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StPO III: Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung, oder: Eingeschränkte Schuldfähigkeit/Blutprobe

Und dann noch eine Entscheidung aus dem Berufungsverfahren, und zwar der

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Das AG hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt. Auf die Berufung des Angeklagten hat das LG eine Beschränkung des Rechtsmittels auf die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung für wirksam erachtet und  die Berufung des Angeklagten als unbegründet verworfen. Mit seiner unbeschränkten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts und äußert Zweifel an seiner Schuldfähigkeit. Die Revision hatte Erfolg:

„Die gemäß § 333 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 341 Abs. 1, §§ 344, 345 StPO) Revision des Angeklagten hat bereits deshalb einen vorläufigen Erfolg, weil das Landgericht mangels hinreichender Feststellungen des Amtsgerichts zur Alkoholisierung des Angeklagten nicht von einer wirksamen Beschränkung der Berufung ausgehen durfte (vgl. Senat, Beschluss vom 6. Dezember 2022 – 203 StRR 481/22-, juris).

Für eine rechtsfehlerfreie Prüfung der Voraussetzungen von §§ 20, 21 StGB ist der Tatrichter nach der gefestigten höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich verpflichtet, die Tatzeit-Blutalkoholkonzentration (BAK) des Täters für das Revisionsgericht nachvollziehbar zu errechnen, sobald und soweit die Schuldfähigkeit durch Alkoholmissbrauch eingeschränkt oder ausgeschlossen gewesen sein könnte (Senat a.a.O. Rn. 6; BayObLG, Beschluss vom 2. Februar 2001 – 5 StRR 20/01 -, juris Rn. 9). Bei einem erkennbar alkoholisierten Täter hat für die Beurteilung der Schuldfähigkeit die Berechnung der BAK zur Tatzeit vorauszugehen, um den Grad der Alkoholisierung auf einer hinreichenden Faktenbasis einschätzen zu können (Senat a.a.O. m.w.N.).

Die danach gebotene Feststellung des Blutalkoholwerts hat das Amtsgericht versäumt und eine Schuldunfähigkeit ohne tragfähige Tatsachengrundlage ausgeschlossen, obwohl sich der Angeklagte auf einen „Filmriss“ berufen hat. Das Landgericht hätte daher nicht von der Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung ausgehen dürfen und das Urteil des Amtsgerichts umfassend im Schuldspruch mit eigenen Feststellungen zur Frage der Schuldfähigkeit überprüfen müssen (vgl. Senat a.a.O. Rn. 4, 9; BayObLG, Beschluss vom 2. Februar 2001 – 5 StRR 20/01 –, juris Rn. 6 ff., 9). Die bisherigen Feststellungen tragen auch keine Verurteilung wegen Vollrausches nach § 323a StGB, so dass der Senat offen lassen kann, ob in diesem Fall die Beschränkung der Berufung wirksam wäre.

Die neue Strafkammer wird – gegebenenfalls unter Inanspruchnahme von sachverständiger Hilfe – die tatsächlichen Grundlagen, die für die Beurteilung der Schuldfähigkeit mit Blick auf den der Tat vorangegangenen Alkoholkonsum von Bedeutung sind, zu klären und hierzu Feststellungen zu treffen haben (vgl. Senat a.a.O. Rn. 6).

Sollte ein Blutprobe-Blutalkoholkonzentrationswert fehlen, rechtfertigt dies nicht, von Feststellungen zur Blutalkoholkonzentration abzusehen (Senat a.a.O.). Vielmehr ist der Alkoholgehalt der insgesamt konsumierten Alkoholmenge anhand von Trinkmengenangaben des Angeklagten und möglicher Zeugen festzustellen und sodann die Tatzeit – BAK zu ermitteln (vgl. Senat a.a.O.; BGH, Beschluss vom 26. Mai 2009 – 5 StR 57/09 –, juris Rn. 8; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 20 Rn. 14). Die entsprechenden Anknüpfungstatsachen sind im Urteil darzulegen (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 16. Juli 2003 – 2 StR 209/03 –, juris Rn. 6). Anschließend hat eine Gesamtbewertung der Umstände des Tatgeschehens und der Persönlichkeitsverfassung des Täters vor, während und nach der Tat zu erfolgen (st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 8. Oktober 1991 – 1 StR 482/91 –, juris Rn. 8). Dem festgestellten BAK – Wert kommt dabei die Bedeutung eines gewichtigen Beweisanzeichens zu (vgl. Fischer a.a.O. Rn. 17, 23). Entziehen sich die Angaben des Angeklagten zum Alkoholkonsum sowohl zeitlich als auch mengenmäßig jedem Versuch einer Eingrenzung, so bedarf es der Berechnung der Blutalkoholkonzentration ausnahmsweise nicht. In einem solchen Fall kann sich die Beurteilung der Schuldfähigkeit nur nach psychodiagnostischen Kriterien richten, wobei die Hinzuziehung eines Sachverständigen regelmäßig geboten sein wird (vgl. Senat a.a.O. m.w.N.; BayObLG, Beschluss vom 6. März 2003 – 1St RR 13/03 –, juris Rn. 17; Fischer a.a.O. Rn. 26).“

Beleidigung II: OGV ist ein(e) „Schwuchtel/“Wichser“, oder: Angeklagte raucht beim StA-Plädoyer Cannabis

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Und das zweite Posting kommt dann auch zu einem BayObLG-Beschluss. Das AG hat den Angeklagten wegen Beleidigung zu einer nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt. Das LG hat die hiergegen eingelegte Berufung des Angeklagten als unbegründet verworfen. Dagegen die Revision, die beim BayObLG wegen des Schuldspruchs keinen Erfolg hatte. Insoweit hatte ich den BayObLG, Beschl. v. 15.08.2023 – 204 StRR 292/23 – schon vorgestellt (vgl. Beleidigung II: Sie „Schwuchtel“ und „Wichser“, oder: Schmähkritik, Schmähung, Formalbeleidigung?).

Zur Strafzumessung führt das BayObLG in dem Fall betreffend die verhängte Freiheitsstrafe von (nur) drei Monaten aus:

2. Die Revision des Angeklagten hat aber mit der erhobenen Sachrüge in Bezug auf den Rechtsfolgenausspruch Erfolg.

a) Das Berufungsgericht hat im Rahmen der Strafzumessung die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe als unerlässlich angesehen, weil nur durch diese Strafe die Einwirkung auf den Täter erreicht werden könne (§ 47 Abs. 1 StGB). Dies hat es unter anderem damit begründet, dass der Angeklagte in der Berufungshauptverhandlung mehr als deutlich gemacht habe, dass er sich keiner Schuld bewusst sei und sich zu Unrecht verfolgt fühle, jegliche Verantwortung für sein eigenes Verhalten ablehne und die Schuld für den Vorfall allein beim Geschädigten sehe. Aus dieser Einstellung des Angeklagten sei der Schluss zu ziehen gewesen, dass er auch in der Zukunft nicht bereit sein werde, sein eigenes Verhalten zu reflektieren und sich vor allem regelkonform zu verhalten. Dies zeige letztlich auch sein Verhalten während des Plädoyers der Staatsanwältin, als er im Sitzungssaal anfing, Cannabis zu inhalieren, und sich auch von der Vorsitzenden hiervon – mit dem Argument, dass ihm das ärztlich verordnet sei, er es jederzeit und überall tun dürfe und man ihm nichts vorschreiben könne – nicht habe abhalten lassen.

b) Diese Strafzumessungserwägungen sind nicht frei von Rechtsfehlern.

aa) Eine kurze Freiheitsstrafe kann u.a. verhängt werden, wenn dies zur Einwirkung auf den Täter unerlässlich ist, weil nur durch diese Strafe die Einwirkung auf den Täter erreicht werden kann (§ 47 Abs. 1 StGB). Damit ist die spezialpräventive Funktion der Strafe gemeint, so dass der Richter zu klären hat, ob eine täterungünstige Prognose (drohende weitere Straftaten) die Freiheitsstrafe erfordert (Schönke/Schröder/Kinzig, 30. Aufl. 2019, StGB § 47 Rn. 11).

bb) Bei den zu berücksichtigenden besonderen Umständen in der Persönlichkeit des Täters darf zwar sein Nachtatverhalten, wie etwa ein Geständnis oder die Tatreue, berücksichtigt werden (vgl. BGH, Urteil vom 08.05.1996 – 3 StR 133/96 –, NStZ 1996, 429, juris Rn. 3). Soweit auf die mangelnde Schuldeinsicht abgestellt wird, verkennt das Berufungsgericht aber, dass das Bestreiten der Tat dem Angeklagten nicht als Uneinsichtigkeit angelastet werden darf, solange er die Grenzen zulässiger Verteidigung nicht überschreitet [vgl. zur Strafzumessung allgemein BGH, Beschluss vom 07.11.1986 – 2 StR 563/86 –, NStZ 1987, 171, juris Rn. 5; zu § 47 Abs. 1 StGB im besonderen BayObLG, Beschluss vom 11.01.1996 – 3St RR 105/95 –, wistra 1996, 236, juris Rn. 29 f.; KG, Beschluss vom 28.02.2001 – (4) 1 Ss 22/01 (23/01) –, juris Rn. 6 m.w.N.]. Der Vorwurf mangelnder Schuldeinsicht und Reue lässt somit besorgen, dass das Landgericht dem Angeklagten sein Verteidigungsverhalten strafschärfend angelastet hat (vgl. BGH, Urteil vom 24.07.1985 – 3 StR 127/85 –, NStZ 1985, 545, juris Rn. 8 f.; OLG Frankfurt, Beschluss vom 27.04.2005 – 2 Ss 78/05 –, juris Rn. 6 m.w.N.). Eine andere Bewertung ist nur zulässig, wenn der Angeklagte bei seiner Verteidigung ein Verhalten an den Tag legt, das im Hinblick auf die Art der Tat und die Persönlichkeit des Täters auf besondere Rechtsfeindschaft und Gefährlichkeit schließen lässt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 07.11.1986 – 2 StR 563/86 –, NStZ 1987, 171, juris Rn. 5, und vom 24.07.1985 – 3 StR 127/85 –, NStZ 1985, 545, juris Rn. 9). Ob die richterliche Überzeugung dahin geht, muss das Urteil deutlich erkennen lassen [vgl. KG, Beschluss vom 28.02.2001 – (4) 1 Ss 22/01 (23/01) –, juris Rn. 6 m.w.N.].

Das Berufungsgericht geht zwar davon aus, dass der Angeklagte auch künftig nicht bereit sein wird, sein eigenes Verhalten zu reflektieren und sich regelkonform zu verhalten. Hierbei übersieht es aber, dass es sich vorliegend um die erste Verurteilung wegen eines Äußerungsdelikts handelt und diese letztlich auf einer umfangreichen Abwägung der Umstände des Einzelfalles beruht, die das Berufungsgericht selbst nur unzureichend vorgenommen hat. Unter diesen Umständen können aus der fehlenden Schuldeinsicht keinesfalls Schlüsse auf besondere Umstände in der Täterpersönlichkeit gezogen werden, die die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe unerlässlich machen.

cc) Darüber hinaus durfte das Berufungsgericht das Verhalten des Angeklagten – Inhalieren von Cannabis während des Plädoyers der Staatsanwältin – nicht ohne weitere Aufklärung bei der Strafzumessung zu Lasten des Angeklagten berücksichtigen. Bei den Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen hat das Berufungsgericht ausgeführt, dass der Angeklagte Cannabispatient ist. Hierauf hat dieser – so die Urteilsfeststellungen – auch hingewiesen, als er von der Vorsitzenden aufgefordert wurde, das Inhalieren von Cannabis während des Plädoyers der Staatsanwältin zu unterlassen. Das Berufungsgericht war demgemäß – wollte es den Umstand des Inhalierens von Cannabis während der Hauptverhandlung zu Lasten des Angeklagten verwerten – gehalten, aufzuklären, ob und unter welchen Voraussetzungen bzw. in welchen zeitlichen Abständen es medizinisch indiziert war, Cannabis zu inhalieren, oder ob der Angeklagte Cannabis während der Hauptverhandlung nur deshalb inhaliert hatte, um das Gericht zu provozieren.“

Beleidigung I: Zur Kontrolle:“Ihr seid korrupte Beamte“, oder: Keine freie Meinungsäußerung

Und dann geht es in die 48. KW.. Allmählich beginnt der Jahresendspurt. Und den läute ich heute ein mit zwei Entscheidungen des BayObLG zur Beleidigung.

Hier dann zunächst noch einmal der BayObLG, Beschl. v. 10.06.2023 – 203 StRR 204/23, den ich ja letzte Woche schon vorgestellt hatte (s. StGB I: Zielrichtung bei der Widerstandshandlung, oder: Auf den Körper zielende Einwirkung reicht). Das BayObLG hat in der Entscheidung aber nicht nur zum Begriff des „tätlichen Angriffs“ Stellung genommen, sondern eben auch zur Beleidigung, und zwar wie folgt:

„3. Der Angeklagte hat sich auch der Beleidigung gemäß § 185 StGB schuldig gemacht.

a) Nach den Feststellungen, die insoweit von der Revision nicht angegriffen werden, betitelte der Angeklagte die drei Polizeibeamten in einer Alkoholverbotszone anlässlich einer Polizeikontrolle aus der Situation heraus als „korrupte Beamte“, um seine Missachtung der Ehre der Geschädigten kund zu tun. Ein Video zeigt den Angeklagten, wie er sich den Beamten gegenüber in überheblicher und provozierender Gestik mit einer Flasche mit alkoholischem Inhalt in der Hand in Szene setzte (Urteil S. 16, 30 und 32).

b) Der ersichtlich von Tatsachen losgelöste Vorwurf der Korruptheit ist geeignet, die Integrität und den Achtungsanspruch eines Beamten anzugreifen. Nach den Urteilsfeststellungen stellte die Formulierung eine dem Tatbestand des § 185 StGB unterfallende ehrverletzende Meinungsäußerung dar.

c) Das Verhalten des Angeklagten ist nicht nach § 193 StGB unter Berücksichtigung des Grundrechts auf Meinungsäußerungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 GG gerechtfertigt.

aa) Nach gefestigter verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung erfordert das Grundrecht der Meinungsfreiheit als Voraussetzung einer strafgerichtlichen Verurteilung nach § 185 StGB regelmäßig auf der Grundlage der konkreten Umstände einer Äußerung und ihrer Bedeutung eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen. Nur in Ausnahmefällen tritt bei herabsetzenden Äußerungen, die die Menschenwürde eines anderen antasten oder sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, die Meinungsfreiheit hinter den Ehrenschutz zurück, ohne dass es einer Einzelfallabwägung bedarf (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 19.Mai 2020 – 1 BvR 2397/19-, juris Rn. 17).

bb) Das Landgericht hat, obwohl die Feststellungen keinen der von der Rechtsprechung anerkannten Ausnahmefälle belegen (zu den Ausnahmen BayObLG, Beschluss vom 4. Juli 2022 – 202 StRR 61/22 –, juris Rn. 10 ff.), ohne weitere Begründung von einer wertenden Abwägung der betroffenen Rechtsgüter abgesehen.

cc) Der Senat kann eine vom Tatgericht rechtsfehlerhaft unterlassene Abwägung der Rechtsgüter der Meinungsfreiheit und des Ehrenschutzes nachholen und auf der Grundlage der Feststellungen des Landgerichts die gebotene wertende Gegenüberstellung der konkreten Umstände selbst vornehmen, da sich den Urteilsgründen die Situation und die Motivation des Angeklagten hinreichend entnehmen lassen (zur Nachholung vgl. BayObLG, Beschluss vom 7. Dezember 2022 – 206 StRR 296/22 –, juris Rn. 23; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 2. März 2020 – (1) 53 Ss 3/20 (5/20) –, juris Rn. 21; OLG Stuttgart, Urteil vom 7. Februar 2014 – 1 Ss 599/13 -, juris). Zu den hierbei zu berücksichtigenden Umständen können Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der betreffenden Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten gehören (siehe näher dazu BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 1094/19 -, juris Rn. 21 ff.). In die Abwägung ist einzustellen, ob die Privatsphäre des Betroffenen oder sein öffentliches Wirken Gegenstand der Äußerung ist und welche Rückwirkungen auf die persönliche Integrität des Betroffenen von einer Äußerung ausgehen können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. April 1999 – 1 BvR 2126/93 -, juris Rn. 31; BVerfG, Beschlüsse vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 1094/19 -, juris Rn. 23, und vom 16. Oktober 2020 – 1 BvR 1024/19 -, juris Rn. 18).

dd) Der Senat ist zu der Entscheidung gelangt, dass im vorliegenden Fall dem Schutz der personalen Würde des einzelnen Polizeibeamten der Vorrang gegenüber der Meinungsfreiheit des Angeklagten gebührt und dass der Schuldspruch wegen Beleidigung im Ergebnis zu Recht erfolgt ist. Der Senat hat bei der Abwägung berücksichtigt, dass die Äußerung spontan und in einer für den Angeklagten unangenehmen Situation einer Polizeikontrolle erfolgte. Der Senat hat in seine Erwägungen mit eingestellt, dass das Recht des Bürgers, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf und sogar in polemischer Zuspitzung zu kritisieren, zum Kernbereich des Rechts auf freie Meinungsäußerung gehört, weshalb deren Gewicht in diesen Fällen besonders hoch zu veranschlagen ist (BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 2019 – 1 BvR 2433/17-, juris, Rn. 17). Andererseits ist zu bedenken, dass auch die Gesichtspunkte der Machtkritik und des „Kampfs ums Recht“ in eine Abwägung eingebunden bleiben und nicht jede ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträgern erlauben. Gegenüber einer auf die Person abzielenden Verächtlichmachung setzt die Verfassung allen Personen gegenüber verfassungsrechtliche Grenzen und nimmt hiervon auch Amtsträger nicht aus (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2397/19 –, juris Rn. 32). Ein wirksamer Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgern und Politikern liegt im öffentlichen Interesse, was das Gewicht dieser Rechte in der Abwägung verstärken kann (BVerfG, Beschluss vom 9. Februar 2022 – 1 BvR 2588/20-, juris Rn. 27). Eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft kann nur erwartet werden, wenn für diejenigen, die sich engagieren und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet ist (vgl. BVerfGE 152, 152 <199>; BVerfG, Beschlüsse vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2397/19 -, juris Rn. 32, und vom 19. Dezember 2021 – 1 BvR 1073/20 -, juris Rn. 34 f.). Im Rahmen dieser Abwägung fällt besonders ins Gewicht, dass es sich bei dem vom Angeklagten verwendeten Ausdruck um einen strafrechtlich relevanten Vorwurf der Bestechlichkeit handelt und die Beamten nach den Feststellungen durch ihr Verhalten während der Kontrolle keinen Anlass zu einer Eskalation gaben. Es ist auch zu bedenken, dass der Angeklagte die – rechtmäßige – Kontrolle selbst veranlasst hatte, indem er die Flasche mit Alkohol provokativ in der Hand hielt und zur Schau stellte. Der Angriff gegen den Achtungsanspruch des betroffenen Beamten wies keinen Sachbezug auf, erfolgte nicht in einem vertraulichen Raum und ging über eine auch überspitzte oder polemische Machtkritik in einem der Situation unangemessenen Maße hinaus. Die Gewichtung dieser festgestellten Umstände ergibt, dass das Recht des Angeklagten auf freie Meinungsäußerung hinter dem personalen Achtungsanspruch der Polizeibeamten zurücktritt und dem Schuldspruch keine rechtlichen Bedenken entgegen stehen.“

Strafzumessung III: Anrechnung von Auslieferungshaft, oder: Besuch der Großmutter ist keine Flucht

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Und dann zum Tagesschluss noch eine Thematik, zu der ich hier noch nicht so ganz häufig berichtet habe, und zwar Anrechnung einer im Ausland erlittenen Auslieferungs-/Untersuchungshaft.

Das LG hat den Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung sowie wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und eine Anrechnungsentscheidung hinsichtlich erlittener Auslieferungshaft getroffen hat. U.a. die Anrechnungsentscheidung hat dem BGH nicht gefalle. Er führt dazu im BGH, Beschl. v. 06.07.2023 – 2 StR 8/23:

„2. Hingegen hält der Ausspruch des Landgerichts, mit dem das Landgericht die in der Zeit vom 18. Juli 2021 bis 3. August 2021 in Kroatien erlittene Untersuchungshaft im Verhältnis 1:1 angerechnet hat, rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass die Haftbedingungen des Angeklagten – nicht zuletzt aufgrund seiner bosnischen Abstammung – schlecht waren und hat damit zu erkennen gegeben, dass abweichend von der in einem EU-Staat und damit auch in Kroatien im Allgemeinen zu erfolgenden Anrechnung im Verhältnis 1:1 (vgl. zuletzt zu Kroatien BGH, Beschluss vom 21. Juni 2018 – 4 StR 499/17) ausnahmsweise ein anderer Maßstab in Betracht kommen könnte. Es hat im Ergebnis aber davon abgesehen so zu verfahren, weil der Angeklagte selbst dafür verantwortlich gewesen sei, dass er ausgerechnet in Kroatien eine Freiheitsentziehung erlitten habe. Durch den Antritt einer Reise nach Kroatien habe er begründeten Anlass zu der Sorge gegeben, er werde sich dem Verfahren dauerhaft nicht stellen. Selbst wenn er nicht von dem Haftbefehl gewusst haben sollte, sei dem Angeklagten doch bewusst gewesen, dass dieses Verhalten geeignet gewesen sei, den Haftgrund der Fluchtgefahr zu begründen.

Mit dieser Begründung durfte die Strafkammer dem Angeklagten eine möglicherweise angezeigte Anrechnung der Auslieferungshaft in einem anderen Verhältnis als 1:1 nicht versagen. Nach § 51 Abs. 1 Satz 2 StGB kann das Gericht ausnahmsweise anordnen, dass eine Anrechnung ganz oder zum Teil unterbleibt, wenn sie im Hinblick auf das Verhalten des Verurteilten nach der Tat nicht gerechtfertigt ist. Ein Verhalten, das eine solche Versagung rechtfertigen könnte, ist aber nicht ersichtlich. Die Reise nach Kroatien diente nach der unwiderlegt gebliebenen Einlassung dem Besuch seiner 92-jährigen Großmutter, wobei der Angeklagte angegeben hat, von dem Verfahren gewusst zu haben, er aber keineswegs habe fliehen wollen. Ein Fluchtversuch ist bei dieser Erklärung nicht dargetan; zudem ist durch die daraufhin erfolgte Inhaftierung keine Verschleppung des Verfahrens – was auch bei einem Fluchtversuch oder Fluchtvorbereitungen für eine Versagung vonnöten wäre – belegt (vgl. BGH NJW 1970, 1752, 1753 = BGHSt 23, 307).“

Strafzumessung II: 2 x BGH zur BtM-Strafzumessung, oder: Zu geringe „geringe Menge“ und Sicherstellung

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Im zweiten Strafzumessungsposting kommen dann hier zwei Entscheidungen vom BGH zur Strafzumessung in BtM-Verfahren, und zwar.

1. Die Strafzumessung leidet an mehreren durchgreifenden Rechtsfehlern zugunsten des Angeklagten.

a) Die Annahme der Strafkammer, der Grenzwert zur nicht geringen Menge sei bei den vom Angeklagten zum gewinnbringenden Verkauf vorgehaltenen Betäubungsmitteln „insgesamt um das etwa 340-fache“ überschritten, ist nach den getroffenen Feststellungen nicht nachvollziehbar und lässt besorgen, dass die Strafkammer einen zu geringen Schuldumfang angenommen hat.

Bei Betäubungsmittelstraftaten ist im Hinblick auf die durch das Betäubungsmittelgesetz geschützte Volksgesundheit die Wirkstoffmenge ein wesentlicher Umstand zur Beurteilung der Schwere der Tat und zur Bestimmung des Schuldumfangs (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 23. Oktober 2019 ? 2 StR 294/19, juris Rn. 18; BGH, Beschlüsse vom 16. Juli 2019 ? 4 StR 1/19, juris Rn. 3; vom 20. Juni 2017 ? 1 StR 213/17, NStZ-RR 2017, 377, 378; vom 12. Mai 2016 ? 1 StR 43/16, NStZ-RR 2016, 247, 248; vom 7. Dezember 2011 ? 4 StR 517/11, NStZ 2012, 339). Nach den für sich genommen rechtsfehlerfrei festgestellten Wirkstoffmengen enthielten die in der Wohnung sichergestellten 17.013,40 Gramm Marihuana und 861,70 Gramm Haschisch zusammengenommen 2.553,7 Gramm THC, mithin das etwa 340-fache der nicht geringen Menge von 7,5 Gramm THC. Darüber hinaus bewahrte der Angeklagte aber weitere Haschischplatten mit einem Gesamtgewicht von 1.075,5 Gramm in der Wohnung und im Keller auf. Warum diese bei der Bestimmung der Gesamtwirkstoffmenge keine Berücksichtigung finden, erhellt sich aus den Urteilsgründen nicht, zumal schon nicht das gesamte Haschisch zum Zeitpunkt der Sicherstellung „verrottet bzw. verschimmelt“ war und nicht ersichtlich ist, dass „verrottetes bzw. verschimmeltes“ Haschisch keinen Wirkstoffgehalt hat oder dass sich der Erwerb dieser Betäubungsmittelmenge zum gewinnbringenden Weiterverkauf lediglich auf „verrottetes bzw. verschimmeltes“ Haschisch bezog.

b) Darüber hinaus hat die Strafkammer nicht erkennbar bedacht, dass nach den von ihr getroffenen Feststellungen ein gewerbsmäßiges Handeln des Angeklagten im Sinne des Regelbeispiels des § 29 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 BtMG auf der Hand liegt, weil die vorgehaltenen Betäubungsmittel sukzessive an fünf verschiedene Abnehmer veräußert und dabei jeweils erhebliche Gewinne von 3.500 € pro Kilogramm Marihuana erzielt werden sollten (vgl. dazu BGH, Urteil vom 8. Oktober 1991 ? 1 StR 520/91, juris Rn. 15; Beschluss vom 13. Oktober 1992 ? 1 StR 580/92, juris Rn. 2). Die Erfüllung des Regelbeispiels kann auch bei qualifizierten Formen des Handeltreibens von strafzumessungsrechtlicher Bedeutung sein (vgl. BGH, Beschluss vom 17. September 1993 ? 4 StR 509/93, juris Rn. 4; Beschluss vom 9. April 2019 ? 1 StR 21/19, juris Rn. 2), was das Landgericht nach den hier festgestellten Umständen der Tatbegehung hätte in den Blick nehmen müssen.

„Bei der Strafzumessung hat das Landgericht nicht erkennbar bedacht, dass ausweislich der getroffenen Feststellungen die beim Angeklagten aufgefundenen Betäubungsmittel sichergestellt wurden und nicht in den Verkehr gelangt sind. Die Sicherstellung von Betäubungsmitteln ist ein bestimmender Strafzumessungsgrund, der sowohl bei der Strafrahmenwahl als auch bei der konkreten Strafzumessung zu beachten ist und demzufolge in den Gründen des Strafurteils angeführt werden muss (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 8. Februar 2023 – 6 StR 525/22; Senat, Beschluss vom 5. Februar 2020 – 2 StR 517/19, NStZ-RR 2020, 146, 147 je mwN). Dies ist nicht geschehen. Der Senat kann nicht sicher ausschließen, dass die Strafe – auch wenn sie keineswegs unangemessen ist – auf dem aufgezeigten Rechtsfehler beruht.“