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Wiedereinsetzung I: Rechtsanwalt verpasst Termin, oder: Verschulden bei falsch geplanter Anfahrt

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Im „Kessel Buntes“ heute dann zwei Entscheidungen zur Wiedereinsetzung. Die eine kommt vom AGH Hamm, die andere vom OLG Frankfurt am Main.

Ich beginne die Berichterstattung mit dem AGH Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 05.09.2024 – 2 AGH 1/24. In dem Verfahren hatte eine Rechtsanwältin Berufung gegen ein Urteil des AnwG eingelegt. Die ist vom AGH Nordrhein-Westfalen durch Urteil wegen Versäumung der Berufungshauptverhandlung verworfen worden. Die angeschuldigte Rechtsanwältin hat Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Der Antrag hatte keinen Erfolg:

„Die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung nach § 116 Abs. 1 S. 2 BRAO i.V.m. § 45 StPO liegen nicht vor. Der Antrag ist zwar fristgerecht innerhalb der Wochenfrist des § 116 Abs. 1 S. 2 BRAO i.V.m. § 45 Abs. 1 StPO gestellt, er ist jedoch zumindest unbegründet.

Es kann dahinstehen, ob der per Telefax gestellte und ausschließlich mit einer anwaltlichen Versicherung zur Glaubhaftmachung eingereichte Wiedereinsetzungsantrag zulässig ist. Denn er ist in jedem Falle nicht begründet.

Ob ein Wiedereinsetzungsantrag im vorliegenden Falle rechtswirksam per Telefax eingereicht werden konnte oder ob es einer Übermittlung an den Senat per besonderem elektronischen Anwaltspostfach (beA) bedurft hätte, kann mithin dahinstehen. Eine zwingende Verpflichtung zur Einreichung per beA für die Einhaltung der Schriftform i.S. einer Wirksamkeitsvoraussetzung ergibt sich ausschließlich aus § 32d S. 2 StPO für die dort abschließend aufgezählten Anträge und Erklärungen (Köhler, in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 32d Rn. 1). Ein Wiedereinsetzungsantrag wird von dieser Enumeration erkennbar nicht umfasst. Eine Verpflichtung zur Einreichung von Wiedereinsetzungsanträgen per beA bestünde im anwaltsgerichtlichen Verfahren mithin nur dann, wenn die „entsprechende“ Anwendung dieser Vorschrift nach § 116 BRAO über ihren gesetzlich abschließend formulierten Katalog hinaus Ausdehnung erforderte. Soweit § 32d S. 1 StPO bestimmt, dass Verteidiger und Rechtsanwälte u.a. schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen als elektronisches Dokument übermitteln „sollen“, ist dies – im abgrenzenden Lichte des dortigen S. 2 – nicht zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung (vgl. Köhler a.a.O., „Regelfall“). Denn auch wenn im Übrigen – getreu der Regel „soll heißt muss, wenn kann“ – grundsätzlich ein „Sollen“ im Sinne eines „Müssen“ zu verstehen ist, so könnte namentlich der prozessuale Ausnahmefall des Wiedereinsetzungsgesuches als einer Art Notmaßnahme zur Rückerlangung einer dem Anschein nach bereits verloren gegangenen Rechtsposition der gerichtlichen Fairness halber zu einer weniger formenstrengen Auslegung Veranlassung geben. Dies gilt namentlich in Ansehung des Umstandes, dass die Einlegung der Berufung selbst nach der Rechtsprechung des Senates einer Nutzung des beA nicht zwingend bedarf. Mithin liegt nicht nahe, für den bloßen Wiedereinsetzungsantrag strengere Regeln zur Anwendung zu bringen als für das den Rechtszug ursprünglich eröffnende Rechtsmittel. Auch § 32a Abs. 1 StPO spricht ersichtlich nur davon, dass elektronische Dokumente bei u.a. Gerichten nach Maßgabe der folgenden Absätze eingereicht werden „können“. Letztlich spricht also gesamthaft eher mehr dafür als dagegen, dass die erforderliche Schriftform auch durch ein Telefax gewahrt werden kann (Schmitt, in Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O. § 45 Rn. 1 i.V.m. Einl Rn. 128).

Desgleichen kann dahinstehen, ob es im anwaltsgerichtlichen Verfahren für die nötige Glaubhaftmachung der dem Wiedereinsetzungsgesuch zugrundeliegenden Tatsachen hinreicht, sie anwaltlich als richtig zu versichern. Im Strafprozess reicht eine eigene eidesstattliche Versicherung des Angeklagten nicht als Mittel der Glaubhaftmachung aus, da sie nicht über den Wert einer eigenen (einfachen) Erklärung hinausgeht (Schmitt, in Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 45 Rn. 8 mit Verweis auf BGH vom 12.3.2014 zu 1 StR 74/14). In diesem Verständnis müsste vorliegend also bereits von einer Unzulässigkeit des Wiedereinsetzungsantrages ausgegangen werden. Gegen eine solche schematische Übertragung der strafprozessualen Regel auf das anwaltsgerichtliche Verfahren spricht indes, dass der beschuldigte Rechtsanwalt Organ der Rechtspflege ist. Er legt also mit einer etwaigen anwaltlichen Versicherung infolge der ihm bekannten Rechtsfolgen einer unrichtigen Versicherung regelhaft mehr in die Waagschale der Glaubwürdigkeitsabwägung als der strafprozessual Angeklagte.

Das Wiedereinsetzungsgesuch ist jedoch bei allem jedenfalls unbegründet.

Eine Rechtsanwältin, die weiß, um 13.00 Uhr in Hamm (Westf.) zu einem Termin erscheinen zu müssen, handelt sorgfaltswidrig, wenn sie erst 75 Minuten zuvor mit dem Pkw von C. aus zu diesem Termin aufbricht. Für eine Autofahrt von 75 Kilometern zwischen Kanzlei und Gerichtsgebäude nur 75 Minuten Fahrtzeit einzuplanen, setzt für ein rechtzeitiges Erreichen des Zielortes schon rein rechnerisch eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 60 km/h voraus. Innerstädtisch ist diese Geschwindigkeit nicht gestattet; dortige Verzögerungen müssten also außerorts vollständig kompensiert werden, was an einem Freitagmittag – quer durch das gerichtsbekannt aktuell zusätzlich von Baustellen durchzogene Ruhrgebiet – von vornherein ausgeschlossen erscheint. Eine solche Planung der Anfahrzeit ist namentlich dann unzureichend, wenn die Rechtsanwältin – wie der Antragstellerin nach eigenem Vortrag schon bei Fahrtantritt positiv bekannt war – nicht über ein funktionsfähiges Mobiltelefon verfügt, mit dem sie eine etwaige unvorhersehbare Verzögerung an das Gericht mitteilen könnte. Zu den zumutbaren Maßnahmen für den Rechtsanwalt zählt im Übrigen auch, notfalls eine Tankstelle oder ein Rastplatz anzufahren, um das Gericht von dort aus über eine drohende verspätete Ankunft telefonisch zu unterrichten (vgl. OLG Celle, Urteil vom 24.06.2004, 11 U 57/04, NJW 2004, 2534). Eine solche potentielle Verzögerung für das Erreichen des Gerichtssaales lag zudem auch in dem Umstand, dass die bloße Anfahrt an das Gerichtsgebäude mit einem Zutritt zu dem Gerichtssaal notwendig nicht identisch ist. Für das Parken des eigenen Pkw und für den Fußweg von dem Parkplatz in den Saal hätte eine sorgfältige Planung weitere Zeiträume berücksichtigen müssen. Zu einer weiteren, mehrminütigen Verzögerungen im Eingangsgereich zum Gerichtsgebäude an einer Gerichtspforte kommt es infolge Personenprüfung für Rechtsanwälte gerichtsbekannt überdies nur dann, wenn sie ihren Anwaltsausweis nicht präsentieren können. Das Mitführen des Rechtsanwaltsausweises ist eine Sorgfaltspflicht, die auch dem hindernisfreien und mithin rechtzeitigen Zugang zu dem Gerichtssaal zu dienen bestimmt ist. Weiß ein Rechtsanwalt, dass er seinen Rechtsanwaltsausweis nicht bei sich führt, hat er dies bei seiner Anreiseplanung zeitlich einzukalkulieren. Führt er seinen Ausweis unwissentlich nicht bei sich, hat er sich vorhalten zu lassen, insoweit nicht ordnungsgerecht für den Zutritt zu Gericht vorbereitet gewesen zu sein. Das gilt namentlich dann, wenn der Rechtsanwalt nicht einmal hoffen kann, Bediensteten in der Sicherheitsschleuse von Person bekannt zu sein. Genau hiervon war im vorliegenden Fall aber für die Antragstellerin auszugehen, die nach eigenem Vortrag im Anschluß an das Betreten des Gerichtsgebäudes zunächst noch fußläufig in einen unzutreffenden Gebäudetrakt ging, bis sie den Saal schlußendlich mit knapp dreiviertelstündiger Verspätung gegenüber der Ladungszeit erreichte. Nur der Ortsunkundige verläuft sich in einem Gerichtsgebäude. Ortsunkundige sind bei Gericht aber denknotwendig nicht erwartbar von Person bekannt. Folglich schied für die Antragstellerin auch a priori aus, eine ausweislos zügige Zugangsabwicklung in das Gerichtsgebäude erhoffen zu können. Dass sie allerdings auch ihr persönlich unbekannte Justizmitarbeiter in der Sicherheitsschleuse hätte fragen können, wie sie den angezielten Saal schnellstens würde erreichen können, liegt zusätzlich auf der Hand. Nach allem kann dahinstehen, ob die Antragstellerin mithin tatsächlich bereits – wie sie versichert – um 11.45 Uhr zu ihrer Anreise aufgebrochen ist oder ob sie die später noch an das Gericht und ihren Pflichtverteidiger faxschriftlich versandten Schriftsätze in C. selbsthändig verschickt haben könnte.“

Die Ausführungen des AGH zur Zulässigkeit kann man auch in anderen Verfahren anwenden, die zur Begründetheit immer dann, wenn das Verschulden des Rechtsanwalts dem Mandanten zugerechnet wird.

Immer wieder: Auslagenerstattung nach Einstellung, oder: Einstellung wegen Verjährung

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Immer wieder müssen sich die Gerichte mit der Frage der Auslagenerstattung nach Einstellung des Verfahrens befassen. So jetzt auch noch einmal das LG Lüneburg, im LG Lüneburg, Beschl. v. 22.07.2024 – 111 Qs 46/24, in dem das LG eine Ergänzung in der amtsgerichtlichen Entscheidung vorgenommen hat.

Folgender Sachverhalt: Gegen die Beschuldigte war als Gesellschafterin einer GbR nach einer Steuerprüfung vom 12.03.2019 wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung für die Jahre 2015 – 2017 ein Strafverfahren durch das Finanzamt für Fahndung und Strafsachen eingeleitet und am 13.03.2019 die Bekanntgabe hierüber angeordnet worden. Die Beschuldigte wurde mit Schreiben vom 21.02.2020, ihr zugestellt am 26.02.2020 über die Einleitung des Strafverfahrens unterrichtet. Am 13.04.2023 wurde sie wegen einer Einstellung des Verfahrens gemäß § 153a StPO angeschrieben.

Daraufhin meldete sich Rechtsanwalt R 1 unter dem 24.04.2023 als Verteidiger und beantragte in der Folgezeit mit mehreren Schreiben Fristverlängerung zur Stellungnahme, die ihm antragsgemäß bis zum 30.06.2023 gewährt wurde. Eine Stellungnahme ging nicht ein. Mit Schreiben vom 5.02.2024 wurde die Beschuldigte erneut wegen einer Zustimmung zu einer Einstellung des Verfahrens gemäß § 153a StPO angeschrieben, was einen weiteren Fristverlängerungsantrag zur Stellungnahme bis zum 11.03.2024 zur Folge hatte, der nicht gewährt wurde. Mit Abschlussvermerk vom 28.02.2024 hat das Finanzamt für Fahndung und Strafsachen das Verfahren an die Staatsanwaltschaft zwecks Antrag auf Erlass eines Strafbefehls unter Hinweis auf die am 14.3.2024 eintretende Verjährung abgegeben. Die Staatsanwaltschaft leitete die Akten erst am 13.03.2024 an das AG weiter. Trotz des Vermerks EILT SEHR! SOFORT! auf der Übersendungsverfügung lagen die Akten erst am 15.03.2024 der zuständigen Richterin vor, die den Strafbefehl antragsgemäß erließ. Hiergegen wendete sich die Beschuldigte fristgerecht mit ihrem Einspruch vom 6.04.2024 durch den nunmehr mandatierten Rechtsanwalt R 2, der beantragte, das Verfahren wegen Verjährung einzustellen. Zur Begründung wird ausgeführt, dass Anordnung und Bekanntgabe betreffend die Einleitung des Strafverfahrens eine Einheit bilden, weshalb die Verjährung letztmalig am 12.03.2019 unterbrochen wurde und am 12.03.2024 endete.

Das Verfahren wurde mit Beschluss des AG vom 040.7.2024 wegen des Verfahrenshindernisses der Verjährung gemäß § 206a StPO „auf Kosten der Staatskasse“ eingestellt. Gegen diesen Beschluss wendet sich die Beschuldigte mit Schriftsatz ihres Verteidigers vom 07.07.2024 und legt sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung ein, weil der Beschluss sich nicht zu den notwendigen Auslagen der Beschuldigten verhält. Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen, weil ein hinreichender oder erheblicher Tatverdacht gegen die Beschuldigte fortbestehe, weshalb das Gericht gemäß § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO davon absehen könne, die notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen. Der Ergänzungsantrag hatte Erfolg:

„Zwar kann das Gericht gemäß § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO davon absehen, die notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen, wenn der Beschuldigte wegen einer Straftat nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Bei der Ausübung des dadurch eröffneten Ermessens über eine Kosten- und Auslagenentscheidung zum Nachteil des Angeklagten ist aber dem Ausnahmecharakter von § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO grundsätzlich Rechnung zu tragen. War das Verfahrenshindernis bei Klageerhebung (der ein Antrag auf Erlass eines Strafbefehls gleichsteht) bereits eingetreten, soll es deshalb bei der regelmäßigen Kostenfolge nach § 467 Abs. 1 StPO bleiben, es sei denn, eine solche Lösung erscheine grob unbillig, etwa weil der Eintritt des Verfahrenshindernisses auf ein vorwerfbares Verhalten des Angeklagten zurückzuführen ist. Tritt das Verfahrenshindernis erst im Laufe des Verfahrens ein, werden die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse seit der Entstehung des Hindernisses aufgebürdet. Im Rahmen der Ermessenentscheidung kann darüber hinaus Berücksichtigung finden, ob das Verfahrenshindernis von vornherein erkennbar war, oder ob es als Ergebnis einer langwierigen Aufklärung des Sachverhaltes erst später zutage trat. Zu beachten ist dabei stets, dass nach der Intention des Gesetzgebers die Möglichkeit der vom Regelfall abweichenden Kostenentscheidung nur für seltene Ausnahmefälle eröffnet sein sollte (OLG Celle, StraFo 2013, 5667, vgl. auch Meyer-Goßner, StPO, 67. Aufl., StPO Rn. 18 zu § 467 StPO).

Nach diesen Grundsätzen hat die Landeskasse die notwendigen Auslagen der Beschuldigten zu tragen. Die zeitliche Verzögerung, die im Wesentlichen zur Verjährung beigetragen hat, beruhte darauf, dass das Finanzamt für Fahndung und Strafsachen das Verfahren nach Ablauf der zuletzt gewährten Stellungnahmefrist für den Verteidiger am 30.06.2023 bis zum 05.02.2024 nicht weiter gefördert hat, obwohl es zu dem Zeitpunkt keine Veranlassung mehr für weitere Ermittlungen sah. Das Verfahrenshindernis war bereits zu diesem Zeitpunkt erkennbar und seit dem 28.02.2024 auch aktenkundig gemacht. Dass die Strafverfolgungsbehörden die Verjährung aufgrund der internen Abläufe nicht mehr rechtzeitig unterbrechen konnten, kann der Beschuldigten nicht angelastet werden.“

Eine zutreffende Entscheidung, die ohne viele Worte noch einmal den Grundsatz der Auslagenerstattung nach Einstellung des Verfahrens betont, nämlich: In der Regel sind die dem Beschuldigten entstandenen Auslagen nach § 467 Abs. 1 StPO zu erstatten, es sei denn eine Ausnahme – hier wäre es ggf. § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO gewesen – greift.

Pflichti III: Bestellung im KCanG-Nachverfahren?, oder: Ja, Verfahrensfairness und kostenrechtliche Sicherheit

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Und dann habe ich hier noch den LG Neuruppin, Beschl. v. 22.07.2024 – 11 Kls 5/22 – der zur Bestellung eines Pflichtverteidigers im Nachverfahren über die anlässlich des teilweisen Inkrafttretens des KCanG zum 01.04.2024 nach Maßgabe der Art. 313 Abs. 3 Satz 3, 316p EGStGB gebotene Strafermäßigungsprüfung Stellung nimmt. Für mich ein für die Praxis wichtiger Beschluss. Vor allem, weil ich bisher zu der Frage noch keinen Beschluss kannte.

Das LG führt zu der Frage aus:

§ 143 Abs. 1 StPO bestimmt, dass die – wie vorliegend geschehen – im Erkenntnisverfahren erfolgte Bestellung eines Pflichtverteidigers auch für das in § 460 StPO geregelte Nachverfahren über die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe fortwirkt. Ob eine derartige Erstreckung allerdings auch für das Nachverfahren über die anlässlich des teilweisen Inkrafttretens des Konsumcannabisgesetzes zum 01.04.2024 nach Maßgabe der Art. 313 Abs. 3 Satz 3, 316p EGStGB gebotene Strafermäßigungsprüfung gilt, erscheint mit Blick auf die fehlende Nennung des § 460 StPO in Art. 313 Abs. 5 EGStGB zumindest nicht unproblematisch. Da jedoch die Festsetzung von Freiheitsstrafen über einem Jahr nach den zu § 140 Abs. 2 StPO in der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäben ohne Verteidigung des Verurteilten in der Sache offenkundig ausscheiden muss, erscheint es aus Gründen der Verfahrensfairness wie zugleich auch, der kostenrechtlichen Sicherheit für den im Erkenntnisverfahren bereits bestellten Pflichtverteidiger geboten, dessen Bestellung auch für das vorliegende besondere Nachverfahren – und sei es mit bloß deklaratorischer Wirkung – erneut ausdrücklich auszusprechen.“

Pflichti II: OLG bejaht rückwirkende Bestellung, oder: Beiordnungsgrund „Gesamtstrafe“

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Und als zweite Entscheidung dann noch eine weitere OLG-Entscheidung, nämlich der OLG Zweibrücken, Beschl. v. 11.09.2024 – 1 Ws 208/24 -, der sich noch einmal mit dem Beiordnungsgrund „Schwere der Rechtsfolge“ in den Gesamtstrafenfällen befasst und zur Zulässigkeit der Rückwirkung – ohne viel Worte 🙂 Stellung nimmt:

2. Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Grundsätzlich ist eine rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers möglich (OLG Bamberg (1. Strafsenat), Beschluss vom 29.04.2021 – 1 Ws 260/21, OLG Nürnberg, Beschluss vom 06.11.2020 – Ws 962/20, Ws 963/20; MüKo-StPO § 142 Rn. 14). Die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers (bezogen auf den Zeitpunkt der Antragsstellung) setzt jedoch voraus, dass die sachlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers vorlagen und der Antrag auf Bestellung noch vor dem Abschluss des Verfahrens erfolgte (OLG Bamberg aaO.).

Vorliegend wurde der Antrag auf Beiordnung durch den Angeklagten zeitlich vor der (vorläufigen) Einstellung durch das Landgericht gestellt; jedoch lagen die Voraussetzungen für eine Beiordnung nach § 140 StPO nicht vor.

a) In dem Verfahren selbst liegen keine Umstände vor, die eine Verteidigung als notwendig erscheinen lassen. Die Schwere der angeklagten Tat begründet eine solche Notwendigkeit für sich genommen nicht. Maßgeblich für die Beurteilung ist vor allem die zu erwartende Rechtsfolgenentscheidung. Meist wird angenommen, dass die Erwartung von 1 Jahr Freiheitsstrafe die Grenze bildet, ab der regelmäßig Anlass zur Beiordnung besteht (Meyer-Goßner, StPO, § 140 Rn 23a mwN). Gegenstand des Verfahrens ist eine Unterhaltspflichtverletzung. Der Angeklagte wurde deswegen erstinstanzlich durch das Amtsgericht Speyer zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 40 EUR verurteilt. Da gegen das Urteil lediglich der Angeklagte Berufung eingelegt hatte, war eine härtere Strafe nach § 331 StPO ausgeschlossen.

b) Auch der Umstand, dass aus der Strafe im vorliegenden Verfahren und aus der Strafe, die in dem gesonderten Verfahren gegen den Angeklagten zu erwarten ist, voraussichtlich eine Gesamtstrafe von mehr als 1 Jahr zu bilden sein wird, rechtfertigt es nicht, wegen der Schwere der Tat einen Fall notwendiger Verteidigung i.S. von § 140 Abs. 2 StPO anzunehmen.

Die Vorschriften der StPO über die notwendige Verteidigung und die Bestellung eines Verteidigers stellen sich als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verhandlungsführung dar. Der Beschuldigte muss die Möglichkeit haben, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dazu gehört auch, dass ein Beschuldigter der die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufzubringen vermag, in schwerwiegenden Fällen von Amts wegen und auf Staatskosten einen rechtskundigen Beistand (Verteidiger) erhält (BVerfG, Beschluss vom 19.10.1977 – 2 BvR 462/77 – juris Rn 31; Meyer-Goßner; StPO, § 140 Rn 1). Bei der Bewertung, ob ein solcher schwerwiegender Fall vorliegt, ist auch die Gesamtwirkung der Strafe zu berücksichtigen. Hierzu gehören auch sonstige schwerwiegende Nachteile, die der Angeklagte infolge der Verurteilung zu befürchten hat, wie etwa ein drohender Bewährungswiderruf. Nach verbreiteter Auffassung gehören hierzu auch weitere gegen den Angeklagten anhängige Strafverfahren, in denen es zu einer Gesamtstrafenbildung kommen kann (OLG Hamm, StV 2004, 586; KG, Beschluss vom 13.12.2018 – 3 Ws 290/18121 AR 260/18, KK-StPO/Willnow StPO § 140 Rn. 27, 27a).

Hierbei bedarf es allerdings einer gründlichen Prüfung des Einzelfalls, ob andere Verfahren und die Erwartung späterer Gesamtstrafenbildung das Gewicht des abzuurteilenden Falles tatsächlich so erhöhen, dass die Mitwirkung eines Verteidigers geboten ist (OLG Stuttgart, Beschluss vom 02.03.2012 – 2 Ws 37/12).

Diese Voraussetzungen liegen hier ersichtlich nicht vor. Das vorliegende Verfahren selbst bietet – wie dargelegt – kein Anlass zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers. In dem weiteren Verfahren gegen den Angeklagten wird ihm der Vorwurf des bewaffneten Handeltreibens gemacht, wofür § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG eine Mindestfreiheitsstrafe von 5 Jahren vorsieht. Selbst bei Annahme eines minder schweren Falles läge der Strafrahmen nicht unter 1 Jahr Freiheitsstrafe. Die Einstellung des vorliegenden Verfahrens lag daher nahe, was von dem Angeklagten auch beantragt wurde. Selbst im Falle einer Gesamtstrafenbildung wäre lediglich eine geringfügige – für den Angeklagten nicht wesentlich ins Gewicht fallende – Erhöhung der in dem gesonderten Verfahren zu erwartende Strafe anzunehmen gewesen.

Zudem lagen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass durch eine im vorliegenden Verfahren gegebenenfalls zu verhängende Strafe im Rahmen einer späteren Gesamtstrafenbildung eine sonst mögliche Strafaussetzung zur Bewährung gefährdet werden könnte (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 06.01.2017, 4 Ws 212/16).“

Schön, dass sich das OLG zur Zulässigkeit der Rückwirkung äußert, obwohl es darauf ja gar nicht ankam.

Pflichti I: Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers, oder: Voraussetzungen und Ermessen des Vorsitzenden

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Und heute dann drei „Pflichti-Entscheidungen, also weniger als sonst 🙂 .

Zunächst kommt hier der OLG Naumburg, Beschl. v. 04.10.2024 – 1 Ws 424/24 – in dem das OLG noch einmal zu den Voraussetzungen für die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers Stellung nimmt.

Der Angeklagte ist im ersten Rechtsgang durch das Urteil des LG Magdeburg vom 12.12.2022 vom Vorwurf der gemeinschaftlich mit einem Mitangeklagten  begangenen versuchten Anstiftung zu einem Mord freigesprochen worden. Der BGH hat das das Urteil mit den Feststellungen aufgehoben und zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LG zurückverwiesen.

Bereits am 02.12.2021 war dem Angeklagten Rechtsanwalt G. als Pflichtverteidiger bestellt worden. Im April 2024 bestimmte die Vorsitzende der nunmehr zuständigen Schwurgerichtskammer – zehn Hauptverhandlungstermine vom 10.09.2024 bis zum 26.11.2024. Weitere drei Hauptverhandlungstermine bis zum 20.12.2024 blieben vorbehalten.

Mit Schreiben seines Verteidigers Rechtsanwalt G. vom 26.07.2024 beantragte der Angeklagte, ihm Rechtsanwalt S. als weiteren Pflichtverteidiger zu bestellen. Der wurde mit Beschluss vom 03.09.2024 bestellt. Dagegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer sofortigen Beschwerde, die keinen Erfolg hatte.

Das OLG referiert zunächst noch einmal die Grundsätze der obergerichtlichen Rechtsprechung zu Bestellung eines weiteren Verteidigers gem. § 144 Abs. 1 StPO. Es stellt sowohl die Voraussetzungen für die Bestellung als auch den im Beschwerdeverfahren nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum des entscheidenden Vorsitzenden vor. Das ist nichts Neues, so dass ich auf den verlinkten Volltext verweisen kann.

Zur konkreten Sache heißt es dann:

„3. Daran gemessen ist der angefochtene Beschluss nicht zu beanstanden.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO liegt vor. Auch ist weder ersichtlich, dass die Kammervorsitzende von einem falschen Sachverhalt als Entscheidungsgrundlage ausgegangen ist, noch dass sie die maßgeblichen Tatbestandsmerkmale des § 144 Abs. 1 StPO fehlerhaft angewendet hat oder sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen.

Die Vorsitzende hat bei ihrer Entscheidung auf die Ankündigung des bisherigen alleinigen Pflichtverteidigers in den Schriftsätzen vom 26. Juli 2024 und vom 13. August 2024 abgestellt, es seien Beweisanträge in einem solchen Umfang zu erwarten, dass zu befürchten sei, dass die bisher anberaumten und vorbehaltenen Hauptverhandlungstermine nicht ausreichend seien. Zudem hat sie zugrunde gelegt, dass der Pflichtverteidiger gerichtsbekannt in einer Vielzahl weiterer Verfahren tätig ist. Dies hatte dieser in den genannten Schriftsätzen ebenfalls mitgeteilt, verbunden mit der Ankündigung, dass es wegen seiner Einbindung in anderweitigen Strafverfahren bei der Bestimmung weiterer Hauptverhandlungstermine zu erheblichen Schwierigkeiten kommen könne.

Damit ist die Kammervorsitzende ersichtlich von der konkreten Gefahr ausgegangen, dass aus der laufenden Hauptverhandlung heraus nach dem 20. Dezember 2024 weitere Hauptverhandlungstermine anberaumt werden müssen, an denen der bisher alleinige Pflichtverteidiger jedoch aufgrund umfangreicher Terminskollisionen nicht teilnehmen kann. Da bereits jetzt Zeugen bis zum neunten Hauptverhandlungstag geladen sind und der Pflichtverteidiger umfangreiche Beweisanträge angekündigt und zudem eingeschätzt hat, dass aufgrund seiner – gerichtsbekannten – Einbindung in eine Vielzahl von Strafverfahren seine Teilnahme an weiteren anzuberaumenden Hauptverhandlungsterminen fraglich ist, vermag der Senat in der Bewertung der Kammervorsitzenden, der spätere Ausfall des Pflichtverteidigers sei über eine abstrakt-theoretische Möglichkeit hinaus hinreichend wahrscheinlich, keinen Beurteilungsfehler zu erkennen.

Auch die – sich schlüssig aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses ergebende – Bewertung der Kammervorsitzenden, die sachgerechte Verteidigung könne im Fall einer Verhinderung des Pflichtverteidigers nicht durch andere Maßnahmen gewährleistet werden, lässt einen durchgreifenden Beurteilungsfehler nicht erkennen. Angesichts der nach der Einschätzung der Kammervorsitzenden drohenden weitgreifenden Verhinderung des Pflichtverteidigers erschiene der Verweis auf die Bestellung eines Vertreters für einzelne Hauptverhandlungstage nicht sachgerecht. Der Umfang und die Schwierigkeit der Sache – wenn sie auch für sich genommen die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nach § 144 Abs. 1 StPO nicht rechtfertigt – lassen angesichts des damit verbundenen Einarbeitungsaufwandes auch die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erst im Zeitpunkt der tatsächlichen Verhinderung des bisherigen Pflichtverteidigers nicht ohne Weiteres ausreichend erscheinen.

Die Beurteilung der Kammervorsitzenden, es bestehe hier angesichts der Mitteilungen des Pflichtverteidigers vom 26. Juli 2024 und vom 13. August 2024 eine konkrete Gefahr für die zügige Durchführung eines ordnungsgemäß betriebenen Verfahrens, die die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers erfordert, ist damit vertretbar. Darauf, ob der Senat bei eigener Abwägung zu dem gleichen Ergebnis gekommen wäre, kommt es wegen der – wie dargelegt – eingeschränkten Prüfungskompetenz im Beschwerdeverfahren nicht an.

Auf der Grundlage dessen vermag der Senat im Rahmen der zu prüfenden Rechtsfolgeentscheidung – dies betrifft insbesondere den Umfang der Verteidigerbestellung – ebenfalls keinen Rechtsfehler bei der tatgerichtlichen Ermessensausübung zu erkennen. Auch insoweit kommt es nicht darauf an, ob der Senat eine gleichlautende Entscheidung getroffen hätte.“