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Strafzumessung III: Schwere der Schuld im JGG, oder: Bloß „Internetjihadismus“

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Die dritte und letzte Entscheidung kommt aus Berlin vom KG. Es handelt sich um das KG, Urt. v. 30.10.2020 – (6a) 172 OJs 22/18 (1/20), und zwar mit einer ganz interessanten Frage in Zusammenhang mit derStrafzumessung im Jugendrecht, nämlich der Frage nach der Schwere der Schuld bei „Internetjihadismus“.

Das KG hat die Frage auch bei bloßer Propaganda für den militanten Jihad bejaht:

„2. Verhängung einer Jugendstrafe

Nach der gebotenen jugendspezifischen Gesamtabwägung reichte die Verhängung von Zuchtmitteln oder Erziehungsmaßregeln nicht aus. Vielmehr war gegen den Angeklagten eine Jugendstrafe zu verhängen. Denn seine Schuld wiegt schwer (§ 17 Abs. 2 2. Alt. JGG).

Die Schwere der Schuld bemisst sich nach dem Gewicht der Tat und der in der Persönlichkeit des Angeklagten begründeten Beziehung zu ihr. Entscheidend ist die innere Tatseite, also inwieweit sich die charakterliche Haltung und die Persönlichkeit sowie die Tatmotivation des Jugendlichen oder Heranwachsenden in vorwerfbarer Schuld niedergeschlagen haben (vgl. BGH NStZ 2010, 281). Dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat kommt keine selbständige Bedeutung zu. Er ist allerdings sowohl für die Beurteilung der Schuldschwere im Sinne des § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG als auch für die Zumessung der konkreten Jugendstrafe insofern von Belang, als aus ihm Schlüsse auf die Persönlichkeit des Täters und die Höhe der Schuld gezogen werden können (ständige Rechtsprechung des BGH, vgl. NStZ-RR 2015, 155; NStZ-RR 2001, 215; BGHR JGG § 18 Abs. 2 Tatumstände 2; BGHSt 16, 261; BGHSt 15, 224). Dabei ist zur Bestimmung der zurechenbaren Schuld des jugendlichen oder heranwachsenden Täters das Tatunrecht am Maßstab der gesetzlichen Strafandrohungen des Erwachsenenstrafrechts heranzuziehen, weil in den Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts die Bewertung des Tatunrechts zum Ausdruck kommt (vgl. BGH NStZ-RR 2015, 155).

Bei der nach dieser Maßgabe vorzunehmenden Beurteilung war Folgendes zu berücksichtigen:

Der Angeklagte hat die Straftatbestände der §§ 86 Abs. 1 Nr. 2, 91 Abs. 1 Nr. 1, 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Satz 2 i. V. m. 129b Abs. 1, 131 Abs. 1 Nr. 1a StGB verwirklicht. Für das nach dem Strafrahmen schwerste dieser Vergehen – Werben um Mitglieder oder Unterstützer für eine terroristische Vereinigung im Ausland – sieht § 129a Abs. 5 Satz 2 StGB im Falle der Anwendung von Erwachsenenstrafrecht Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vor. Die Voraussetzungen für eine Strafmilderung nach § 129a Abs. 6 StGB liegen nicht vor, denn die Schuld des Angeklagten ist nicht gering und seine Mitwirkung war auch nicht von untergeordneter Bedeutung.

Vielmehr offenbaren die vom Angeklagten begangenen Taten im oben bezeichneten vorwiegend subjektiven Sinn schwere Schuld. Der Angeklagte zeigte sich hasserfüllt, kalt und empathielos, als er für den IS und damit seit Jahren weltweit gewalttätigste und gefährlichste terroristische Organisation warb. Dabei hatten es ihm vor allem die Brutalität und die Menschenverachtung des IS angetan, aber er wusste auch um die große Macht und die objektive Gefährlichkeit der Vereinigung für alle Andersdenkenden. Der vom Angeklagten empfundene und verbreitete Hass und der Wille unbedingter Vernichtung gegen „Ungläubige“ richtete sich dabei offen gegen große Teile seiner eigenen Lebenswelt und damit auch gegen die deutsche Bevölkerung. Er war sich darüber im Klaren, dass seine Tathandlungen Versklavung, Folter und Mord Vorschub leisteten. Grausame Darstellungen menschlichen Leids befand er für besonders geeignet, als Propaganda gegen die „Ungläubigen“ und für die grenzenlose Macht eines weltweit herrschenden Islams zu dienen. Der vom Angeklagten betriebene „Internetjihadismus“ war auch kein singuläres oder kurzfristiges Ereignis mit Ausnahmecharakter. Seine Taten waren kein Augenblicksversagen, sondern von erheblicher Dauer, Stringenz und strategischer Planung gekennzeichnet. Er war, teils lesend und teils mit Administratorenrechten ausgestattet, Mitglied in Hunderten von radikalislamistischen und jihadistischen Gruppen und Kanälen. Zwar hat der Senat erkannt und gewürdigt, dass der Angeklagte geständig war. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass sich der Angeklagte offenbaren und weitgehend reinen Tisch machen wollte. Nicht festgestellt werden konnte allerdings, dass das Geständnis von tiefgreifendem Problembewusstsein, über die Oberfläche hinausgehender Reue oder gar unumkehrbarer Einsicht getragen gewesen wäre. Vielmehr deutet einiges darauf hin, dass der Angeklagte das begangene Tatunrecht nur oberflächlich reflektiert hat. Insgesamt befindet sich der Angeklagte noch am Anfang eines dringend erforderlichen Entwicklungsprozesses.“

Bewährung I: Beteiligung der Jugendgerichtshilfe am Widerrufsverfahren, oder: Beim 27-Jährigen nicht mehr

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Heute mal dann mal ein Tag mit Bewährungsentscheidungen, allerdings nicht zur Frage der Gewährung von Bewährung sondern zu Widerrufsfrage,

Und ich beginne den Tag mit dem OLG Celle, Beschl. v. 05.10.2020 – 2 Ws 321/29 – zur Frage der Notwendigkeit der Beteiligung der Jugendgerichtshilfe (JGH) am Verfahren hinsichtlich eines in Betracht kommenden Widerrufes der Strafaussetzung zur Bewährung gem. § 26 JGG.

Das LG hatte die einem „Jugendlichen“ gewährte Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen. An dem Verfahren war die Jugendgerichtshilfe nicht beteiligt. Das OLG Celle hat darin keinen Verfahrensfehler gesehen:

„2. Der Beschluss ist auch nicht verfahrensfehlerhaft ergangen, obwohl die Jugendkammer die Jugendgerichtshilfe im Rahmen des zu prüfenden Widerrufes der Bewährung gem. § 26 JGG nicht beteiligt hat.

Das bei einem Widerruf der Bewährung gem. § 26 JGG einzuhaltende Verfahren richtet sich – wenn der Verurteilte, wie vorliegend, im Zeitpunkt der Begehung der der Anlassverurteilung zugrundeliegenden Taten Heranwachsender war – nach § 109 Abs. 2 JGG i.V.m. § 58 JGG.

Es ist in der Rechtsprechung und der Literatur anerkannt, dass grundsätzlich am Widerrufsverfahren gem. § 58 JGG die gem. § 38 Abs. 6 S. 1 JGG im gesamten Verfahren gegen einen Jugendlichen heranzuziehende Jugendgerichtshilfe zu beteiligen ist (OLG Koblenz, Beschluss vom 23. März 2016 – 2 Ws 150/16 –, juris; BeckOK JGG/Kilian, 18. Ed. 1.8.2020, JGG § 58, Rn. 18; Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, 10. Auflage 2016, § 58, Rn. 11; Schatz in: Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2020, § 58, Rn. 22, Frommeyer, StraFo 2018, S. 493 ff; a.A.: Brunner/Dölling in: Brunner/Dölling, Jugendgerichtsgesetz, 13. Aufl. 2017, § 58, Rn. 4, wonach die Beteiligung der JGH meist lediglich angebracht sein soll).

Vorliegend ist die Einholung einer Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe unterblieben; ein Verfahrensfehler ist angesichts der Gesamtumstände des vorliegenden Einzelfalles gleichwohl nicht gegeben. Denn der Senat erachtet eine Beteiligung der Jugendgerichtshilfe in Konstellationen, bei denen sie nach den maßgeblichen Gesamtumständen des Einzelfalles nicht geeignet erscheint, ergänzende sachdienliche, für die anstehende Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung gem. § 26 JGG maßgebliche Informationen zu Tage zu fördern und daher zur reinen Formalie verkommt, für entbehrlich.

So liegt der Fall hier. Die Vornahme einer Betrachtung aller maßgeblichen Umstände ergibt, dass die Beteiligung der Jugendgerichtshilfe nicht geeignet ist, die Entscheidung über den von der Staatsanwaltschaft beantragten Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung zu beeinflussen, weshalb der Senat davon abgesehen hat, im Beschwerdeverfahren nachträglich selbst die Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe einzuholen.

a) Insoweit war zunächst zu berücksichtigen, dass Grundlage für den von der Jugendkammer beschlossenen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung allein die durch die Begehung neuer Straftaten widerlegte Aussetzungsprognose war. Insoweit ergibt sich die Grundlage für den Widerruf gem. § 26 Abs. 1 Nr. 1 JGG zwanglos aus den schriftlichen Urteilsgründen des Urteils des Amtsgerichts Hannover vom 06.02.2020, denen Art und Umfang der Taten hinreichend zu entnehmen ist. Zudem konnte sich die Jugendkammer im Rahmen der mündlichen Anhörung des Verurteilten davon überzeugen, dass der Begehung der neuerlichen Taten keine besonderen, vorteilhaften Umstände zugrunde lagen, die die neuerliche Straffälligkeit nicht in einem minder schweren Licht erscheinen ließen.

b) Der Verurteilte war im Zeitpunkt seiner mündlichen Anhörung zudem bereits fast 27 Jahre alt.

Der Senat verkennt nicht, dass sich das bei einem Widerruf der Bewährung gem. § 26 JGG einzuhaltende Verfahren auch dann nach § 109 Abs. 2 i.V.m. § 58 JGG richtet, wenn der Ver-urteilte – wie hier – im Zeitpunkt der Widerrufsentscheidung bereits erwachsen ist (OLG Hamm, Beschluss vom 08. November 2016 – III-3 Ws 396/16 –, juris). Zudem ist den Regelungen des Sozialgesetzbuches zur Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) zu entnehmen, dass der Gesetz-geber auch eine Betreuung von bereits 26 Jahre alten jungen Erwachsenen durch die Jugendgerichtshilfe für erforderlich hält, denn nach § 52 Abs. 3 SGB VIII hat der Mitarbeiter des Jugendamts oder des anerkannten Trägers der freien Jugendhilfe, der nach § 38 Absatz 2 Satz 2 des Jugendgerichtsgesetzes tätig wird, einen jungen Volljährigen während des gesamten Verfahrens zu betreuen, wobei als junger Volljähriger gilt, wer 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII).

Vor diesem Hintergrund erscheint der Umstand, dass sich der Verurteilte inzwischen deutlich vom Alter des Heranwachsenden i.S.v. § 1 Abs. 2 JGG entfernt hat, isoliert betrachtet nicht geeignet, die Beteiligung der Jugendgerichtshilfe am Widerrufsverfahren zur inhaltlosen Formalie herabzustufen.

Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Gesetzgeber durch die für den Untersuchungshaft- und Strafvollzug geltenden §§ 85 Abs. 6 Satz 1, 89b Abs. 1 Satz 2, 89c Satz 2 und 114 JGG den Rechtsgedanken zum Ausdruck gebracht hat, dass die den Jugendstrafvollzug prägenden Gesichtspunkte, die noch nicht abgeschlossene Persönlichkeitsentwicklung und die darauf abgestimmte erzieherische Gestaltung des Jugendstrafvollzugs, mit zunehmendem Alter ihr Gewicht verlieren, erscheint dem Senat das fortgeschrittene Alter des Verurteilten jedoch zumindest geeignet, die Bedeutung der Beteiligung der Jugendgerichtshilfe zu relativieren. Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass in der Rechtsprechung zutreffend angenommen wird, eine mündliche Anhörung nach § 58 Abs. 1 Satz 3 JGG sei nach der Vollendung des 24. Lebensjahres des Verurteilten nicht mehr zwingend erforderlich, wenn der Widerruf allein wegen erneuter Straffälligkeit erfolgen soll (KG Berlin, Beschluss vom 11. September 2012 – 4 Ws 77/12 –, juris).

c) Der Verurteilte war schließlich durch Beschluss der Jugendkammer vom 20.09.2016 der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers unterstellt worden, der die Jugendkammer im Verlauf der Bewährungszeit über die Lebensumstände des Verurteilten in Kenntnis setzte und damit die Aufgabe der Jugendgerichtshilfe, dem Gericht ein möglichst vollständiges Bild von der Persönlichkeit, der Entwicklung und der Umwelt des Verurteilten darzulegen (vgl. hierzu: Burhoff/Kotz, Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 2. Aufl. 2016, Teil A: Rechtsmittel, Rn. 886), jedenfalls teilweise erfüllte. Der Bewährungshelfer hatte mit Berichten vom 14. Juli und vom 24. August 2020 ferner mitgeteilt, der letzte persönliche Kontakt zu dem Verurteilten habe am 30. Oktober 2019 stattgefunden; sämtliche Termine im Anschluss habe der Verurteilte nicht wahrgenommen und insgesamt eine völlig unzureichende Kontakthaltung an den Tag gelegt. Unabhängig von der Tatsache, dass hierdurch neben dem von der Jugendkammer angenommenen Widerrufsgrund des § 26 Abs. 1 Nr. 1 JGG auch der Widerrufsgrund des § 26 Abs. 1 Nr. 2 JGG verwirklicht ist, zumal weitere Strafverfahren gegen den Verurteilten anhängig sind und dieser die ihm diesbezüglich zur Last gelegten Taten jedenfalls z.T. im Rahmen einer richterlichen Anhörung eingeräumt hat, erscheint es dem Senat ausgeschlossen, dass ein Bericht der Jugendgerichtshilfe angesichts der von dem Verurteilten an den Tag gelegten Unzuverlässigkeit weitergehende Erkenntnisse erbracht hätte.

Hinzu kommt, dass die Jugendkammer aus der durchgeführten mündlichen Anhörung, in deren Rahmen sich der Verurteilte äußerst einsichtig gab, selbst von einer weiteren Straftat des Erschleichens von Leistungen wenige Tage vor der mündlichen Anhörung berichtete und bekundete, es sei ganz klar, dass „die Bewährung widerrufen werde; er sehe die Haft als „Chance“ an und wolle die ihm bis zum Haftantritt verbleibende Zeit mit seiner Freundin genießen“, weitergehende Erkenntnisse von der Persönlichkeit, der Entwicklung und der Umwelt des Verurteilten erlangte. Überdies verfügte die Jugendkammer über den umfangreichen Vermerk bzgl. der mündlichen Anhörung des Verurteilten vom 24.07.2020 beim Amtsgericht Hannover, ausweislich dessen dieser umfangreich zu seinen Lebensverhältnissen und weiteren ihm zur Last gelegten Straftaten Stellung bezog.

Nach alledem lässt das kumulative Vorliegen der dargestellten Umstände eine Beeinflussung der von der Jugendkammer zu treffenden Entscheidung durch eine Beteiligung der Jugendgerichtshilfe vorliegend ausgeschlossen erscheinen; ein Verfahrensfehler ist mithin nicht zu konstatieren.“

Corona I: Kontakt-, Alkohol- und Ausgangsverbot, oder: Was sagen Gerichte zur Wirksamkeit von Corona-VO?

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Heute dann der Start in die 4. KW.

Und ich starte mit Entscheidungen zu Corona. Zunächst stelle sich drei Entscheidungen vor, die sich mit der Wirksamkeit von Corona-Verordnungen aus zwei Bundesländern befassen, und zwar der aus Bayern und der aus Thüringen:

An der Spitze steht der Hinweis auf den BayVGH, Beschl. v. 19.01.2021 – 20 NE 21.76, über den ja auch schon an anderer Stelle berichtet worden ist. Ergangen ist der Beschluss in einem Normenkontrollverfahren eines Bürgers aus Regensburg. Der Beschluss hat im zusammengefasst etwa folgenden Inhalt:

  • Der BayVGH hat das in Bayern angeordnete Alkoholverbot im öffentlichen Raum (§ 24 Abs. 2 der 11. BayIfSMV) vorläufig außer Vollzug gesetzt. Begründung:  Nach § 28a IfSG sind  Alkoholverbote nur an bestimmten öffentlichen Plätzen vorgesehen. Die Anordnung eines Alkoholverbots für gesamt Bayern überschreite diese Verordnungsermächtigung des Bundesgesetzgebers.
  • Abgelehnt hat der BayVGH hingegen die Außervollzugsetzung der Regelungen über Kontaktbeschränkungen, wonach sich Angehörige eines Hausstandes nur noch mit einer Person eines anderen Hausstandes treffen dürfen. Diese Kontaktbeschränkungen sind nach Auffassung des BayVGH vom IfSG gedeckt, hinreichend bestimmt und angesichts des aktuellen pandemischen Geschehens auch verhältnismäßig.
  • Mit der ebenfalls angeordneten Schließung von Bibliotheken und Archiven hatte der BayVGH Probleme, da keine Ausnahmen für Bring-und Abholdienste vorgesehen sind, was Auswirkungen auf die Verhältnismäßigkeit haben könnte. Bis zu einer endgültigen Entscheidung in der Hauptsache überwiege aber das öffentliche Interesse an der Eindämmung der Corona-Pandemie das individuelle Interesse des Antragstellers, so dass der Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt worden ist.
  • Schließlich hat der BayVGH den Antrag, die 15-km-Regelung für tagestouristische Ausflüge außer Vollzug zu setzen, als unzulässig abgewiesen. Begründung hier: Der Antragsteller sei von der Regelung derzeit/noch nicht betroffen, weil die Regelung erst ab einer Sieben-Tages-Inzidenzvon 200 gelte und Regensburg eine viel niedrigere Inzidenz aufweise.

Die zweite Entscheidung, die ich dem Zusammenhang vorstelle, kommt auch aus Bayern, und zwar vom AG Straubing. Das hat sich im AG Straubing, Beschl. v. 09.01.2021 – 7 OWi 709 Js 13822/20 jug – mit der Ordnungswidrigkeit des Aufenthalts im öffentlichen Raum im Hinblick auf die Ausgangsbeschränkung nach dem BaylfSMV befasst. Der Betroffenen war durch Bußgeldbescheid zur Last gelegt worden, sich am 10.4.2020 gegen 20:30 Uhr zusammen mit einer anderen Frau in Straubing am Bahnhofsgelände aufgehalten zu haben. Darin hat der Bußgeldbescheid einen Verstoß gegen § 4 Abs. 2 der zu dem Zeitpunkt gütligen gesehen, der das Verlassen der eigenen Wohnung nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubte.

Das AG Straubing hat frei gesprochen. Kurzfassung der Begründung: § 4 Abs. 2 BaylfSMV habe das Verlassen der Wohnung verboten und nicht den Aufenthalt in der Öffentlichkeit. Nach § 5 Nr. 9 BaylfSMV sei das Verlassen der Wohnung ordnungswidrig. Eine Auslegung von § 5 Nr. 9 BaylfSMV dahingehend, dass jeder Aufenthalt in der Öffentlichkeit ohne triftigen Grund bußgeldbewehrt sei, scheitere an Art. 103 Abs. 2 GG. Der Wortlaut der Verordnung sei eindeutig. Dass der Verordnungsgeber damit möglicherweise, wie sich auch aus der Gesamtschau mit § 4 Abs. 1 BaylfSMV ergebe andere Ziele verfolgt habe, könne sein. Der Verordnungsgeber habe sich aber bewusst für die Regelung einer Ausgangssperre entschieden und nicht für Kontakt- oder Aufenthaltbeschränkungen, wie sie teilweise in anderen Bundesländern gegolten hätten. Auch habe die Verordnung keine Rückkehrpflicht nach einem Verlassen mit triftigem Grund vorgesehen.

Und als dritte Entscheidung stelle ich das AG Weimar, Urt. v. 11.01.2021 – 6 OWi – 523 Js 202518/20 – vor. Gegenstand des Verfahrens war hier eine Geburtstagsfeier in den Abendstunden des am 24.04.2020, zu der sich die Betroffene zusammen mit mindestens sieben weiteren Personen im Hinterhof eines Hauses in W. aufhielt, um den Geburtstag eines der Beteiligten zu feiern. Die insgesamt acht Beteiligten verteilten sich auf sieben verschiedene Haushalte. Dieses Verhalten des Betroffenen verstieß gegen § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 der Dritten Thüringer Verordnung über erforderliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 (3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO) vom 18.04.2020 in der Fassung vom 23.04.2020. Danach wäre maximal ein Gast aus einem anderen Haushalt erlaubt gewesen.

Das AG Weimar hat frei gesprochen. Das AG sieht die Thüringer Sars-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung (ThürSARS-CoV-2-EindmaßnV0) vom 26.03.2020 als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar und daher nichtig an. Begründung:

  • Die VO war formell verfassungswidrig: Für den Erlass der in der Verordnungen enthaltenen weitreichenden Regelungen wäre nämlich nicht die Exekutive zuständig gewesen, sondern die Legislative. Es hätte auch nicht nur eine Verordnung sondern ein Gesetz erlassen werden müssen.
  • Die VO sei auch materiell verfassungswidrig. Denn die am 28.03.2020 vom Bundestag festgesteller epidemische Lage von nationaler Tragweite“ habe es nicht gegeben habe. Die Reproduktionszahl R sei nach den den Zahlen des Robert-Koch-Instituts nämlich schon am 21.03.2020 unter den Wert Eins gefallen. Auch die Zahlen zur Übersterblichkeit, zur Intensivbettenbelegung und zur Letalität des Virus lieferten keine Grundlage für so eine Behauptung. Das müsse man bei einer Abwägung von Rechtsgütern berücksichtigen.
  • Das Kontaktverbot sei zudem nicht verhältnusmäßig (gewesen), da es gegen die in Art. 1 Abs. 1 GG als unantastbar garantierte Menschenwürde verstoße.

Ich verkneife mir lange Kommentare zu den Entscheidungen, nur so viel:

Dem BayVGH kann ich folgen, dem AG Straubing – auf den ersten Blick – auch. Mal sehen, was das BayObLG damit macht; ich gehe davon aus, dass die Staatsanwaltschaft Rechtsbeschwerde einlegen wird.

Beim AG Weimar habe ich erhebliche Probleme. Ich sehe die Zahlen und die Grundlagen für die im Frühjahr getroffenen Maßnahmen anders als das AG Weimar, dessen Urteil jetzt natürlich Wasser auf die Mühlen der Corona-Leugner ist, man muss nur mal mit dem Aktenzeichen bei Googel suchen. Ich fühle mich durch die bisherigen Maßnahmen im Übrigen auch nicht in meiner „Menschenwürde“ beeinträchtigt.

Damit aber genug. Und bzw. ach so: Ich habe die Kommentarfunktion geschlossen.Ich habe keine Zeit – und auch, das räume ich ein, keine Lust – auf lange Diskussionen. Das mögen die, die anderer Meinung sind als ich an anderer Stelle erledigen 🙂 .

BtM: Beihilfe zum Handeltreiben durch Unterlassen, oder: Garantenstellung des Wohnungsinhabers?

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Und als dritte „BtM-Entscheidung“ dann noch der BGH, Beschl. v. 21.10.2020 – 6 StR 227/20. Das LG hat die Angeklagte wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln verurteilt. Dagegen die Revision, die entsprechend auch dem Antrag des GBA Erfolg hatte.

„1. Der Schuldspruch hat keinen Bestand. Die Feststellungen belegen nicht, dass die Angeklagte ihrem Lebensgefährten Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln geleistet hat.

a) Soweit das Landgericht es als eine Beihilfehandlung gewertet hat, dass sie ihm ihre gemeinsam genutzte Wohnung einschließlich des Kellers sowie ein von ihnen beiden gepachtetes Gartengrundstück zur Verfügung gestellt und die vorübergehende Lagerung von Drogen in der Wohnung akzeptiert habe, hält dies rechtlicher Prüfung nicht stand. Ohne eine irgendwie geartete, die Handelstätigkeit objektiv fördernde Unterstützungshandlung erfüllt es nicht die Voraussetzungen einer strafbaren Beihilfe, dass der Wohnungsinhaber die Lagerung von Betäubungsmitteln und deren Verkauf aus der Wohnung heraus kennt und billigt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Februar 2016 – 4 StR 459/15, StraFo 2016, 215; vom 17. November 2011 – 2 StR 348/11, NStZ-RR 2012, 58); eine solche Unterstützungshandlung der Angeklagten lässt sich jedoch den Urteilsgründen auch in ihrer Gesamtheit nicht entnehmen.

Eine ihren Lebensgefährten in seinem Tun bestärkende Äußerung oder sonstige Verhaltensweise der Angeklagten, die gegebenenfalls als psychische Unterstützung seiner Tat gewertet werden könnte, hat die Strafkammer ebenfalls nicht festgestellt.

Mangels Garantenstellung der Angeklagten als Wohnungsinhaberin scheidet auch eine Strafbarkeit wegen Beihilfe durch Unterlassen aus, denn ein Wohnungsinhaber hat grundsätzlich nicht rechtlich dafür einzustehen, dass in seinen Räumen durch andere Personen keine Straftaten begangen werden (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 19. Dezember 2013 – 4 StR 300/13, NStZ 2014, 164; Beschluss vom 30. September 2009 – 2 StR 329/09, NStZ 2010, 221).

b) Soweit das Landgericht eine Beihilfehandlung der Angeklagten darin erblickt hat, dass sie zwischen ihrem Lebensgefährten und dessen Drogenlieferanten Nachrichten zur Durch- und Fortführung des Drogenhandels vermittelt habe, trägt dies den Schuldspruch ebenso nicht, weil sich diese Förderung nicht auf die angeklagte Tat bezieht.

Hierzu hat der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift ausgeführt:

„Feststellungen dazu, dass die Angeklagte die hier allein verfahrensgegenständliche Haupttat betreffend die in der Wohnung am 24. Mai 2019 sichergestellte Handelsmenge durch eine Vermittlung von Nachrichten oder sonstiges Mitwirken an Vereinbarungen gefördert hat, sind auch dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe nicht zu entnehmen. Die allgemeinen, hinsichtlich einzelner Lieferungen nicht näher konkretisierten Ausführungen im Rahmen des Tatvorgeschehens, nach denen Informationen zwischen dem Mitangeklagten und dem Lieferanten lediglich ‚teilweise‘ unter Vermittlung der Angeklagten erfolgten, belegen keine durchgängige Einbindung der Angeklagten bei allen vom Mitangeklagten bezogenen Handelsmengen und lassen offen, ob die Angeklagte solche Tätigkeiten auch zur Förderung der hier verfahrensgegenständlichen Tat ausgeführt hat.“

Dem schließt sich der Senat an.

BtM II: Grenzwert zur nicht geringen Menge bei „Opium“, oder: 4,5 g Morphinhydrochlorid sind zu viel g

Und als zweite Entscheidung aus dem BtM-Bereich

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der BGH, Beschl. v. 06.10.2020 – 2 StR 311/20. In ihm hat der BGH zur sog. „nicht geringen Menge“ von „Opium“ Stellung genommen.

Das LG hat den Angeklagten u.a. wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit verurteilt. Nach den Feststellungen transportierten die drei Angeklagten im Auftrag eines im Iran ansässigen Hintermannes gemeinschaftlich 18.940 g „Opium“ mit einem Wirkstoffgehalt von 1.345,72 g Morphinhydrochlorid in drei LKWs aus dem Iran nach Deutschland, wo sie dieses im Auftrag des Hintermannes an dessen Abnehmer übergeben und die Kaufpreise entgegennehmen sollten. Sie wurden nach erfolgter Einreise bei der Übergabe einer Teilmenge in L. festgenommen. Das Rauschgift war fast ausschließlich für hier lebende „iranischstämmige“ Personen bestimmt, die das „Opium“ als ein Kulturgut ansehen.

Für die Bemessung des Schuldumfangs ist die Strafkammer von einer 299-fachen Überschreitung des Grenzwertes zur nicht geringen Menge im Sinne des § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG ausgegangen, wobei sie ihrer Wertung einen Grenzwert von 4,5 g Morphinhydrochlorid für das transportierte und gehandelte „Opium“ zugrunde gelegt hat.

Der BGH sieht das etwas anders:

„2. Während die auf die Sachrüge veranlasste Überprüfung des Schuldspruchs keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat, hält der Strafausspruch rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Nach den Urteilsgründen bleibt offen, auf welcher Grundlage die Strafkammer festgelegt hat, dass 4,5 g Morphinhydrochlorid bei den sichergestellten Betäubungsmitteln eine nicht geringe Menge im Sinne des § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG darstellen.

a) Nach der in ständiger Rechtsprechung vom Bundesgerichtshof angewandten Methode zur Bestimmung des Grenzwertes eines Betäubungsmittels ist dieser stets in Abhängigkeit von der konkreten Wirkungsweise und Wirkungsintensität des Betäubungsmittels festzulegen (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juni 2018 – 1 StR 233/18, StV 2019, 338; Urteile vom 8. November 2016 – 1 StR 492/15, NStZ-RR 2017, 45; vom 5. November 2015 – 4 StR 124/14, StraFo 2016, 37, 38; vom 17. November 2011 – 3 StR 315/10; BGHSt 57, 60, 63 f.; Senat, Urteil vom 3. Dezember 2008 – 2 StR 86/08, BGHSt 53, 89, 95 f.). Bei Opium besteht die Besonderheit, dass es nicht nur als Rohstoff ein Betäubungsmittel darstellt. Es dient auch als Ausgangsmaterial zur Herstellung von Opium-Alkaloiden, wie zum Beispiel Morphin, Kodein oder Papaverin (vgl. Patzak in Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 9. Aufl., Stoffe, Teil 1. Betäubungsmittel Rn. 160). Dementsprechend gilt die Festlegung des Bundesgerichtshofs, dass bei einer überwiegend intravenös injizierten Morphinzubereitung ein Grenzwert von 4,5 g Morphinhydrochlorid für die Annahme einer nicht geringen Menge im Sinne des § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG zugrunde zu legen ist (vgl. BGH, Urteil vom 22. Dezember 1987 – 1 StR 612/87, BGHSt 35, 179 ff.), aufgrund der divergierenden Applikationsformen nicht für alle Opiumprodukte (vgl. Patzak in Körner/Patzak/Volkmer, aaO, § 29a Rn. 99). Denn die Bioverfügbarkeit unterscheidet sich etwa bei einem oralen Konsum signifikant von einer intravenösen Zuführung (vgl. BGH, Urteil vom 8. November 2016 – 1 StR 492/15, aaO, 46).

Für die Festlegung eines Grenzwerts ist daher maßgeblich, ob Rohopium, das auch gegessen, getrunken oder geraucht werden kann (vgl. zu den Konsumformen des Opiums Patzak in Körner/Patzak/Volkmer, aaO, Stoffe Teil 1. Betäubungsmittel Rn. 172; Weber, BtMG, 5. Aufl., § 1 Rn. 615; Möllers, Wörterbuch der Polizei, 3. Aufl., Opium), oder eine gefährlichere Verarbeitungsform wie beispielsweise Rauchopium (vgl. Patzak, in Körner/Patzak/Volkmer, aaO, Rn. 168) oder Rohmorphin (vgl. Patzak in Körner/Patzak/Volkmer, aaO, Rn. 179) Gegenstand des Handelns war. Denn für die Gefährlichkeit der Dosis kommt es auf die Wirkmenge an, die bei der regelmäßig zu erwartenden Darreichungsform auf den Konsumenten einwirkt (vgl. BGH, Urteil vom 8. November 2016 – 1 StR 492/15, aaO, 45; Urteil vom 22. Dezember 1987 – 1 StR 612/87, aaO, 180).

b) Hieran gemessen ist der von der Strafkammer zur Ermittlung des Schuldgehalts zugrunde gelegte Grenzwert von 4,5 g Morphinhydrochlorid für die Annahme einer nicht geringen Menge im Sinne des § 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG nicht belegt. Die Urteilsgründe lassen offen, welches Opiumprodukt dem festgestellten Tatgeschehen zugrunde lag. Der Inhalt des Gutachtens des Hessischen Landeskriminalamts, das neben der Menge und dem Wirkstoffgehalt auch die Art der sichergestellten Betäubungsmittel zum Gegenstand hat, wird nicht mitgeteilt. Ob dem Gutachten auch Ausführungen zur Festlegung eines Grenzwertes für die sichergestellten Betäubungsmittel zu entnehmen sind, bleibt offen (vgl. . bezogen auf die Festlegung des Grenzwertes . zum Darstellungserfordernis bei nicht standardisierten Sachverständigengutachten Senat, Beschluss vom 6. Mai 2020 – 2 StR 391/19, juris Rn. 10; BGH, Beschluss vom 25. April 2019 – 1 StR 427/18, NStZ 2020, 294, 297; Urteil vom 27. Oktober 1999 – 3 StR 241/99, NStZ 2000, 106, 107, jeweils mwN; vgl. auch KK-StPO/Kuckein/Bartel, 8. Aufl., § 267 Rn. 16; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 267 Rn. 13, jeweils mwN). Der Senat kann daher nicht ausschließen, dass die Strafkammer der Verurteilung des Angeklagten einen zu großen Schuldgehalt zugrunde gelegt hat.“

Aber:

„c) Der Rechtsfehler lässt den Schuldspruch unberührt. Angesichts der sichergestellten Betäubungsmittel mit einer Gesamtmenge von 1.345,72 g Morphinhydrochlorid ist, unabhängig von der exakten Bemessung des Grenzwerts für die hier eingeführten und gehandelten Betäubungsmittel, eine nicht geringe Menge im Sinne der § 30 Abs. 1 Nr. 4, § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG zweifelsfrei belegt (vgl. zum Grenzwert der nicht geringen Menge von Morphinhydrochlorid in Schlafmohnkapseln BGH, Urteil vom 8. November 2016 – 1 StR 492/15, aaO, 45 f.).“

Und für die neue Hauptverhandlung gibt es dann gleich noch den Hinweis auf (alte) Rechtssprechung aus Köln. Der BGH weist darauf hin, dass die Bestimmung des Grenzwertes für Roh- oder Rauchopium mit 6 g Morphinhydrochlorid nicht unbedenklich ist. Dann weist die „neue“ Strafkammer schon mal, wo die Grenzen liegen 🙂 .