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Auslagenerstattung: Zunächst Angehörigenschutz, oder: Wenn das Zeugnisverweigerungsrecht wegfällt

Schirm, Schutz

Die Flut von Entscheidungen, die sich mit der Auslagenerstattung befassen, wenn das Buß-geldverfahren eingestellt worden ist, reißt, wie man sieht, nicht ab. Das AG Landstuhl hat sich in seinem dazu ergangenen AG Landstuhl, Beschl. v. 11.07.2024 – 2 OWi 4211 Js 14253/23 – mit der Frage befasst, wie damit umzugehen ist, wenn der Betroffene zunächst berechtigt war, von seinem Zeugnisverweigerungsrecht zugunsten eine nahen Angehörigen Gebrauch zu machen, dieses Recht dann aber im Laufe des Verfahrens entfallen ist.

Dem Betroffenen war eine Geschwindigkeitsüberschreitung zur Last gelegt worden. Das AG hat das Verfahren gem. § 47 Abs. 2 OWiG eingestellt, weil es eine Ahndung nicht für geboten gehalten hat. Neben dem Betroffenen komme als Fahrzeugführer im Vorfallszeitpunkt auch dessen Bruder in Betracht, den das Gericht in der Hauptverhandlung als Zeuge vernommen habe. Dieser habe die Fahrereigenschaft eingeräumt. Das von dem Messgerät gefertigte Lichtbild sei für eine Identifizierung nur sehr eingeschränkt geeignet, sodass das Gericht zum Zwecke der Fahreridentifizierung auf sachverständige Hilfe angewiesen wäre. Die erwartbaren Kosten, die im Falle einer weiteren Sachverhaltsaufklärung anfielen, stünden außer Verhältnis zur Bedeutung des Tatvorwurfs. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass eine Ordnungswidrigkeit der vorgeworfenen Art nicht im Fahreignungsregister einzutragen wäre.

Die Kosten des Verfahrens hat der AG der Staatskasse auferlegt. Seine notwendigen Auslagen habe der Betroffene hingegen selbst zu tragen. Dazu führt das AG aus:

„Dieses Ergebnis rechtfertigt sich aus einer Heranziehung des Rechtsgedankens von § 109a Abs. 2 OWiG. Das Gericht hat dabei nicht verkannt, dass in der Rechtsprechung anerkannt ist, dass der Schutz eines nahen Angehörigen vor der Verfolgung eine Benennung i.S.d. § 109a Abs. 2 OWiG unzumutbar machen kann. Keine Einigkeit herrscht indes hinsichtlich der Frage, ob die Unzumutbarkeit von Angaben, die einen nahen Angehörigen belasten, entfällt, sobald hinsichtlich des Angehörigen Verfolgungsverjährung eingetreten ist (in diesem Sinne OLG Köln, ZfS 1995, 350; AG Oberhausen, Beschl. v. 31.03.2011 — 23 OWi 3/11, BeckRS 2013, 19244; a.A. LG Zweibrücken, NZV 2007, 431 f.). Das Gericht bejaht diese Frage, denn der Eintritt der Verfolgungsverjährung gegen einen nahen Angehörigen hat den Entfall der Konfliktsituation zur Folge, in der sich ein Betroffener befindet und vor der er durch das Kriterium der Unzumutbarkeit geschützt werden soll, wenn er sich von einem gegen ihn bestehenden Verdacht nur dadurch befreien kann, dass er einen nahen Angehörigen als Täter benennt und diesen damit der Gefahr einer Verfolgung aussetzt. Dies zeigt insbesondere der Vergleich zu der Regelung in § 55 StPO, der eine vergleichbare Konfliktsituation zu Grunde liegt und im Rahmen derer anerkannt ist, dass ein Auskunftsverweigerungsrecht nicht mehr besteht, wenn gegen einen als Täter in Betracht kommenden Angehörigen auf Grund eingetretener Verfolgungsverjährung keine Verfolgungsgefahr mehr bestehen kann (BGH, NStZ 2010, 463 f.; 2017, 546 (547)). Nach Eintritt der Verfolgungsverjährung gegen den nahen Angehörigen besteht daher nach Auffassung des Gerichts keine Situation mehr, die dessen Benennung unzumutbar i.S.d. § 109a Abs. 2 OWiG machen würde.

Der Betroffene hat seine Fahrereigenschaft im Rahmen einer Online-Anhörung am 16.05.2023 (BI. 62 d.A.) lediglich pauschal bestritten. Verfolgungsverjährung gegen den Bruder des Betroffenen ist gem. § 26 Abs. 3 Satz 1 Var. 1 StVG am 19.07.2023 eingetreten, die Abgabe des Verfahrens von der Verwaltungsbehörde an die Staatsanwaltschaft ist indes erst am 09.08.2023 erfolgt (BI. 106 d.A.). Der Betroffene hätte mithin ausreichende Gelegenheit gehabt, seinen Bruder noch im behördlichen Zwischenverfahren als möglichen weiteren Fahrzeugführer zu benennen, ohne diesen der Gefahr einer bußgeldrechtlichen Verfolgung auszusetzen.

Im vorliegenden Fall wäre die Benennung für das weitere Verfahren auch wesentlich gewesen. Denn ein rechtzeitiges Vorbringen des Umstands, dass der Bruder des Betroffenen ebenfalls als Fahrzeugführer in Betracht kommt, hätte bei der Bußgeldbehörde eine weitere Aufklärungspflicht ausgelöst und wäre potentiell geeignet gewesen, das anschließende gerichtliche Verfahren – und damit auch die hierdurch verursachten Auslagen des Betroffenen – zu vermeiden (BVerfG, NZV 2014, 95 (96); Thoma, in Göhler, OWiG, 19. Aufl. 2024, § 109a Rn. 10).“

Ich habe mit der Entscheidung Probleme, denn die vom AG getroffene Entscheidung ist m.E. aus verschiedenen Gründen nicht unbedenklich.

1. Man fragt sich zunächst, ob der Rückgriff des AG auf § 109a Abs. 2 OWiG überhaupt möglich ist. Denn § 109 a Abs. 2 OWiG ist dann nicht anwendbar, wenn die Verwaltungsbehörde bei der ihr obliegenden Sachaufklärung die entlastenden Umstände selbst hätte aufklären können, wie z. B. durch einen Fotovergleich (vgl. Göhler/Thoma, a.a.O.§ 109 a Rn 7 m.w.N.). Ist bzw. war der aber nicht möglich, hätte das Verfahren schon von der Verwaltungsbehörde eingestellt werden können/müssen und allein deshalb wären weitere Kosten, die erst durch die Abgabe an die Staatsanwaltschaft und die Vorlage bei Gericht entstanden sind, vermieden worden.

2. Hinzu kommt, dass fraglich ist, ob man § 109a OWiG, auf den das AG zur Stützung seiner Entscheidung verweist, überhaupt heranziehen kann. Die Vorschrift will Missbräuchen vorbeugen und ist deshalb nur in Fällen heranzuziehen, in denen nicht rechtzeitiges Vorbringen als missbräuchlich oder unlauter anzusehen ist. Es kommt darauf an, ob sich für das Verhalten des Betroffenen ein vernünftiger und billigenswerter Grund anführen lässt. Billigenswerter Grund für die Zurückhaltung des entlastenden Umstandes ist nach überwiegender Ansicht der Schutz eines nahen Angehörigen vor der Verfolgung. Der Betroffene hat demnach in zulässiger Weise seinen Bruder vor der Verfolgung geschützt und war m.E. nicht verpflichtet, nach Eintritt der Verjährung ihn als Fahrer zu benennen.

3. Und schließlich: Das AG hat dem Kosten seine notwendigen Kosten insgesamt auferlegt. Auch das erscheint bedenklich. Denn nach § 109 Abs. 2 OWiG kann nur „soweit“ von der Auferlegung auf die Staatskasse abgesehen werden, als Auslagen entstanden sind, „die er (der Betroffene) durch ein rechtzeitiges Vorbringen entlastender Umstände hätte vermeiden können“. Es kann also auch nur teilweise davon abgesehen werden, der Staatskasse notwendige Auslagen aufzulegen. Das bedeutet, dass man unterscheiden muss, welche notwendigen Auslagen bereits entstanden waren, als gegenüber dem Bruder des Betroffenen Verjährung eingetreten ist. Denn bis dahin musste der Betroffene auch nach der Ansicht des AG seinen Bruder nicht als Fahrer benennen. D.h., dass ggf. die Gebühren aus dem Vorverfahren, also Grundgebühr Nr. 5100 VV RVG und die Verfahrensgebühr für das Verfahren vor der Verwaltungsbehörde (Nrn. 5101 ff. VV RVG) der Staatskasse aufzulegen gewesen wären, je nachdem wie sich das Verfahren gestaltet hat. Dazu schweigt das AG, wenn es diesen Umstand überhaupt gesehen hat, aber leider.

Auslagenerstattung: Stufe 1: Tatverdacht gegeben?, oder: Stufe 2: Belastung der Staatskasse grob unbillig?

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Und zum Wochenschluss, ja ja, nicht ganz, am RVG-Tag zwei Entscheidungen zur Auslagenerstattung.

Zunächst berichte ich über den LG Hagen, Beschl. v. 07.01.2025 – 46 Qs 45/24 (190 Js 15/24). Nichts wesentlich Neues, aber ein m.E. sehr schöner Beschluss, weil das LG sehr schön herausarbeitet, welche zwei Schritte zu prüfen sind:

„Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.

Im gerichtlichen Bußgeldverfahren kann das Gericht gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO davon absehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen, wenn er wegen einer Ordnungswidrigkeit nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Der Versagungsgrund ist allerdings mit Zurückhaltung anzuwenden. Mit welchem Sicherheitsgrad eine Verurteilung bei Hinwegdenken des Verfahrenshindernisses zu erwarten gewesen sein muss, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Nach der herrschenden Meinung, der sich die Kammer anschließt, reicht es aus, wenn bei dem bei Feststellung des Verfahrenshindernisses gegebenen Verfahrensstand ein zumindest hinreichender Tatverdacht besteht und keine Umstände erkennbar sind, die bei Durchführung der Hauptverhandlung die Verdichtung des Tatverdachts zur prozessordnungsgemäßen Feststellung der Tatschuld in Frage stellen (BGH, Beschl. vom 05.11.1999 – StB 1/99, NJW 2000, 1427; OLG Hamm, Beschl. vom 07.04.2010 – 2 Ws 60/10, NStZ-RR 2010, 224; OLG Köln, Beschl. vom 05.08.2010 – 2 Ws 471/10, NStZ-RR 2010, 392; KK-OWiG/Hadamitzky, § 105 Rn. 111; a. A. vgl. etwa MüKoStPO/Grommes, § 467 Rn. 22 [Gewissheit erst bei Schuldspruchreife]).

Der insoweit erforderliche Tatverdacht liegt hier vor. Dem Vorwurf der Geschwindigkeitsüberschreitung liegt ein standardisiertes Messverfahren zugrunde. Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit der durchgeführten Geschwindigkeitsmessung lassen sich der Akte nicht entnehmen und werden insbesondere auch nicht vom Betroffenen aufgezeigt. Vielmehr hat er nach Einsicht in die Akte der Ordnungsbehörde und schließlich auch der weiter von seinem Verteidiger erbetenen weiteren Messdaten im Schriftsatz vom 28.10.2024 einerseits seine Fahrereigenschaft einräumen und darüber hinaus mitteilen lassen, keinerlei weitere Angaben zur Sache zu tätigen.

Bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzung trifft das Gericht sodann – gewissermaßen auf der zweiten Stufe – die gebotene Ermessensentscheidung („kann“), ob auf Grund besonderer Umstände die Belastung der Staatskasse mit den Auslagen des Betroffenen ausnahmsweise als grob unbillig erscheint. Da das Ermessen erst dann und nur dann eröffnet ist, wenn ein hinreichender Tatverdacht im oben genannten Sinne vorliegt, müssen zu dem Verfahrenshindernis als alleinigem der Verurteilung entgegenstehendem Umstand weitere besondere Umstände hinzutreten, die es billig erscheinen lassen, dem Betroffenen die Auslagenerstattung zu versagen (BVerfG, Beschl. vom 26.05.2017 – 2 BvR 1821/16, NJW 2017, 2459; BVerfG, Beschl. vom 29.10.2015 – 2 BvR 388/13, NStZ-RR 2016, 159; KK-StPO/Gieg, § 467 Rn. 10b; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 467 Rn. 18). Dies kann insbesondere bei schuldhafter Herbeiführung des Verfahrenshindernisses durch den Betroffenen der Fall sein (MüKoStPO/Grommes, § 467 Rn. 22; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 467 Rn. 18). Dagegen kann es bei einem durch einen Verfahrensfehler des Gerichts eingetretenen Verfahrenshindernis der Billigkeit entsprechen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzubürden (BVerfG, Beschl. vom 26.05.2017 – 2 BvR 1821/16, a. a. O.).

Das Amtsgericht hat ausweislich der Beschlussbegründung einzig darauf abgestellt, dass ohne das Verfahrenshindernis eine Verurteilung des Betroffenen wahrscheinlich gewesen sei. Dies verkennt den dargestellten Prüfungsmaßstab und stellt einen Ermessensnichtgebrauch dar.

Gemäß § 309 Abs. 2 StPO trifft die Kammer als Beschwerdegericht – auch in Ermessensfragen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 309 Rn. 4) – eine eigene Sachentscheidung. In Ausübung des ihr zustehenden Ermessens hat die Kammer die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse auferlegt. Dabei hat die Kammer berücksichtigt, dass Verfolgungsverjährung bereits bei Eingang der Sache bei der Staatsanwaltschaft eingetreten war, so dass das Verfahrenshindernis hinsichtlich des nachfolgenden gerichtlichen Verfahrens von vornherein erkennbar entgegenstand. Zudem hat die Kammer bedacht, dass die eingetretene Verfahrensverzögerung maßgeblich auf ein Fehlverhalten der Verwaltungsbehörde zurückzuführen ist. Diese hat die Akte zur Entscheidung über den Einspruch gemäß § 69 Abs. 3 OWiG erst mit Schreiben vom 10.09.2024 der Staatsanwaltschaft vorgelegt. Zu diesem Zeitpunkt war die Frist der Verfolgungsverjährung nach §§ 31 Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3, 33 Abs. 1 Nr. 9, Abs. 3 S. 1 OWiG bereits abgelaufen. Denn der Bußgeldbescheid vom 15.02.2024 ist dem Betroffenen angesichts der Einlegung des Einspruchs unter dem 22.02.2024 spätestens an diesem Tage zugegangen, sodass die Verfolgungsverjährung spätestens mit Ablauf des 22.08.2024 eingetreten ist.“

Geht doch 🙂 .

KCanG III: Entziehung der Fahrerlaubnis nach StVG, oder: Wann liegt Cannabismissbrauch vor?

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Und dann habe ich hier im dritten Posting noch etwas aus dem Verkehrsrecht, und zwar mit dem VG Ansbach, Beschl. v. 03.01.2025 – AN 10 S 24.3086 – etwas aus dem Verkehrsverwaltungsrecht-

Eragangen ist der Beschluss im einstweiligen Rechtsschutzverfahren betreffend die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen den Entzug einer Fahrerlaubnis sowie die damit verbundene Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins und eines Fahrgastbeförderungsscheins.

Der Antragsteller war Inhaber einer Fahrerlaubnis der Klassen AM, B, L und einer Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung. Der Antragsgegner erhielt Kenntnis davon, dass der Antragsteller am 03.05.2024 gegen 18.55 Uhr mit seinem Kraftfahrzeug unter Einfluss von Cannabis gefahren ist. Eine bei ihm daraufhin um 19.42 Uhr entnommene Blutprobe ergab folgende Werte: 7,6 ng/ml THC, 2,9 ng/ml 11-Hydroxy-THC und 132 ng/ml THC-Carbonsäure. Ausweislich des ärztlichen Berichts waren keine Ausfallerscheinungen ersichtlich. Der Gang war sicher, die Sprache deutlich, das Bewusstsein klar und der Denkablauf geordnet. Im Aktenvermerk der Polizeiinspektion wurde zudem festgehalten, dass keine Fahrfehler festgestellt werden konnten und der Antragsteller während der Kontrolle angegeben habe, dass er regelmäßig Marihuana konsumiere.

Daraufhin  forderte der Antragsgegner zur zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung auf. Als das nicht kommt, wird dem Antragsteller die Fahrerlaubnis aller Klassen entzogen. Zugleich verpflichtete der Antragsgegner ihn, seinen Führerschein sowie den Fahrgastschein innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheides abzugeben. Die sofortige Vollziehung wurde angeordnet. Der Antragsteller gibt dann Führerschein und Fahrgastschein an, legt aber Widerspruch ein und begehrt dann einstweiligen Rechtsschutz. Ohne Erfolg:

„(II.) Die materiellen Anforderungen zur Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nach § 13a Nr. 2a Alt. 2 FeV lagen im maßgeblichen Zeitpunkt, dem Erlass der Begutachtungsanordnung (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – juris Rn. 14), vor. Danach muss die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung einer Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis ein medizinisch-psychologisches Gutachten anfordern, wenn sonstige Tatsachen die Annahme von Cannabismissbrauch begründen.

Der Antragsgegner ist zutreffend davon ausgegangen, dass sonstige Tatsachen vorliegen, die einen Cannabismissbrauch begründen. Gemäß Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV liegt ein Missbrauch von Cannabis vor, wenn das Führen von Fahrzeugen und ein Cannabiskonsum mit nicht fernliegender verkehrssicherheitsrelevanter Wirkung beim Führen des Fahrzeugs nicht hinreichend sicher getrennt werden kann.

Die seit 1. April 2024 geltende Rechtslage unterscheidet zwischen einer Cannabisabhängigkeit (Nr.9.2.3 der Anlage 4 zur FeV), dem Cannabismissbrauch (Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV) und einem fahrerlaubnisrechtlich unbedenklichen Cannabiskonsum (so auch: BVerwG, B. v. 14.6.2024 – 3 B 11.23, BeckRS 2024, 15306 Rn. 9 f.), welcher nach Vorstellung des Gesetzgebers gelegentlich oder auch regelmäßig erfolgen könne (BT-Drs. 20/11370 S.11). Damit hat der Gesetzgeber die bisherige Annahme, dass mit einem regelmäßigen Konsum in der Regel auch eine fehlende Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen vorliege, aufgegeben. Im Übrigen erscheint es vorliegend schon zweifelhaft, einen regelmäßigen Konsum anhand eines THC-Carbonsäurewertes von 132 ng/ml anzunehmen, da dies nach (bisheriger) ständiger Rechtsprechung erst ab einem Wert von 150 ng/ml THC-COOH im Blutserum zu bejahen ist (vgl. BayVGH, B. v.19.4.2022 – 11 CS 21.3010, BeckRS 2022, 9296 Rn. 10). Auch die Frage, ob der Antragsteller selbst angegeben habe, regelmäßig Cannabis zu konsumieren, ist damit nicht mehr entscheidungserheblich.

Mangels gesetzlicher Festlegung eines THC-Wertes in Nr. 9.2.1. der Anlage 4 zur FeV sowie mangels der Anpassung der Begutachtungsleitlinien an die neuen Vorgaben der FeV, greift das Gericht vorliegend auf die Gesetzesbegründung zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und weiterer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften zurück (BT-Drs. 20/11370). Aus dieser geht hervor, dass nach dem aktuellen Kenntnisstand der Wissenschaft die Festlegung eines THC-Grenzwertes, bei welchem der Betroffene im Rahmen der Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV regelmäßig nicht hinreichend sicher zwischen dem Führen eines Kraftfahrzeuges und einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Konsum trennt, nicht möglich sei. Dennoch sei die Legaldefinition des Cannabismissbrauchs aufgrund der Feststellungen der Expertengruppe (vgl. Empfehlungen der interdisziplinären Expertengruppe für die Festlegung eines THC-Grenzwertes im Straßenverkehr (§ 24a StVG)) dahingehend angepasst worden, dass dieser mit dem gesetzlichen Wirkungswertes von 3,5 ng/ml THC-Blutserum in § 24a StVG korrespondiere. Bei Erreichen dieses THC-Grenzwertes sei nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen eine verkehrssicherheitsrelevante Wirkung beim Führen eines Kraftfahrzeuges nicht fernliegend. Der Begriff des „nicht Fernliegens“ sei dabei ein Wahrscheinlichkeitsgrad für die Verwirklichung des Straßenverkehrssicherheitsrisikos und sei so zu verstehen, dass der Risikoeintritt möglich, jedoch nicht wahrscheinlich, aber auch nicht ganz unwahrscheinlich sei (vgl. BT-Drs. 20/11370 S.13). Ausweislich der Darstellungen der Expertengruppe bestehe ab einem THC-Gehalt von über 7 ng/ml THC im Blutserum ein erhöhtes Unfallrisiko und eine verkehrssicherheitsrelevante Leistungseinbuße (vgl. Empfehlungen der interdisziplinären Expertengruppe für die Festlegung eines THC-Grenzwertes im Straßenverkehr (§ 24a StVG) S. 5 f.). Der Antragsteller wies zum Zeitpunkt der Blutuntersuchung ein THC-Wert von 7,6 ng/ml auf und lag damit im Bereich eines erhöhten Unfallrisikos. Durch das 2-fache Überschreiten des THC-Grenzwertes von 3,5 ng/ml war eine verkehrssicherheitsrelevante Wirkung beim Führen eines Kraftfahrzeuges zumindest nicht fernliegend und im Übrigen nach obigen Ausführungen sogar wahrscheinlich. Die Prognoseentscheidung, ob der Antragsteller in Zukunft sicher zwischen einem verkehrssicherheitsrelevanten Cannabiskonsum und dem Führen eines Fahrzeuges trennen könne, fällt in Anbetracht seines erhöhten THC-Wertes negativ aus. Ein Cannabismissbrauch läge damit vor.

Diese alleinige Feststellung stünde jedoch im Widerspruch zu § 13a Nr. 2b FeV. Danach ist ein medizinisch-psychologisches Gutachten einzuholen, sofern eine wiederholte Zuwiderhandlung im Straßenverkehr unter Cannabiseinfluss begangen wurde. Im Umkehrschluss daraus und in Anlehnung an die Rechtsprechung zu § 13 Nr. 2a, b FeV wird eine einmalige cannabisbedingte Ordnungswidrigkeit nach § 24a StVG nicht zur Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nach § 13a Nr. 2a Alt. 2 FeV ausreichen. Im Falle einer Trunkenheitsfahrt stellt nach ständiger Rechtsprechung das Fehlen von Ausfallerscheinungen bei einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,1 Promille eine Zusatztatsache im Sinne des § 13 Satz 1 Nr. 2a Alt. 2 FeV dar, da die Auswirkungen des Alkoholkonsums auf die Fahrsicherheit nicht mehr realistisch eingeschätzt werden können (vgl. BVerwG, U.v. 17.3.2021 – 3 C 3/20 – SVR 2021, 433). Es spricht demnach viel dafür, dass auch im Falle des § 13a Nr. 2a Alt. 2 FeV Zusatztatsachen, wie fehlende Ausfallerscheinungen, vorliegen müssen, die bei einem erstmaligen Verstoß gegen § 24a StVG auf einen Cannabismissbrauch hindeuten, da auch der Wortlaut von sonstigen Tatsachen spricht.

Ausweislich des ärztlichen Berichts vom 3. Mai 2024 waren keine Ausfallerscheinungen beim Antragsteller ersichtlich. Der Gang war sicher, die Sprache deutlich, das Bewusstsein klar und der Denkablauf geordnet. Auch im Aktenvermerk der Polizeiinspektion … vom 4. Mai 2024 wurde festgehalten, dass keine Fahrfehler festgestellt werden konnten. Die fehlenden Ausfallerscheinungen stellen eine sonstige Tatsache dar, welche die Annahme eines Cannabismissbrauchs auch bei einem erstmaligen Verstoß begründen. Es kann möglicherweise durch eine Cannabisgewöhnung und das Fehlen von Warnsignalen die Fahrsicherheit nicht mehr realistisch eingeschätzt werden.

Auch die in der Begutachtungsanordnung gestellten Fragen sind nicht zu beanstanden. Nach § 11 Abs. 6 Satz 1 FeV legt die Fahrerlaubnisbehörde fest, welche Fragen im Hinblick auf die Eignung des Betroffenen zum Führen von Kraftfahrzeugen zu klären sind. Die gestellten Fragen orientieren sich am anlassgebenden Sachverhalt, dem Führen eines Kraftfahrzeugs mit einer THC-Blutkonzentration von 7,6 ng/ml. Dieser Sachverhalt begründet einen Mangel, der bei vernünftiger, lebensnaher Einschätzung die ernsthafte Besorgnis begründet, dass der Betroffene sich als Führer eines Kraftfahrzeugs nicht verkehrsgerecht umsichtig verhalten werde. Demnach ist die Fragestellung geeignet, um zu klären, ob der Antragsteller in Zukunft sicher zwischen einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Cannabiskonsum und dem Führen von Kraftfahrzeugen trennen könne.

Gemäß § 13a Nr. 2a Alt. 2 FeV ist ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen, sofern sonst Tatsachen vorliegen, welche die Annahme eines Cannabismissbrauchs begründen. Ermessen ist nicht gegeben.

Dem Antragsgegner stand wegen der Nichtvorlage des zu Recht geforderten Gutachtens nach § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 11 Abs. 8 FeV kein Ermessensspielraum zu (vgl. BayVGH, B. v.22.1.2024 – 11 CS 23.1451 – juris Rn. 15; BayVGH, B. v.30.3.2021 – 11 ZB 20.1138 – juris Rn. 14). Die Entscheidung erweist sich schließlich auch als verhältnismäßig, da dem Interesse der Allgemeinheit an einem sicheren und verkehrsgerechten Straßenverkehr der Vorrang gegenüber dem Interesse des Antragstellers an dem weiteren Besitz seiner Fahrerlaubnis einzuräumen ist. Billigkeitserwägungen, wie die Notwendigkeit der Fahrerlaubnis zur Berufsausübung, können an dieser Stelle nicht entgegengehalten werden. Gründe, die den Antragsteller daran gehindert haben, das rechtmäßig verlangte Fahreignungsgutachten rechtzeitig beizubringen, hat der Antragsteller nicht vorgetragen. Solche sind auch nicht ersichtlich.

bb) Aufgrund der überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis in Ziffer 1, erweist sich voraussichtlich auch die akzessorische Ablieferungspflicht des Führerscheins in Ziffer 2 und des Fahrgastscheins in Ziffer 3 des Bescheids als rechtmäßig, § 47 Abs. 1 FeV.

4. Aus diesen Gründen wird die Klage voraussichtlich keinen Erfolg haben, weswegen das Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids dem Interesse des Antragstellers einstweilen weiter am Straßenverkehr teilzunehmen, überwiegt. Insbesondere in Anbetracht der besonderen Verantwortung bei der Beförderung von Fahrgästen, wiegt das öffentliche Interesse am Schutz von Leben, Gesundheit sowie Eigentum der Fahrgäste und anderer Verkehrsteilnehmer besonders schwer. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist daher insgesamt, auch hinsichtlich des unter Ziffer 2 gestellten Antrags auf Vollzugsfolgenbeseitigung, abzulehnen.“

OWi II: Alte „Sitzungsrolle“ am Saal als Aushang, oder: Kenntnis des Verteidigers schadet nicht

entnommen wikimedia.org
Urhber: Hichhich – Eigenes Werk

Im zweiten Posting dann etwas Verfahrensrechtliches, und zwar der OLG Koblenz, Beschl. v. 10.05.2024 – 1 ORbs 31 SsBs 12/24 – zur Verletzung der Öffentlichkeit. Ergangen ist der Beschluss in einem Bußgeldverfahren, die Ausführungen des OLG haben aber auch Bedeutung in Strafverfahren.

Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Dagegen die Rechtsbeschwerde, u.a. mit der Rüge der Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit. Die hat Erfolg. Das OLG hat das AG-Urteil aufgehoben:

„Die Verfahrensrüge, mit welcher der Betroffene einen Verstoß gegen den Grundsatz der
Öffentlichkeit gemäß §§ 169 Abs. 1 GVG, 338 Nr. 6 StPO i. V. m. §§ 71 Abs. 1, 46 Abs. 1 OWiG rügt, ist zulässig erhoben und führt in vorliegender Konstellation auch in der Sache zum Erfolg.

1. Die Rüge ist zulässig erhoben. Die Generalstaatsanwaltschaft führt in ihrem Votum vom 2. April 2024 hierzu wie folgt aus:

„Gemäß §§ 79 Abs. 3 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO müssen die den geltend gemachten Verfahrensfehler begründenden Tatsachen so genau und vollständig mit-geteilt werden, dass dem Rechtsbeschwerdegericht allein anhand der Begründungsschrift und ohne Rückgriff auf den Akteninhalt die Prüfung ermöglicht wird, ob ein Verfahrensfehler, auf dem das Urteil beruhen kann, vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen wären (OLG Koblenz, Beschluss vom 09.06.2006 – 1 Ss 161/06; Be-schluss vom 25.06.2012 – 1 SsRs 47/12; Beschluss vom 24.07.2012 – 1 SsRs 63/12).

Zur Rüge der Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit, der auch im Bußgeld-verfahren gilt (OLG Schleswig, Beschluss vom 31.03.2022 — II OLG 15/22, BeckRS 2022, 14674 m.w.N.), gehört dazu die Angabe, der tatsächlichen konkreten Umstände, aus denen sich ergibt, dass das Gericht die Öffentlichkeit beschränkt hat (BGH, Beschluss vom 10.01.2006 1 StR 527/05, NJW 2006, 1220, 1221 f.) und warum es den Verfahrensverstoß zu vertreten hat (BGH, Beschluss vom 28.09.2011 – 5 StR 245/11, NStZ 2012, 173, 174 m.w.N.). Hingegen muss nicht dargelegt werden, dass sich tatsächlich jemand von der Teilnahme an der Verhandlung hat abhalten lassen (OLG Schleswig a. a. O.).

Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung gerecht.

Dass der Verteidiger des Betroffenen aufgrund des von ihm vor der Hauptverhandlung wahrgenommenen Fehlen des Aushangs um die Möglichkeit einer Verletzung der Öffentlichkeit wusste, führt nicht zum Verlust der Rüge. Denn diese könnte selbst dann zulässig erhoben werden, wenn er selbst den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragt hätte (BGH, 1 ORbs 31 SsBs 12/24 Beschluss vom 31.01.1967 – 5 StR 650/66, NJW 1967, 687).“

Dem tritt der Einzelrichter des Senats nach eigener Prüfung bei.

2. In der Sache ist die Verfahrensrüge begründet. Dadurch, dass – soweit im Rechtsbeschwerdeverfahren feststellbar – letztlich keinerlei Aushang auf die im hiesigen Verfahren sattgehabte Sitzung am 26. Oktober 2023 hinwies, war der Öffentlichkeitsgrundsatz in unzulässiger Weise beschränkt und zwingt zur Aufhebung des ergangenen Urteils.

a) Der Grundsatz der Öffentlichkeit aus § 169 Abs. 1 GVG soll die Kontrolle der Rechtspflege durch die Allgemeinheit ermöglichen und zählt zu den wesentlichen rechtsstaatlichen Strukturprinzipien des Strafprozesses. Er verlangt, dass jedermann ohne Ansehung seiner Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und ohne Ansehung bestimmter persönlicher Eigenschaften die Möglichkeit erhalten muss, an den Verhandlungen des Gerichts als Zuschauer teilzunehmen (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 23. März 2023 – 1 StR 20/06, Rn. 10; Urteil vom 6. Oktober 1976 – 3 StR 291/76 – alle Fundstellen, soweit nicht anders gekennzeichnet, zitiert nach juris). Dies umfasst auch über ausreichende Informationen über Ort und Zeit einer Gerichtsverhandlung zu verfügen. Ausreichend hierfür ist, dass jedermann die Möglichkeit hat, sich ohne besondere Schwierigkeiten hiervon Kenntnis zu verschaffen und dass der Zutritt im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten eröffnet ist (vgl. BGH, Urteil vom 10. Juni 1966 – 4 StR 72/66). Regelmäßig genügt wird dem Informationsbedürfnis durch einen entsprechenden Aushang („Terminsrolle“) am Sitzungssaal oder an anderer (zentraler) Stelle im Gerichtsgebäude (vgl. KG, Urteil vom 12. Dezember 2022 – (3) 121 Ss165/22). Daran fehlt es hier.

Wie die Rechtsbeschwerde durch Vorlage entsprechen der Lichtbilder und anwaltlich versichert vorträgt, war zur hiesigen Terminsstunde noch eine Sitzungsrolle vom Vormittag angebracht, die über öffentliche Verhandlungen der Zivilabteilung in Sitzungssaal 107 informierte. Ein Aushang für die Hauptverhandlung im Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen den Betroffenen unmittelbar an der Tür in den Sitzungssaal fehlt indes. Ein entsprechender Aushang befand sich auch nicht an anderer (zentraler) Stelle des Amtsgerichts, etwa im Eingangsbereich. Für eine interessierte Öffentlichkeit war damit nicht erkennbar, dass über-haupt eine Sitzung und dass konkret in dem Verfahren gegen den Betroffen die Hauptverhandlung in Sitzungssaal 107 stattfand. Für eine Nachfrage bei der Wachtmeisterei hinsichtlich einer Verlegung der Hauptverhandlung gegen den Betroffenen in einen anderen Sitzungssaal bestand angesichts dieses Aushangs keine Veranlassung; es konnte vielmehr davon ausgegangen werden, dass in Sitzungssaal 107 überhaupt keine Verhandlung am Nachmittag des 26. Oktober 2023 stattfindet.

b) Dieser Verstoß ist dem Gericht auch zuzurechnen. Hierzu führt die Generalstaatsanwaltschaft in ihrem Votum vom 2. April 2024 aus:

„Zwar hat die Vorsitzende ausweislich ihrer dienstlichen Stellungnahme vom 15.02.2024 grundsätzliche die Sichtbarkeit und Richtigkeit des Aushangs vor dem Sitzungssaal an jedem Verhandlungstag überprüft und bei Fehlen eines Aushangs die zuständige Geschäftsstelle telefonisch über das Fehlen informiert, die diesen dann angebracht habe. Seit Übernahme des Ordnungswidrigkeitendezernats am 04.10.2023 erinnere sie sich konkret an zwei Fälle, in denen der Sitzungsaushang gefehlt habe. Ob dies am hier gegenständlichen Verhandlungstag der Fall gewesen sei, wisse sie aber nicht mehr.

Die dienstlichen Stellungnahmen der Geschäftsstellen erweisen sich insoweit ebenfalls als unergiebig, da diese ebenfalls keine konkrete Erinnerung an den konkreten Verhandlungstag mehr haben.

Danach aber kann – da die dienstliche Stellungnahme der Vorsitzenden dies nicht näher eingrenzt – nicht ausgeschlossen werden, dass der Vorsitzenden bereits innerhalb des kurzen Zeitraums von wenigen Wochen, innerhalb dessen sie für Ordnungswidrigkeitenverfahren zuständig war bis zur Hauptverhandlung in der Sache, das Fehlen des notwendigen Aushangs bereits aufgefallen war und sie die Geschäftsstelle angewiesen hatte, diesen noch anzubringen. Mithin bestand für sie ein konkreter Anlass das Vorhandensein eines aktuellen Aushangs am Verhandlungstag zu überprüfen, was hier indes offenbar unterblieben ist.

Nichts Anderes dürfte gelten, wenn die Vorsitzende – wozu sich die dienstliche Stellungnahme ebenfalls nicht verhält – den Aushang vom Vortag irrtümlich nicht als solchen wahrgenommen, sondern als Aushang für den aktuellen Sitzungstag angesehen hätte. Denn auch in diesem Falle wäre sie ihrer Sorgfaltspflicht zur Wahrung der Öffentlichkeit nicht hinreichend nachgekommen.“

Diesen Erwägungen tritt der Einzelrichter des Senats bei. Für die Vorsitzende hätte aufgrund des vorherigen, zweimaligen Fehlens des Sitzungsaushangs innerhalb weniger Wochen Veranlassung bestanden, die Richtigkeit des Sitzungsaushangs zu überprüfen, zumal sie (unwidersprochen) den Sitzungssaal durch die Zuschauertür betreten hatte, mithin an dem unzutreffenden Aushang vorbeigegangen war, und sie den Saal am Nachmittag des 26. Oktober 2023 im Anschluss an vorausgegangene Termine (hier der Zivilabteilung) nutzte.

Da es sich bei dem Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit um einen absoluten Rechtsbeschwerdegrund handelt (§ 338 Nr. 6 StPO i. V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG), vermutet das Gesetz unwiderleglich, dass das Urteil auf dem Verfahrensmangel beruht. Auf die entsprechende Rüge hin war das Urteil daher aufzuheben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Alzey zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).“

Also Augen auf. Und: Man muss ja nicht alles erzählen/kund tun, was man dann entdeckt 🙂

OWi I: Absehen vom Fahrverbot beim Abstandsverstoß, oder: Das war beim BayObLG aber jemand ganz fleißig

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Ich hatte ja gestern bereits darauf hingewiesen, dass ich im Moment an sich wenig OWi-Entscheidungen habe, die ich vorstellen kann. Heute kann ich dann aber mal wieder einen OWi-Tag machen, da der Kollege Gratz mir vor ein paar Tagen ein paar Entscheidungen zugesandt hat, von denen ich heute drei vorstelle. Aber alle drei Beschlüssen bringen nichts Neues

Ich starte mit dem BayObLG, Beschl. v. 11.9.2024 – 202 ObOWi 808/24 – zum Fahrverbot bei einer Abstandsunterschreitung. Das AG hat von einem Fahrverbot wegen eines „Augenblicksversagens“ nicht abgesehen. Das BayObLG sieht das auch so:

„Dies gilt insbesondere auch, soweit das Amtsgericht keine Veranlassung gesehen hat, von dem wegen des groben Pflichtenverstoßes i.S.v. § 25 Abs. 1 Satz 1 [1. Alt.] StVG verwirkten Regelfahrverbot unter dem Gesichtspunkt eines im Einzelfall eine Fahrverbotsprivilegierung im Rahmen des dem Tatgericht insoweit zustehenden Ermessens rechtfertigenden Sachverhalts, etwa eines sog. „Augenblicksversagens“ oder eines sonst anerkannten Privilegierungsfalls ausnahmsweise abzusehen (zu den insoweit anzulegenden Maßstäben vgl. aus der Rspr. u.a. BayObLG, Beschl. v. 22.03.2019 – 202 ObOWi 96/19 = ZfSch 2019, 588 = DAR 2019, 630 = OLGSt StVG § 25 Nr 74; 20.05.2019 – 201 ObOWi 569/19 = DAR 2019, 628 = Blutalkohol 56 [2019], 334 = VerkMitt 2019, Nr 63 = OLGSt StVG § 25 Nr 76; 17.07.2019 – 202 ObOWi 1065/19 = OLGSt StVG § 25 Nr 73; 01.10.2019 – 202 ObOWi 1797/19 = OLGSt StVG § 25 Nr. 80; 29.10.2019 – 202 ObOWi 1997/19 = ZfSch 2020, 172 = OLGSt StVO § 23 Nr 19; 31.07.2019 – 202 ObOWi 1244/19 bei juris; 27.04.2020 – 202 ObOWi 492/20 = NJW 2020, 3539 = Blutalkohol 57 [2020], 227 = VerkMitt 2020, Nr 55; 04.08.2020 – 201 ObOWi 927/20 = VerkMitt 2021, Nr 3 = DAR 2021, 159; 15.09.2020 – 202 ObOWi 1044/20 bei juris und 19.01.2021 – 202 ObOWi 1728/20 = DAR 2021, 273; vgl. ferner u.a. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 29.10.2020 – 1 OWi 2 SsBs 154/20 = ZfSch 2021, 113; KG, Beschl. v. 26.08.2020 – 122 Ss 69/20 = Blutalkohol 58 [2021], 43 = OLGSt StVG § 25 Nr 83; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.11.2019 – 2 RBs 35 Ss 795/19 bei juris; OLG Frankfurt, Beschl. v. 11.03.2020 – 1 Ss OWi 72/20 bei juris, 31.01.2022 – 3 Ss-OWi 41/22 = ZfSch 2022, 353 = NStZ-RR 2022, 221 u. 26.04.2022 – 3 Ss-OWi 415/22 = DAR 2022, 397; OLG Brandenburg, Beschl. v. 11.06.2019 – 53 Ss-OWi 244/19 bei juris; KG, Beschl. v. 13.05.2019 – 162 Ss 46/19 = Blutalkohol 56 [2019], 396; KG, Beschl. v. 21.04.2022 – 162 Ss 21/22 u. OLG Hamm, Beschl. v. 03.03.2022 – 5 Rbs 48/22, beide bei juris, jeweils m.w.N.). Der gegen die Vorwerfbarkeit einer auf einer Autobahn festgestellten Unterschreitung des nach § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO gebotenen Sicherheitsabstands vorgebrachte Einwand, die Abstandsunterschreitung sei durch das gefahrvolle Auffahren des Führers des nachfolgenden Fahrzeugs verursacht worden, ist regelmäßig unbeachtlich, wenn auf der sog. Beobachtungsstrecke ein plötzliches Abbremsen oder ein unerwarteter Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugführers auszuschließen ist (st.Rspr., vgl. u.a. schon OLG Bamberg, Beschl. v. 25.02.2015 – 3 Ss OWi 160/15 bei juris = NJW 2015, 1320 = NZV 2015, 309 = DAR 2015, 396 = BeckRS 2015, 4844 m.w.N.).“

Nichts Besonderes? Oder vielleicht doch? Ja, aber nicht wegen des Fahrverbotes, sondern wegen der Flut der als Beleg angeführten anderen OLG-Entscheidungen. Da war aber jemand ganz fleißig 🙂 . Ich frage mich bei solchen Zitatketten immer, was das soll. Glaubt der Beschlussverfasser wirklich, dass das jemand nachprüft? Oder will man zeigen, wie fleißig man ist/war? M.E. reichen als Beleg ein oder zwei „Grundsatzentscheidungen“ und gut ist es.