscheidung erließ, obwohl sie bereits problemlos etwa zwei Jahre früher durch das Amtsgericht Tiergarten hätte getroffen werden können.“

Hätte ich als AG-Richter/StVK/StA nicht lesen wollen.

Vertrauensgrundsatz beim Bewährungswiderruf

Mit zwei für den Widerruf von Strafaussetzung zur Bewährung interessanten Fragen befasst sich der OLG Celle, Beschl. v. 08.08.2011 – 2 Ws 191 u. 192/11, der zeigt, dass der Vertrauensgrundsatz auch im Strafvollstreckungsverfahren gilt. Die Leitsätze der insoweit für die Praxis ganz interessanten Entscheidung:

„War dem Tatrichter zum Zeitpunkt der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe nach § 460 StPO bereits bekannt, dass der Verurteilte zeitlich nach der Verhängung der zusammenzuführenden Strafen erneut straffällig geworden und deswegen bereits rechtskräftig verurteilt worden ist, und setzt er die Vollstreckung der neu gebildete Gesamtfreiheitsstrafe gleichwohl zur Bewährung aus, so wird damit für den Verurteilten ein Vertrauenstatbestand geschaffen. Dieser verbietet einen anschließenden Widerruf dieser Strafaussetzung nach § 56f Abs. 1 StGB jedenfalls aus denjenigen Gründen, die dem gesamtstrafenbildenden Gericht bei seiner Strafaussetzungsentscheidung bereits bekannt waren.

2. Ist in eine nach § 460 StPO gebildete Gesamtfreiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, eine Geldstrafe eingeflossen, die zum Zeitpunkt einer Nachtat im Sinne des § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB noch isoliert bestanden hat, so ist aus Sicht des Verurteilten auch hierdurch ein Vertrauenstatbestand dahingehend entstanden, diese Geldstrafe nicht infolge eines Widerrufs der Aussetzung der Vollstreckung der nachträglichen Gesamtstrafe als – nun – freiheitsentziehende Sanktion aufgrund dieser Nachtat verbüßen zu müssen.“