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Rechtsfolge I: Jugendstrafe beim „alten“ Jugendlichen, oder: Erziehungsgedanke im fortschreitenden Alter

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Den Tag gestalte ich hier heute mit Entscheidungen, die mit Rechtsfolgen zu tun haben. „Strafzumessung“ kann ich nicht als „Oberthema“ nennen, da auch eine Entscheidung aus dem Bußgeldverfahren vorgestellt wird.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 06.06.2023 – 2 StR 78/23 -, der sich mit den Anforderungen an die Jugendstrafe befasst. Der BGH hat die Veurteilung des Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten bei Strafaussetzung zur Bewährung aufgehoben:

„1. Es ist zwar rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht bei dem Angeklagten – zur Tatzeit Heranwachsender – Jugendstrafrecht angewendet und wegen Schwere der Schuld Jugendstrafe verhängt hat. Die Erwägungen des Landgerichts zur Höhe der Jugendstrafe erweisen sich hingegen als rechtsfehlerhaft; sie entsprechen nicht den Anforderungen des § 18 Abs. 2 JGG.

a) Nach dieser Vorschrift ist auch dann, wenn eine Jugendstrafe ausschließlich wegen Schwere der Schuld verhängt wird, bei der Bemessung der Strafhöhe der das Jugendstrafrecht beherrschende Erziehungsgedanke (§ 2 Abs. 1, § 18 Abs. 2 JGG) vorrangig zu berücksichtigen. Grundsätzlich ist zwar die in den gesetzlichen Regelungen des allgemeinen Strafrechts zum Ausdruck kommende Bewertung des Ausmaßes des in einer Straftat hervorgetretenen Unrechts auch bei der Bestimmung der Höhe der Jugendstrafe zu beachten. Die Begründung darf aber nicht wesentlich oder gar ausschließlich nach solchen Zumessungserwägungen vorgenommen werden, die auch bei Erwachsenen in Betracht kommen. Die Bemessung der Jugendstrafe erfordert vielmehr von der Jugendkammer, das Gewicht des Tatunrechts gegen die Folgen der Strafe unter erzieherischen Gesichtspunkten abzuwägen. Die Urteilsgründe müssen daher in jedem Fall erkennen lassen, dass dem Erziehungsgedanken die ihm zukommende Beachtung geschenkt worden ist. Eine formelhafte Erwähnung der erzieherischen Erforderlichkeit der verhängten Jugendstrafe genügt insoweit nicht (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 29. November 2017 – 2 StR 460/16, BGHR JGG § 18 Abs. 2 Erziehung 12; Urteile vom 13. November 2019 – 2 StR 217/19 und vom 10. November 2021 – 2 StR 433/20, juris Rn. 29; BGH, Urteil vom 13. Dezember 2021 – 5 StR 115/21, juris Rn. 14; Urteil vom 21. Juli 2022 – 4 StR 177/22, juris Rn. 6; Beschluss vom 7. Februar 2023 – 3 StR 481/22, juris Rn. 14 ff.).

Zwar verliert der Erziehungsgedanke mit fortschreitendem Alter des Täters an Bedeutung, wohingegen – insbesondere bei besonders gravierenden Straftaten – das Erfordernis des gerechten Schuldausgleichs immer mehr in den Vordergrund tritt. Gleichwohl müssen grundsätzlich auch dann, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Verhängung der Jugendstrafe bereits das 21. Lebensjahr vollendet hat, die erzieherischen Auswirkungen der Strafe beachtet und abgewogen werden (vgl. Senat, Beschluss vom 29. November 2017 – 2 StR 460/16, BGHR JGG § 18 Abs. 2 Erziehung 12; vgl. zum Sonderfall eines fehlenden Erziehungsbedarfs Senat, Urteil vom 13. November 2019 – 2 StR 217/19, NStZ 2020, 301).

b) Ungeachtet des Umstandes, dass in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Frage, in welchem Ausmaß dies zu geschehen hat, nicht abschließend geklärt ist, lassen die Urteilsgründe im vorliegenden Fall besorgen, dass es die zu berücksichtigenden erzieherischen Gesichtspunkte nicht hinreichend in den Blick genommen und das Gewicht des Tatunrechts nicht gegen die Folgen der Strafe gerade für die weitere Entwicklung des im Tatzeitraum 19 Jahre alten Angeklagten abgewogen hat.

Es ist bereits im Ausgangspunkt bedenklich, wenn das Landgericht gestützt auf eine Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 20. März 2019 – 3 StR 452/18, StV 2019, 466) davon ausgeht, bei einem 23 Jahre alten Angeklagten rücke statt des Erziehungsgedankens entsprechend dem Erwachsenenstrafrecht der Strafzweck des gerechten Schuldausgleichs in den Vordergrund. Eine solche Festlegung ist der genannten Entscheidung nicht zu entnehmen. Der Senat hat dort vielmehr betont, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Erziehungsgedanke bei der Bemessung der Jugendstrafe grundsätzlich immer einzustellen sei und die Urteilsgründe in jedem Fall erkennen lassen müssten, dass diesem die ihm zukommende Beachtung geschenkt worden sei. Soweit andere Strafzwecke, etwa derjenige eines gerechten Schuldausgleichs, ebenfalls in Ansatz zu bringen seien, sei vom Tatgericht im Rahmen einer umfassenden Abwägung festzulegen, welches Gewicht den einzelnen Zumessungserwägungen im Einzelfall zukomme.

Ungeachtet des rechtlich bedenklichen Maßstabs, den das Landgericht seiner Würdigung zugrunde gelegt hat, hat es nicht lediglich den Strafzweck des gerechten Schuldausgleichs „in den Vordergrund“ gerückt. Es hat sich vielmehr fast ausschließlich an im Erwachsenenstrafrecht geltenden Strafzumessungserwägungen orientiert, indem es vor allem das Geständnis des Angeklagten, seinen jeweiligen Tatbeitrag sowie das Maß der aufgewendeten kriminellen Energie, das Ausmaß der verursachten Verletzungen bzw. deren Fehlen, den Zeitablauf seit Begehung der Taten, den zeitlichen Zusammenhang zwischen den Taten, die lange Verfahrensdauer, die Belastung durch die erlittene Untersuchungshaft und die Vorstrafen herangezogen hat. Eine Auseinandersetzung mit der Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten und dem sich hieraus ergebenden konkreten Erziehungsbedarf hat es demgegenüber nicht vorgenommen. Der Erziehungsgedanke wird in den Urteilsgründen lediglich einmal formelhaft erwähnt, wenn die Strafkammer mitteilt, dass „bereits die Vollstreckung der – knapp 3-wöchigen – Untersuchungshaft nicht unerheblich erzieherisch auf den Angeklagten eingewirkt“ habe. Angesichts dessen und nicht zuletzt auch mit Blick auf die die Strafbemessung abschließende Erwägung des Landgerichts, wonach „unter Abwägung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände eine Jugendstrafe in der ausgeurteilten Höhe als „tat- und schuldangemessen“ erachtet werde, besorgt der Senat, dass es die Ausrichtung der Höhe der Jugendstrafe am Erziehungsgedanken vollständig aus dem Blick verloren hat.“

Strafzumessung III: Beurteilung der Schuldschwere, oder: Liegen noch schädliche Neigungen vor?

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Und als dritte und letzte Entscheidung des Tages stelle ich den OLG Brandenburg, Beschl. v. 28.07.2022 – 2 OLG 53 Ss 43/22 – vor. Er nimmt Stellung zu den Voraussetzungen der Verhängung von Jugendstrafe (§ 17 JGG).

Das AG Fürstenwalde/Spree hat den Angeklagten wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen versuchten Diebstahls im besonders schweren Fall zu einer Einheitsjugendstrafe von 2 Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten hat schon aus anderem Grund (teilweise) Erfolg und führt schon deshalb zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs.Das OLG beanstandet die Strafzumessungserwägungen des AG aber auch darüber hinaus:

„Darüber hinaus sind die Strafzumessungserwägungen des Amtsgerichts im Übrigen auch nicht frei von Rechtsfehlern.

a) Hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs ist zu bedenken, dass auch Ausführungen dazu erforderlich sind, ob und warum für den Angeklagten vom Vorliegen schädlicher Neigungen im Sinne von § 17 Abs. 2 JGG nicht nur im Zeitpunkt der vorliegenden Taten, sondern trotz zuvor in Rumänien verbüßter Strafhaft und zwischenzeitlicher Untersuchungshaft auch noch im Zeitpunkt des Urteilserlasses auszugehen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Januar 2016, – 3 StR 473/15 – m. w. N., juris). Frühere Straftaten, mit denen schädliche Neigungen begründet werden, sind unter konkreter Darstellung der ihnen zugrunde liegenden Feststellungen mit Blick auf die Erforderlichkeit der Verhängung einer Jugendstrafe zu bewerten (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 26. Oktober 2021 – 4 Rvs 109/21, BeckRS 2021, 33763 Rn. 6 m. w. N.). Das angefochtene Urteil legt aber weder eindeutig dar, ob das erkennende Jugendschöffengericht das Vorliegen schädlicher Neigungen annimmt, noch werden dem vorliegend angefochtenen Erkenntnis vorausgehende Verurteilungen, insbesondere aus Rumänien, hinsichtlich der dortigen Feststellungen konkret und damit revisionsrechtlich überprüfbar dargelegt.

b) Das Jugendschöffengericht stützt die Verhängung der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld maßgeblich darauf, dass der Angeklagte sich eines „Kapitalverbrechens“ (§§ 249 Abs. 1, 250 Abs. 1 Nr. 1a) StGB) schuldig gemacht habe. Bei der Beurteilung der Schuldschwere i. S. v. § 17 Abs. 2 2. Alt. JGG kommt jedoch dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat und ihrer Einstufung im Strafgesetzbuch als Verbrechen keine selbständige Bedeutung zu. Entscheidend ist vielmehr, inwieweit sich die charakterliche Haltung und die Persönlichkeit sowie die Tatmotivation des Jugendlichen oder Heranwachsenden in vorwerfbarer Schuld niedergeschlagen haben. Maßgeblicher Anhaltspunkt ist die innere Tatseite. Der äußere Unrechtsgehalt der Tat ist nur insofern von Belang, als aus ihm Schlüsse auf die Persönlichkeit des Täters und das Maß der Schuld gezogen werden können (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2011 – 3 StR 353/11, NStZ 2012, 164).

c) Auch die konkrete Strafzumessung begegnet rechtlichen Bedenken, weil aus den Urteilsgründen nicht zweifelsfrei zu erkennen ist, dass sich das Jugendschöffengericht bei der Bemessung der Höhe der Freiheitsstrafe am Erziehungsgedanken orientiert hat (§ 18 Abs. 2 JGG). In den Urteilsgründen findet der Erziehungsgedanke lediglich formelhaft Erwähnung. Nach § 18 Abs. 2 JGG ist die Höhe der Jugendstrafe in erster Linie an erzieherischen Gesichtspunkten auszurichten. Die Urteilsgründe müssen erkennen lassen, dass dem Erziehungsgedanken die ihm zukommende Beachtung geschenkt und bei der Bemessung der Jugendstrafe das Gewicht des Tatunrechts gegen die Folgen der Strafe für die weitere Entwicklung des Heranwachsenden abgewogen worden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Januar 2015 – 3 StR 581/14, NStZ-RR 2015, 154 f., m. w. N.; OLG Celle, Beschluss vom 26. Juni 2012 – 32 Ss 78/12, NStZ, 2012, 576 f.). Allerdings darf der Strafzweck des gerechten Schuldausgleichs bei besonders schwerem Unrecht nicht völlig hinter dem Erziehungsgedanken zurücktreten (vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl. § 46 Rn. 18 m. w. N.); dies gilt insbesondere bei schweren Gewaltdelikten (vgl. BGH, Urteil vom 10. Februar 2022 – 3 StR 436/21, BeckRS 2022, 5043 Rn. 16 f.). Welches Gewicht den einzelnen Zumessungserwägungen zukommt ist vom Einzelfall abhängig. Das Tatgericht hat dazu eine umfassende Abwägung vorzunehmen (vgl. BGH, a. a. O., Rn. 17 m. w. N.).

d) Soweit – gegebenenfalls gemäß § 31 Abs. 1 JGG – eine (Einheits-) Jugendstrafe zu bilden ist, kommt dem Vorliegen eines minder schweren Falles (hier gemäß § 250 Abs. 3 StGB) für die Bewertung des Unrechts hinsichtlich Fall II. Nr. 1 der Urteilsgründe jedenfalls Bemessungsrelevanz zu (vgl. BGH, a. a. O., Rn. 18; Beschluss vom 17. Februar 1989 – 3 StR 3/89, BeckRS 1989, 31106193; Eisenberg/Kölbel, JGG, 23. Aufl., § 18 Rn. 24 f., m. w. N.), sodass dessen Voraussetzungen zu prüfen und gemäß § 267 Abs. 3 Satz 2 StPO im Urteil darzustellen sind (vgl. Eisenberg/Kölbel, a. a. O., § 18 Rn. 24). Auch mit diesem für die Strafzumessung erheblichen Gesichtspunkt setzt sich das Jugendschöffengericht in dem angefochtenen Urteil nur formelhaft auseinander.“

JGG I: Verhängung einer (Einheits)Jugendstrafe, oder: Anforderungen an die Urteilsgründe

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Ich stelle heute dann drei Entscheidungen zum JGG, also Jugendstrafrecht, vor.

Den Opener macht der OLG Hamm, Beschl. v. 26.10.2021 – 4 RVs 109/21 –, der zu en Urteilsgründen in den Fällen der Verhängung einer Jugenstraf ausführt. Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Dagegen die Revision, die beim OLG Erfolg hatte:

„Die zulässige Revision des Angeklagten hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg und führt insoweit zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache (§§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 2 StPO). Im Übrigen ist sie offensichtlich unbegründet i.S.v. § 349 Abs. 2 StPO. …..

2. Der Rechtsfolgenausspruch des angefochtenen Urteils weist hingegen einen durchgreifenden Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten auf. Bei der Verhängung von Jugendstrafe ist eine besonders sorgfältige Sanktionsbegründung erforderlich, die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts zu überprüfen ist. Es muss das Vorliegen schädlicher Neigungen eingehend – und nicht nur formelhaft – begründet und angegeben werden, welcher Art diese sind. Zu früheren Straftaten, mit denen schädliche Neigungen begründet werden, müssen konkrete tatsächliche Feststellungen getroffen werden und der Richter muss sich damit auseinandersetzen, warum gerade die abgeurteilte Tat die Verhängung einer Jugendstrafe erfordert (OLG Hamm NStZ-RR 1999, 377; OLG Köln, Beschl. v. 05.03.2010 – 1 RVs 26/10 – juris; Brunner/Dölling in: Brunner/Dölling, Jugendgerichtsgesetz, 13. Aufl. 2017, § 54 Rdn. 16).

Die Urteilsgründe sind hier insoweit lückenhaft, als sie nähere Angaben zu den beiden Verurteilungen wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz aus Juli 2020 und Januar 2021 vermissen lassen. Zwar stützt der Tatrichter seine Wertung, dass bei dem Angeklagten schädliche Neigungen vorliegen, nicht allein auf diese beiden Verurteilungen, sondern auf sämtliche Umstände, die er im Rahmen der Strafmessung benannt hat („sind aufgrund dessen“, UA S. 5). Der Tatrichter stützt jedoch seine Überzeugung, dass die schädlichen Neigungen gerade auch zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch bestanden, auf diese beiden Verurteilungen. Selbst wenn diese Annahme angesichts der neuerlichen Verurteilung nicht fernliegt, kann der Senat aufgrund der lückenhaften Feststellungen zu den beiden genannten Verurteilungen letztlich nicht prüfen, ob die Wertung rechtsfehlerfrei ist. Das gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass vor diesen Verurteilungen zunächst eine „Delinquenzpause“ bzw. „Verurteilungspause“ von knapp zwei Jahren (2018-2020) eingetreten war und die beiden Verstöße gegen das Waffengesetz auch auf völlig anderem Gebiet als die noch frühere Delinquenz liegen.

Nicht erkennbar hat der Tatrichter auch die im Rahmen der Bewährungsprognose genannten Umstände einer inzwischen aufgenommenen schulischen Ausbildung und deren Auswirkungen auf etwaige in der Vergangenheit vorliegende schädliche Neigungen gewertet.“

Bewährung I: Beteiligung der Jugendgerichtshilfe am Widerrufsverfahren, oder: Beim 27-Jährigen nicht mehr

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Heute mal dann mal ein Tag mit Bewährungsentscheidungen, allerdings nicht zur Frage der Gewährung von Bewährung sondern zu Widerrufsfrage,

Und ich beginne den Tag mit dem OLG Celle, Beschl. v. 05.10.2020 – 2 Ws 321/29 – zur Frage der Notwendigkeit der Beteiligung der Jugendgerichtshilfe (JGH) am Verfahren hinsichtlich eines in Betracht kommenden Widerrufes der Strafaussetzung zur Bewährung gem. § 26 JGG.

Das LG hatte die einem „Jugendlichen“ gewährte Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen. An dem Verfahren war die Jugendgerichtshilfe nicht beteiligt. Das OLG Celle hat darin keinen Verfahrensfehler gesehen:

„2. Der Beschluss ist auch nicht verfahrensfehlerhaft ergangen, obwohl die Jugendkammer die Jugendgerichtshilfe im Rahmen des zu prüfenden Widerrufes der Bewährung gem. § 26 JGG nicht beteiligt hat.

Das bei einem Widerruf der Bewährung gem. § 26 JGG einzuhaltende Verfahren richtet sich – wenn der Verurteilte, wie vorliegend, im Zeitpunkt der Begehung der der Anlassverurteilung zugrundeliegenden Taten Heranwachsender war – nach § 109 Abs. 2 JGG i.V.m. § 58 JGG.

Es ist in der Rechtsprechung und der Literatur anerkannt, dass grundsätzlich am Widerrufsverfahren gem. § 58 JGG die gem. § 38 Abs. 6 S. 1 JGG im gesamten Verfahren gegen einen Jugendlichen heranzuziehende Jugendgerichtshilfe zu beteiligen ist (OLG Koblenz, Beschluss vom 23. März 2016 – 2 Ws 150/16 –, juris; BeckOK JGG/Kilian, 18. Ed. 1.8.2020, JGG § 58, Rn. 18; Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, 10. Auflage 2016, § 58, Rn. 11; Schatz in: Diemer/Schatz/Sonnen, Jugendgerichtsgesetz, 8. Aufl. 2020, § 58, Rn. 22, Frommeyer, StraFo 2018, S. 493 ff; a.A.: Brunner/Dölling in: Brunner/Dölling, Jugendgerichtsgesetz, 13. Aufl. 2017, § 58, Rn. 4, wonach die Beteiligung der JGH meist lediglich angebracht sein soll).

Vorliegend ist die Einholung einer Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe unterblieben; ein Verfahrensfehler ist angesichts der Gesamtumstände des vorliegenden Einzelfalles gleichwohl nicht gegeben. Denn der Senat erachtet eine Beteiligung der Jugendgerichtshilfe in Konstellationen, bei denen sie nach den maßgeblichen Gesamtumständen des Einzelfalles nicht geeignet erscheint, ergänzende sachdienliche, für die anstehende Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung gem. § 26 JGG maßgebliche Informationen zu Tage zu fördern und daher zur reinen Formalie verkommt, für entbehrlich.

So liegt der Fall hier. Die Vornahme einer Betrachtung aller maßgeblichen Umstände ergibt, dass die Beteiligung der Jugendgerichtshilfe nicht geeignet ist, die Entscheidung über den von der Staatsanwaltschaft beantragten Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung zu beeinflussen, weshalb der Senat davon abgesehen hat, im Beschwerdeverfahren nachträglich selbst die Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe einzuholen.

a) Insoweit war zunächst zu berücksichtigen, dass Grundlage für den von der Jugendkammer beschlossenen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung allein die durch die Begehung neuer Straftaten widerlegte Aussetzungsprognose war. Insoweit ergibt sich die Grundlage für den Widerruf gem. § 26 Abs. 1 Nr. 1 JGG zwanglos aus den schriftlichen Urteilsgründen des Urteils des Amtsgerichts Hannover vom 06.02.2020, denen Art und Umfang der Taten hinreichend zu entnehmen ist. Zudem konnte sich die Jugendkammer im Rahmen der mündlichen Anhörung des Verurteilten davon überzeugen, dass der Begehung der neuerlichen Taten keine besonderen, vorteilhaften Umstände zugrunde lagen, die die neuerliche Straffälligkeit nicht in einem minder schweren Licht erscheinen ließen.

b) Der Verurteilte war im Zeitpunkt seiner mündlichen Anhörung zudem bereits fast 27 Jahre alt.

Der Senat verkennt nicht, dass sich das bei einem Widerruf der Bewährung gem. § 26 JGG einzuhaltende Verfahren auch dann nach § 109 Abs. 2 i.V.m. § 58 JGG richtet, wenn der Ver-urteilte – wie hier – im Zeitpunkt der Widerrufsentscheidung bereits erwachsen ist (OLG Hamm, Beschluss vom 08. November 2016 – III-3 Ws 396/16 –, juris). Zudem ist den Regelungen des Sozialgesetzbuches zur Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) zu entnehmen, dass der Gesetz-geber auch eine Betreuung von bereits 26 Jahre alten jungen Erwachsenen durch die Jugendgerichtshilfe für erforderlich hält, denn nach § 52 Abs. 3 SGB VIII hat der Mitarbeiter des Jugendamts oder des anerkannten Trägers der freien Jugendhilfe, der nach § 38 Absatz 2 Satz 2 des Jugendgerichtsgesetzes tätig wird, einen jungen Volljährigen während des gesamten Verfahrens zu betreuen, wobei als junger Volljähriger gilt, wer 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII).

Vor diesem Hintergrund erscheint der Umstand, dass sich der Verurteilte inzwischen deutlich vom Alter des Heranwachsenden i.S.v. § 1 Abs. 2 JGG entfernt hat, isoliert betrachtet nicht geeignet, die Beteiligung der Jugendgerichtshilfe am Widerrufsverfahren zur inhaltlosen Formalie herabzustufen.

Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Gesetzgeber durch die für den Untersuchungshaft- und Strafvollzug geltenden §§ 85 Abs. 6 Satz 1, 89b Abs. 1 Satz 2, 89c Satz 2 und 114 JGG den Rechtsgedanken zum Ausdruck gebracht hat, dass die den Jugendstrafvollzug prägenden Gesichtspunkte, die noch nicht abgeschlossene Persönlichkeitsentwicklung und die darauf abgestimmte erzieherische Gestaltung des Jugendstrafvollzugs, mit zunehmendem Alter ihr Gewicht verlieren, erscheint dem Senat das fortgeschrittene Alter des Verurteilten jedoch zumindest geeignet, die Bedeutung der Beteiligung der Jugendgerichtshilfe zu relativieren. Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass in der Rechtsprechung zutreffend angenommen wird, eine mündliche Anhörung nach § 58 Abs. 1 Satz 3 JGG sei nach der Vollendung des 24. Lebensjahres des Verurteilten nicht mehr zwingend erforderlich, wenn der Widerruf allein wegen erneuter Straffälligkeit erfolgen soll (KG Berlin, Beschluss vom 11. September 2012 – 4 Ws 77/12 –, juris).

c) Der Verurteilte war schließlich durch Beschluss der Jugendkammer vom 20.09.2016 der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers unterstellt worden, der die Jugendkammer im Verlauf der Bewährungszeit über die Lebensumstände des Verurteilten in Kenntnis setzte und damit die Aufgabe der Jugendgerichtshilfe, dem Gericht ein möglichst vollständiges Bild von der Persönlichkeit, der Entwicklung und der Umwelt des Verurteilten darzulegen (vgl. hierzu: Burhoff/Kotz, Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 2. Aufl. 2016, Teil A: Rechtsmittel, Rn. 886), jedenfalls teilweise erfüllte. Der Bewährungshelfer hatte mit Berichten vom 14. Juli und vom 24. August 2020 ferner mitgeteilt, der letzte persönliche Kontakt zu dem Verurteilten habe am 30. Oktober 2019 stattgefunden; sämtliche Termine im Anschluss habe der Verurteilte nicht wahrgenommen und insgesamt eine völlig unzureichende Kontakthaltung an den Tag gelegt. Unabhängig von der Tatsache, dass hierdurch neben dem von der Jugendkammer angenommenen Widerrufsgrund des § 26 Abs. 1 Nr. 1 JGG auch der Widerrufsgrund des § 26 Abs. 1 Nr. 2 JGG verwirklicht ist, zumal weitere Strafverfahren gegen den Verurteilten anhängig sind und dieser die ihm diesbezüglich zur Last gelegten Taten jedenfalls z.T. im Rahmen einer richterlichen Anhörung eingeräumt hat, erscheint es dem Senat ausgeschlossen, dass ein Bericht der Jugendgerichtshilfe angesichts der von dem Verurteilten an den Tag gelegten Unzuverlässigkeit weitergehende Erkenntnisse erbracht hätte.

Hinzu kommt, dass die Jugendkammer aus der durchgeführten mündlichen Anhörung, in deren Rahmen sich der Verurteilte äußerst einsichtig gab, selbst von einer weiteren Straftat des Erschleichens von Leistungen wenige Tage vor der mündlichen Anhörung berichtete und bekundete, es sei ganz klar, dass „die Bewährung widerrufen werde; er sehe die Haft als „Chance“ an und wolle die ihm bis zum Haftantritt verbleibende Zeit mit seiner Freundin genießen“, weitergehende Erkenntnisse von der Persönlichkeit, der Entwicklung und der Umwelt des Verurteilten erlangte. Überdies verfügte die Jugendkammer über den umfangreichen Vermerk bzgl. der mündlichen Anhörung des Verurteilten vom 24.07.2020 beim Amtsgericht Hannover, ausweislich dessen dieser umfangreich zu seinen Lebensverhältnissen und weiteren ihm zur Last gelegten Straftaten Stellung bezog.

Nach alledem lässt das kumulative Vorliegen der dargestellten Umstände eine Beeinflussung der von der Jugendkammer zu treffenden Entscheidung durch eine Beteiligung der Jugendgerichtshilfe vorliegend ausgeschlossen erscheinen; ein Verfahrensfehler ist mithin nicht zu konstatieren.“

Keine Einstellung als Wachpolizist wegen Jugendstrafe, und zwar auch nicht nach neun Jahren

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Im „Kessel Buntes“ heute dann mal Arbeitsrecht, und zwar das LAG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 17.05.2018 – 10 Sa 163/18. Arbeitsrecht habe ich hier bisher nur ganz wenig gemacht. Dies ist aber mal eine Entscheidung, die passt. Es geht um die Auswirkungen einer Verurteilung zu einer Jugendstrafe auf die Einstellung eines Bewerbers für eine Tätigkeit als Polizeiangestellter im Objektschutz. Das Land Berlin hatte das wegen einer Jugendstrafe abgelehnt. Der Bewerber war 2009 aufgrund einer schweren Körperverletzung als 20-jähriger zu einer Jugendstrafe von acht Monaten verurteilt worden war. Im Bewerbungs-Einstellungsverfahren stellte das Land Berlin zunächst eine Einstellung vorbehaltlich des Ergebnisses der Leumundsprüfung in Aussicht, lehnte diese dann jedoch ab, nachdem es im Zuge der weiteren Prüfung Kenntnis von der Verurteilung erhalten hatte. Das Land ist trotz des längeren Zeitraums seit der strafrechtlichen Verurteilung von fehlender Eignung für eine Tätigkeit als Polizeiangestellter im Objektschutz ausgegangen. Es stützte sich dabei auf eine Stellungnahme des Bewerbers im Einstellungsverfahren, aus der sich ergebe, dass er seine Tat – eine Körperverletzung unter Einsatz eines Messers – noch immer relativiere. Klage und Berufung des Bewerbers hatten keinen Erfolg. Das LAG hat es so wie das Land Berlin gesehen:

„2.3 Art. 33 Abs. 2 GG gibt jedem Bewerber ein subjektives Recht auf chancengleiche Teilnahme am Bewerbungsverfahren. Der Bewerber hat ein grundrechtsgleiches Recht auf ermessens- und beurteilungsfehlerfreie Einbeziehung in die Bewerberauswahl (vgl. BAG, Urteil vom 6. Mai 2014 – 9 AZR 724/12). Mit den Begriffen „Eignung, Befähigung und fachliche Leistung“ eröffnet Art. 33 Abs. 2 GG bei Entscheidungen über Einstellungen einen Beurteilungsspielraum des Dienstherrn. Dieser unterliegt schon von Verfassungs wegen einer nur begrenzten gerichtlichen Kontrolle (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. November 2011 – 2 BvR 2305/11). Der Dienstherr hat die gesetzlichen Vorgaben – und damit insbesondere den Grundsatz der Bestenauslese – zu berücksichtigen und darf sich nicht von sachwidrigen Erwägungen leiten lassen (BVerfG, Beschluss vom 2. Oktober 2007 – 2 BvR 2457/04). Das bedeutet, dass sich die gerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle darauf zu beschränken hat, ob die Behörde die anzuwendenden Begriffe oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat, ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachwidrige Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen hat. Dementsprechend kann ein Bewerber um ein öffentliches Amt grundsätzlich nur verlangen, dass seine Bewerbung nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung geprüft und nicht nach unzulässigen Kriterien differenziert wird (BAG, Urteil vom 12. November 2008 – 7 AZR 499/08).

Diesen Anforderungen entspricht die Entscheidung des beklagten Landes, den Kläger nicht als Polizeiangestellten einzustellen. Grundsätzlich besteht auch Einigkeit sowohl zwischen den Parteien wie auch mit dem Arbeitsgericht, dass einem wegen einer gefährlichen Körperverletzung verurteilten Straftäter die charakterliche Eignung als Wachpolizist fehlen dürfte. Fraglich ist allein, wie der Beklagte in dem Vermerk vom 16. Oktober 2017 ausgeführt hat, ob der große Zeitabstand zwischen Tat und der Bewerbung sowie die Tatsache, dass der Bewerber seither nicht noch einmal polizeilich in Erscheinung getreten ist, zu einer anderen Beurteilung führen muss. Zu der Verurteilung hatte der Kläger sich in einer schriftlichen Stellungnahme vom 21. September 2017 erklärt. Auch wenn er diese nach seinen Angaben in der Berufungsverhandlung auf telefonische Anforderung des Beklagten am Abend des 20. September 2017 sehr kurzfristig erstellt hatte, hatte der Kläger sie abgegeben. Insofern war es nicht nur sachgerecht, sondern ausdrücklich geboten, dass der Beklagte auch diese Stellungnahme bei der Auswahlentscheidung berücksichtigt. Genau das hat der Beklagte am Ende des Vermerks vom 16. Oktober 2017 getan und aus der Stellungnahme abgeleitet, dass der Kläger auch aktuell noch dazu neige, das damalige Geschehen zu relativieren und eine unverhältnismäßige Handlung als Notwehrhandlung zu beschreiben weshalb die behauptete Reue als floskelhaft anzusehen sei.

Somit ist der Beklagte von dem richtigen Sachverhalt ausgegangen, hat keine sachwidrigen Erwägungen angestellt und auch nicht gegen Verfahrensvorschriften verstoßen. Der Beklagte hat bei der Beurteilung der charakterlichen Eignung des Klägers allgemeingültige Wertmaßstäbe angewandt. Die Auswahlentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 GG ist umfassend. Sie hat alle Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die für die Kriterien Eignung, Befähigung und fachliche Leistung relevant sind. Neben der fachlichen und der physischen Eignung, die beim Kläger im September 2017 unstreitig gegeben waren, zählt hierzu auch die charakterliche Eignung bzw. der Leumund des Bewerbers. Deren Beurteilung erfordert wie vom Beklagten im Vermerk vom 16. Oktober 2017 dokumentiert eine wertende Würdigung aller Aspekte des Verhaltens des Einstellungsbewerbers, die Aufschluss über die für die charakterliche Eignung relevanten persönlichen Merkmale, wie etwa Loyalität, Aufrichtigkeit und Zuverlässigkeit, Fähigkeit zur Zusammenarbeit und Dienstauffassung geben können (BVerwG, Urteil vom 20. Juli 2016 – 2 B 17/16).“