Archiv für den Monat: Juni 2024

Verfahrensrüge I: Rechtlicher Hinweis unterlassen, oder: Urteilsabsetzungsfrist

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Heute dann ein bisschen Rechtsprechung zur Revision, und zwar zunächst:

Die Verfahrensrüge, das Landgericht habe den Angeklagten in der Hauptverhandlung entgegen § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO nicht auf die mögliche und letztlich im Urteil angeordnete Unterbringung in der Sicherungsverwahrung hingewiesen, bleibt ohne Erfolg. Die Rüge ist bereits unzulässig, weil sie nicht den Anforderungen gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt. Die Revision ist nicht ihrer Pflicht nachgekommen, alle Tatsachen vorzutragen, die für eine Prüfung, ob der geltend gemachte Verfahrensfehler vorliegt, nötig gewesen wären. Der Beschwerdeführer teilt nicht mit, dass der Vorsitzende am zweiten Tag der Hauptverhandlung einen protokollierten Verständigungsvorschlag unterbreitet und in dessen Rahmen erklärt hat, die „Entscheidung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung könne ausdrücklich nicht Bestandteil der Verständigung sein.“

Der Vortrag dieser Erklärung des Vorsitzenden wäre aber erforderlich gewesen, damit der Senat überprüfen kann, ob der geltend gemachte Verfahrensverstoß auf der Grundlage des Revisionsvortrags vorliegt. Denn die protokollierte Erklärung des Vorsitzenden könnte den Anforderungen des § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO genügen; das Fehlen des Wortes „Hinweis“ bei der an den Angeklagten gerichteten Erklärung steht dem nicht entgegen (BGH, Beschluss vom 15. September 2022 – 4 StR 307/22, NStZ-RR 2022, 383, 384).“

In der Revisionsbegründung sind alle Tatsachen vollständig vorzutragen, welche für die Prüfung erforderlich sind, ob das Urteil innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 S. 2 und Abs. 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden ist. Liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass die Überschreitung der Frist durch einen im Einzelfall nicht voraussehbaren und unabwendbaren Umstand bedingt war (§ 275 Abs. S. 4 StPO), muss die Revision auch diese besonderen Umstände mit Tatsachen unterlegt darlegen. Eine Verfahrensrüge ist deshalb unzulässig, wenn es die Revisionsbegründung versäumt, über einen entsprechenden Vermerk des Tatrichters zu informieren.

 

 

 

 

 

StPO III: Arrestanordnung bei Geldwäscheverdacht, oder: Allgemeiner Verhältnismäßigkeitsgrundsatz?

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Und dann zum Schluss des Tages mal wieder etwas zum Arrest, und zwar den LG Amberg, Beschl. v. 06.05..2024 – 11 Qs 25/24.

Gegen den Beschuldigten sowie eine Mitbeschuldigte ist ein Ermittlungs-verfahren wegen des Verdachts der vorsätzlichen Geldwäsche gemäß §§ 261 Abs. 1 Nr. 1, 25 Abs. 2 StGB anhängig. Sie sollen aufgrund eines einheitlichen Tatentschlusses auf ihrem gemeinsam geführten Konto bei der pp-Bank (?)  im Zeitraum vom 14.11.2023 bis 12.01.2024 eingegangene Gelder ihnen unbekannter Geschädigter in Höhe von insgesamt 111.646,59 EUR auf ein in Litauen geführtes Konto der pp. an einen unbekannten Täter weitergeleitet haben, wobei die Beschuldigten jedenfalls damit gerechnet hätten, dass die Geschädigten zuvor in der Absicht rechtswidriger Bereicherung und unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zur Überweisung der Geldbeträge veranlasst worden seien.

Mit Beschluss des AG wurde gegen die Beschuldigten zur Sicherung des Anspruchs auf Einziehung von Wertersatz der Vermögensarrest in Höhe von 111.646,59 EUR in das gesamte Vermögen der Beschuldigten angeordnet.

Dagegen die Beschwerde, die beim LG Erfolg hatte. Das LG verneint die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme:

„c) Allerdings ist vorliegend ein Sicherungsbedürfnis (Arrestgrund) im Sinne von § 111e Abs. 1 StPO nicht gegeben.

Durch die Neuregelung des § 111e Abs. 1 StPO und die ersatzlose Aufhebung des § 111d Abs. 2 StPO a.F. ist der Verweis auf § 917 ZPO, mithin die Besorgnis einer Erschwerung oder wesentlichen Vereitelung der Forderungsvollstreckung, entfallen, womit jedoch das bisherige Erfordernis eines „Arrestgrundes“ und die dazu ergangene Rechtsprechung nicht tangiert werden sollten (vgl. BT-Drucks. 18/9525 S.76, 77). Nach der Gesetzesbegründung soll auch in der ab dem 1. Juli 2017 geltenden Regelung der Vermögensarrest wie bisher nur zulässig sein, wenn dies zur Sicherung der Vollstreckung erforderlich ist.

Die Regelung beinhaltet nach dem Wortlaut und den gesetzgeberischen Motiven, dass der allgemeine Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, das Obermaßverbot und die bisherige Rechtsprechung zum „Arrestgrund“ zu beachten sind (vgl. BT-Drucks. 18/9525 S. 49, 76 f.; OLG Stuttgart, Be-schluss vom 25. Oktober 2017 – 1 StR 163/17, NJW 2017, 3731 Rn. 15, KG, Beschluss vom 2. Juni 2020 – 4 Ws 21/20, juris Rn. 25, KK-StPO/Spillecke, 8. Aufl., § 111e Rn. 4, LR/Johann, StPO, 27. Aufl., § 111e Rn. 11 ff., 38). Demnach kommt der Arrest nur in Betracht, wenn zu besorgen ist, dass ohne dessen Verhängung die Vollstreckung des Urteils vereitelt oder wesentlich erschwert werde (s. § 917 Abs. 1 ZPO, BGH, Beschluss vom 3. Juni 2014 – KRB 2/14, NJW 2014, 3258 Rn. 6). Hierbei sind alle Umstände zu würdigen, die geeignet sind, Anhaltspunkte für oder gegen eine drohende Vereitelung oder Erschwerung der Vollstreckung zu ergeben. Dazu können die Art und die Umstände der Verfehlung, die darauf bezogene Hartnäckigkeit und Dauer sowie Maß und Mittel der Tatabsicherung Berücksichtigung finden. Allerdings wird allein das Ge-wicht der zugrundeliegenden Tat nur in besonderen Ausnahmefällen ausreichen. Um einen Arrestgrund bejahen zu können, sind vielmehr regelmäßig Erkenntnisse auch aus dem Verhalten nach der Tat, insbesondere unter dem Eindruck des laufenden Verfahrens, erforderlich, die auf eine entsprechende Vollstreckungsvereitelungsabsicht hindeuten könnten (BGH (3. Strafsenat), Beschluss vom 19.01.2021 – StB 46/20, BGH, Beschluss vom 3. Juni 2014 – KRB 2/14, NJW 2014, 3258 Rn. 7 mwN).

Nach diesen Maßstäben ist der Arrest weder möglich noch verhältnismäßig.

Aus der Tat selbst kann nicht ohne weiteres auf eine Vereitelungsabsicht des Beschuldigten geschlossen werden.

Die verfahrensgegenständlichen Beträge wurden nach eigener über seinen Verteidiger abgegebenen Einlassung des Beschuldigten auf das auf seinen Namen lautende Konto der pp. in Litauen transferiert. Der Beschuldigte konnte über dieses Konto jedoch nicht verfügen. Der Verteidiger selbst hat sich seinen Angaben zufolge überdies vergewissern können, dass auf diesem Konto zwar angeblich ein Bitcoin-Guthaben von 225.000,- € hinterlegt, aber als Kontostand 0,00 € verzeichnet sei.

Vom Beschuldigten veranlasste Abbuchungen auf dieses Konto würden für diesen also keinen Sinn ergeben, die Gefahr eines verminderten Zugriffs im Falle späterer Verurteilung zur Einziehung hieraus nicht erwachsen.

Auch zum Vor- und Nachtatverhalten des Beschuldigten, insbesondere seinem unter dem Ein-druck des laufenden Verfahrens stehenden Verhalten, ist nichts Besorgniserregendes bekannt.

Danach kann auch unter der Prämisse, dass auch bezüglich der Besorgnis, ohne die Verhängung des Vermögensarrestes werde die Vollstreckung des Urteils vereitelt oder wesentlich erschwert, ein (einfacher) Anfangsverdacht iSd § 152 Abs. 2 StPO genügt, ein Sicherungsbedürfnis nicht abgeleitet werden.

Dies gilt nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund von Gesichtspunkten der Verhältnismäßigkeit, die dabei besonders in den Blick zu nehmen sind.

Die angeordneten Vollziehungsmaßnahmen binden vorliegend das gesamte Vermögen des Be-schuldigten, das ihm noch zur Verfügung steht und das er für ganz andere, durchaus legale Zwe-cke dringend benötigt. Da die Arrestsumme in solchen Fällen oft nicht erreicht wird, engt dies auch die zukünftigen wirtschaftlichen Spielräume ggf. massiv ein. Dem Betroffenen wird bereits auf relativ unsicherer Tatsachenbasis und ohne seine Position zuvor verdeutlichen zu können, mittelbar angesonnen, das Vermögen, welches mangels Vorhandenseins nicht gesichert werden kann, zukünftig zum Zwecke weiterer Vollziehung des Vermögensarrests neu zu schaffen. Belas-sen wird es ihm im Rahmen der Vollziehung jedoch lediglich bis zur Pfändungsfreigrenze, während diese übersteigende Beträge nur der weiteren Vollziehung des Vermögensarrests dienen. Unabhängig vom bisherigen Lebensstandard zwingt ihn eine bloß vorläufige und allein der Sicherung dienende Maßnahme, ab sofort ein Leben auf Sozialhilfeniveau zu führen. Das trifft den Adressaten viel stärker als eine Beschlagnahme und erhöht deshalb die Zulässigkeitshürden bereits vor Anordnung, weil die Belastungen aufgrund Vollziehung absehbar sind (MüKoStPO/Bittmann, 2. Aufl. 2023, StPO § 111e Rn. 1-8).

Da das nahezu gesamte Vermögen der Verfügungsbefugnis des Beschuldigten entzogen ist, stellt dies für ihn eine gravierende Beeinträchtigung seiner wirtschaftlichen Handlungsfreiheit dar (vgl. BVerfG NJW 2004, 2443). Der Beschuldigte betreibt hauptberuflich einen Autohandel. Durch die vorgenannten Einschränkungen droht der Verlust seiner beruflichen Existenz.

Die Anordnung des Vermögensarrestes ist daher unverhältnismäßig und kann keinen Bestand haben.“

StPO II: Verzögerung 6 Jahre, 11 Monate, 2 Wochen, oder: Für ein Verfahrenshindernis nicht langsam genug

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Und dann habe ich hier den BGH, Beschl. v. 17.01.2024 – 2 StR 100/23 – zur Frage der Verfahrensverzögerung und wie man damit umgeht.

Im sog. Rechtsgang ist der Angeklagte durch Urteil vom 19.06.2014 – bei Teileinstellung im Übrigen – wegen Urkundenfälschung in 24 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt, von der es drei Monate wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung für vollstreckt erklärt hat. Auf die Revision des Angeklagten hat der BGH dieses Urteil mit Beschluss vom 28. Juli 2015 teilweise u.a. im Ausspruch über die Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben. Das LG hat dann zweiten Rechtsgang mit Urteil vom 06.12.2017 erneut verurteilt und angeordnet, dass von der erstgenannten Gesamtfreiheitsstrafe wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung sechs Monate, eine Woche und drei Tage als vollstreckt gelten.

Dagegen die Revision, mit der u.a. ein Verfahrenshindernis aufgrund einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung geltend gemacht wird. Das liegt nach Auffassung des BGH nicht vor.

„1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird ein Verfahrenshindernis begründet durch Umstände, die es ausschließen, dass über einen Prozessgegenstand mit dem Ziel einer Sachentscheidung verhandelt werden darf. Diese müssen so schwer wiegen, dass von ihnen die Zulässigkeit des gesamten Verfahrens abhängig gemacht werden muss (st. Rspr., vgl. BGH, Urteile vom 25. Oktober 2000 – 2 StR 232/00, BGHSt 46, 159, 168 f.; vom 11. August 2016 – 1 StR 196/16, wistra 2017, 108, 109).

Ein Anwendungsfall wird innerhalb dieser Rechtsprechung in der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung gesehen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 2000 – 2 StR 232/00, BGHSt 46, 159). So verletzt eine erhebliche Verzögerung eines Strafverfahrens den Betroffenen in seinem aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) herrührenden Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren und zugleich die in Artikel 6 Abs. 1 MRK niedergelegte Gewährleistung, die eine Sachentscheidung innerhalb angemessener Dauer sichern soll (vgl. BGH, Beschluss vom 13. November 2003 – 5 StR 376/03, NStZ 2004, 639, 640 mwN).

Allerdings führt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots grundsätzlich nicht zu einem Verfahrenshindernis, sondern ist durch die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung und ggf. durch eine Kompensation in Anwendung der sog. Vollstreckungslösung ausreichend berücksichtigt (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 25. Oktober 2000 – 2 StR 232/00, BGHSt 46, 159, 168 f.; vom 11. August 2016 – 1 StR 196/16, wistra 2017, 108, 109; Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 146; vgl. auch EGMR, Urteile vom 13. November 2008 – 10597/03, StV 2009, 519, 521 Rn. 68; vom 20. Juni 2019 – 497/17, NJW 2020, 1047, 1048 Rn. 55). Lediglich in außergewöhnlichen Sonderfällen, wenn eine angemessene Berücksichtigung des Verstoßes im Rahmen der Sachentscheidung bei umfassender Gesamtwürdigung nicht mehr in Betracht kommt, kann eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ein Verfahrenshindernis begründen, das den Abbruch des Verfahrens rechtfertigen kann (vgl. BGH, Urteile vom 11. August 2016 – 1 StR 196/16, wistra 2017, 108, 109 mwN; vom 6. September 2016 – 1 StR 104/15, wistra 2017, 193, 195 Rn. 30).

2. Ein solch außergewöhnlicher Sonderfall ist vorliegend zu verneinen. Zwar ist festzustellen, dass das Verfahren überlang und insgesamt sechs Jahre, elf Monate und zwei Wochen rechtsstaatswidrig verzögert worden ist. Es genügt jedoch, einen Ausgleich durch eine Kompensationsentscheidung zu gewähren.

a) Dem liegt im Wesentlichen folgender Verfahrensablauf zugrunde:

aa) Bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung liegen nach den durch die Revision nicht beanstandeten Feststellungen und Wertungen des Landgerichts durch die Justizbehörden verursachte Verfahrensverzögerungen von zwei Jahren, vier Monaten und zwei Wochen vor.

Hiernach begannen die Ermittlungen betreffend die aus den Jahren 2004 und 2005 stammenden Taten im Jahr 2007. Im Ermittlungsverfahren fand zwischen dem 28. März 2008 und dem 1. August 2008 über einen Zeitraum von vier Monaten keine Verfahrensförderung statt.

Nach Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft am 20. Oktober 2009 ließ das Landgericht die Anklage mit Beschluss vom 7. April 2011 zu und eröffnete das Hauptverfahren. Die Hauptverhandlung begann am 3. November 2011. Mit Urteil vom 19. Juni 2014 wurde der Angeklagte wegen Urkundenfälschung in 24 Fällen verurteilt. Mit Beschluss vom 28. Juli 2015 – 2 StR 38/15 (NStZ 2016, 430) hob der Senat das Urteil wie ausgeführt auf.

In der Folge gingen die Akten am 23. Oktober 2015 bei der Staatsanwaltschaft und am 29. Oktober 2015 erneut bei dem Landgericht ein. Der Neubeginn der Hauptverhandlung war für den 5. Juli 2017 vorgesehen. Tatsächlich begann sie aufgrund eines Befangenheitsantrags der Verteidigung vom 4. Juli 2017 erst am 18. Oktober 2017. Die Hauptverhandlung endete mit dem nunmehr angefochtenen Urteil vom 6. Dezember 2017.

bb) Daneben stellt der Senat nach Auswertung des Akteninhalts von Amts wegen eine weitere Verfahrensverzögerung von vier Jahren und sieben Monaten nach Erlass der angefochtenen Entscheidung fest.

(1) Zwar ist eine sich nicht aus den Urteilsgründen ergebende Verletzung des Beschleunigungsgebots im Revisionsverfahren grundsätzlich nur auf eine Verfahrensrüge hin zu prüfen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 28. Mai 2020 – 3 StR 99/19, juris Rn. 24). Allerdings ist für Verzögerungen nach Urteilserlass ein Eingreifen des Revisionsgerichts von Amts wegen geboten, wenn der Angeklagte diese Gesetzesverletzung nicht form- und fristgerecht rügen konnte (vgl. BGH, Beschluss vom 2. August 2000 – 3 StR 502/00, NStZ 2001, 52; vom 20. Juni 2007 – 2 StR 493/06, BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 32; KK-StPO/Lohse/Jakobs, 9. Aufl., MRK, Art. 6 Rn. 38; MüKo-StGB/Maier, 4. Aufl., § 46 Rn. 514; offengelassen durch BGH, Beschluss vom 26. Juli 2023 – 3 StR 506/22, juris Rn. 6).

(2) Davon ausgehend ist nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eine weitere Verzögerung von vier Jahren und sieben Monaten festzustellen, die auf die erheblich verzögerte Versendung der Verfahrensakten durch die Staatsanwaltschaft an das Revisionsgericht zurückzuführen ist. Die dort vollständig am 9. Juli 2018 eingegangenen Verfahrensakten wurden erst am 8. März 2023 – soweit die Übersendungsverfügung das Datum 8. März 2022 trägt, handelt es sich um ein offenkundiges Schreibversehen – weitergeleitet, weil sie in der Zwischenzeit „außer Kontrolle“ geraten waren. Sie erreichten am 16. März 2023 den Generalbundesanwalt und gingen am 24. April 2023 beim Senat ein. Unter Berücksichtigung einer angemessenen Bearbeitungszeit (vgl. auch § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO) und eingedenk des Umstandes, dass Rechtsmittelsachen stets als Eilsachen zu behandeln sind (Nr. 153 RiStBV), ergibt sich hieraus eine rechtsstaatswidrige Verzögerung von vier Jahren und sieben Monaten.

b) Dieser Verfahrensablauf begründet eine unangemessene Verfahrensdauer einschließlich rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen von insgesamt sechs Jahren, elf Monaten und zwei Wochen. Es ist jedoch ausreichend, dies durch eine Kompensationsentscheidung auszugleichen.

aa) Die Verfahrensdauer ist für sich genommen unangemessen lang. Seit Bekanntgabe der Vorwürfe an den Angeklagten am 17. März 2008 sind fünfzehn Jahre und elf Monate vergangen.

Zwar darf bei dieser Betrachtung nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Gesamtverfahrensdauer auch maßgeblich durch die über zweieinhalb Jahre andauernde Hauptverhandlung bis zum Verfahrensabschluss im ersten Rechtsgang bedingt ist und die Durchführung des Rechtsmittelverfahrens ein weiteres Jahr und vier Monate erforderte.

Gleichwohl übertrifft die Verfahrensdauer die gesetzliche Verfolgungsverjährung von fünf Jahren (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB) mittlerweile um das Doppelte, was auch angesichts rechtlicher und tatsächlicher Schwierigkeiten des gesamten Tatkomplexes – so wurde dem Angeklagten mit Anklage vom 20. Oktober 2009 Steuerhinterziehung in fünfundzwanzig Fällen sowie Urkundenfälschung in sechsundneunzig Fällen zur Last gelegt – unangemessen ist (vgl. BVerfG NJW 1993, 3254, 3255). Auch das Höchstmaß des Regelstrafrahmens von fünf Jahren (§ 267 Abs. 1 StGB; vgl. hierzu OLG Rostock StV 2011, 220, 222) ist in diesem Umfang überschritten. Hinzu treten die dargelegten nicht zu rechtfertigenden Verfahrensverzögerungen durch Justizorgane von nunmehr insgesamt sechs Jahren, elf Monaten und zwei Wochen.

bb) Ein Verfahrenshindernis geht damit jedoch nicht einher.

(1) Dies gilt zunächst für den durch das Landgericht ermittelten Zeitraum, wonach bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung durch Justizorgane verschuldete Verfahrensverzögerungen von zwei Jahren, vier Monaten und zwei Wochen gegeben sind.

Gemessen an den durch das Landgericht festgestellten Belastungen des Angeklagten im Zeitraum vom 26. April 2012 bis Dezember 2012 waren diese im Rahmen der Sachentscheidung zu berücksichtigen und das Landgericht hatte hierfür – wie rechtsfehlerfrei geschehen – eine Kompensationsentscheidung zu treffen.

(2) Nichts Anderes gilt auch bei Berücksichtigung der gesamten Verfahrensdauer einschließlich aller durch die Justizorgane verschuldeten Verfahrensverzögerungen, insbesondere der besonders ins Gewicht fallenden unterlassenen Weiterleitung der Akten an das Revisionsgericht durch die Staatsanwaltschaft.

Insoweit gewinnt zunächst Bedeutung, dass die getroffenen Feststellungen den Schuld- und Rechtsfolgenausspruch der angefochtenen Entscheidung tragen und das Verfahren nunmehr durch die Senatsentscheidung seinen Abschluss findet (vgl. bei einer fast fünfjährigen, willkürlich unterlassenen Aktenübersendung an das Revisionsgericht BGH, Urteil vom 9. Dezember 1987 – 3 StR 104/87, BGHSt 35, 137, 140 f.), die Akten dem Revisionsgericht auch nicht willkürlich vorenthalten wurden, sondern „außer Kontrolle“ geraten waren (vgl. BGH aaO).

Zudem ist weder ersichtlich noch von der Revision konkret vorgetragen, dass der Angeklagte durch das Verfahren besonderen Belastungen ausgesetzt war, die über die allgemeine Dauer des Verfahrens hinausgegangen wären und allein durch eine Einstellung ausgeglichen werden könnten. So befand er sich in dem hiesigen Verfahren zu keinem Zeitpunkt in Untersuchungshaft (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juli 2023 – 3 StR 506/22, juris Rn. 7).

Des Weiteren stand für ihn bereits im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Senatsentscheidung vom 28. Juli 2015 rechtskräftig fest, dass er sich in dreizehn (von nunmehr achtzehn) Fällen der Urkundenfälschung schuldig gemacht hat und er hierfür unter anderem eine Freiheitsstrafe von drei Monaten als Einzelstrafe, im Übrigen Geldstrafen von 60 bzw. 90 Tagessätzen verwirkt hatte. Dass darüber hinaus die weiteren Fälle eine Strafbarkeit begründeten, war einerseits aufgrund des Aufhebungsgrundes der nicht ausschließbar fehlerhaften konkurrenzrechtlichen Bewertung in diesen Fällen, andererseits aufgrund des Umstandes, dass nur die Feststellungen zum Gebrauchmachen und nicht des Herstellens der falschen Urkunden aufgehoben wurden, ebenfalls erkennbar. Für den Angeklagten war mithin ersichtlich, dass er trotz der Aufhebung nicht mit einem Teilfreispruch, sondern vielmehr mit einem weiteren Schuldspruch und der Verhängung weiterer Einzelstrafen zu rechnen hatte. Dabei hatte er als alleiniger Revisionsführer stets Gewissheit darüber, dass eine Strafverschärfung ausgeschlossen war (§ 358 Abs. 2 StPO).

In einer Gesamtschau der überlangen Verfahrensdauer einschließlich der durch die Justiz verschuldeten Verzögerungen sowie des Umstands, dass sich die Taten nur im Bereich mittlerer Kriminalität bewegten, andererseits aber der geringen und allgemein bleibenden Belastungssituation des Angeklagten, genügt eine weitere Kompensationsentscheidung.“

Na ja, zumindest etwas, ansonsten: Ohne Worte.

Und dazu heißt es dann:

„b) Schließlich hält auch die Höhe der Kompensation für die festgestellte rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung rechtlicher Nachprüfung stand. Das Landgericht hat nach dem sog. Vollstreckungsmodell (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124) zur Entschädigung für die bis Urteilserlass eingetretene rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von zwei Jahren, vier Monaten und zwei Wochen angeordnet, dass fünf Monate – soweit laut Urteilstenor insgesamt sechs Monate, eine Woche und drei Tage als vollstreckt gelten, ist in diesen Zeitraum ein für vollstreckt erklärter Teil in Höhe von einem Monat, einer Woche und drei Tagen aus einer einbezogenen Vorverurteilung eingeflossen – der verhängten ersten Gesamtfreiheitsstrafe als vollstreckt gelten. Dies hält sich im Rahmen des dem Tatrichter eingeräumten Bewertungsspielraums und ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. zum Maßstab BGH, Urteile vom 23. Oktober 2013 – 2 StR 392/13, NStZ-RR 2014, 21; vom 12. Februar 2014 – 2 StR 308/13, NStZ 2014, 599; Beschlüsse vom 1. Juni 2015 – 4 StR 21/15, NStZ 2015, 540; vom 11. August 2016 – 1 StR 196/16, wistra 2017, 108, 110; vom 1. Dezember 2020 – 2 StR 384/20, StV 2021, 355 Rn. 8).

3. Daneben ist das Urteil um eine Kompensation für den nach Urteilserlass eingetretenen und aufgezeigten Konventionsverstoß zu ergänzen.

Diese ist aufgrund des erheblichen Umfangs der Verzögerung so zu bemessen, dass der nach Abzug der bereits durch das Landgericht ausgesprochenen Kompensation und nach Anrechnung (§ 51 Abs. 2 StGB) der bereits vollstreckten und in die Gesamtfreiheitsstrafen einbezogenen Vorstrafen – hierbei handelt es sich um eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten sowie eine Gesamtgeldstrafe von 260 Tagessätzen, wobei von dieser wiederum 40 Tagessätze als vollstreckt gelten – verbleibende vollstreckungsfähige Strafrest der beiden Gesamtfreiheitsstrafen als vollstreckt gilt, so dass dem Angeklagten keine weiteren Freiheitsentziehungen drohen.

Dabei ist unbeachtlich, dass diese Art der Kompensation sich – vorbehaltlich der Berechnung durch die Vollstreckungsbehörde – maßgeblich auf die zweite Gesamtfreiheitsstrafe auswirken wird und einen Ausgleich nur bei Widerruf der Strafaussetzung gewähren würde (vgl. EGMR, Urteil vom 20. Juni 2019 – 497/17, NJW 2020, 1047, 1049 Rn. 58).“

Wortreich, aber nicht unbedingt überzeugend. Und sorry für den langen Text. Das liegt an der Länge der Verfahrensdauer 🙂 .

StPO I: Wirksamkeit der Revisionsrücknahme, oder: Prozessuale Handlungsfähigkeit?

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Und heute StPO- ein bisschen quer durch den Garten der StPO.

Ich beginne im Bereich „Revision“ mit einer Entscheidung des BGH, nämlich dem BGH, Beschl. v. 29.04.2024 – 5 StR 559/23 –, der sich noch einmal zur Rücknahme der Revision äußert.

Das LG hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen richtete sich die vom Beschuldigten fristgemäß eingelegte Revision. Mit Fax vom 19.05.2022 schrieb der Beschuldigte seinem Verteidiger: „Ich ziehe die Revision zurück! Bitte teilen Sie dies dem Gericht mit.“ Der Verteidiger nahm daraufhin mit dem LG am 23.05.2022 zugegangenem Schreiben vom 20.05.2022 „in Absprache mit meinem Mandanten“ die Revision zurück. Die Strafkammervorsitzende übersandte unter dem 24.05.2022 eine Kopie der Rücknahmeerklärung an den Beschuldigten. Am 27.06.2022 beschloss das LG die Kostenfolge nach § 473 Abs. 1 StPO.

Inzwischen hat der Verurteilte die Wirksamkeit der Revisionsrücknahme bestritten. Der BGH hat die Wirksamkeit der Rücknahme festgestellt:

„1. Der Beschuldigte hat die Revision durch seinen Verteidiger wirksam zurückgenommen (§ 302 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Er war bei der entsprechenden Auftragserteilung seines ausdrücklich von ihm ermächtigten Verteidigers (§ 302 Abs. 2 StPO) verhandlungsfähig. Zwar stand der Beschuldigte unter Betreuung. Es bedurfte ausweislich des vom Verteidiger vorgelegten Betreuerausweises aber für die Wirksamkeit von Willenserklärungen gegenüber Behörden nicht der Einwilligung des Betreuers. Der Beschuldigte war zudem prozessual handlungsfähig.

a) Die prozessuale Handlungsfähigkeit setzt voraus, dass ein Angeklagter oder Beschuldigter bei Abgabe einer Rechtsmittelrücknahmeerklärung in der Lage ist, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen und bei hinreichender Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung die Bedeutung seiner Erklärung zu erkennen. Dies wird – wie etwa § 415 Abs. 1 und 3 StPO für das Sicherungsverfahren gegen einen Schuldunfähigen belegen – allein durch eine Geschäfts- oder Schuldunfähigkeit nicht notwendig ausgeschlossen. Vielmehr ist von einer Unwirksamkeit der Rücknahmeerklärung erst auszugehen, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Rechtsmittelführer nicht dazu in der Lage war, die Bedeutung der von ihm abgegebenen Erklärung zu erfassen. Verbleiben Zweifel an seiner prozessualen Handlungsfähigkeit, geht dies zu seinen Lasten (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. März 2022 – 3 StR 29/22; vom 8. Oktober 2019 – 1 StR 327/19; vom 20. Februar 2017 – 1 StR 552/16, NStZ 2017, 487, 488 jeweils mwN).

b) Nach diesen Maßstäben liegen keine Anhaltspunkte vor, die Zweifel daran begründen könnten, der Beschuldigte sei sich zum Zeitpunkt der Rechtsmittelrücknahme nicht der Bedeutung und Tragweite der Erklärung bewusst gewesen. Dies stellt der Senat im Wege des Freibeweises auf Grundlage des Akteninhalts und der beim Verteidiger zu den Umständen der Rücknahme eingeholten Stellungnahme fest.

Zwar folgt aus den Urteilsgründen, dass der psychiatrische Sachverständige beim Beschuldigten eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert hat und sich offensichtlich wahnhaft geprägte Gedankengänge auch noch in den Einlassungen des Beschuldigten in der Hauptverhandlung offenbart haben. Dies ist für die Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung jedoch nicht von maßgeblicher Bedeutung (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Februar 2017 – 1 StR 552/16, NStZ 2017, 487, 488 mwN). Vielmehr zeigt schon das Schreiben vom 25. März 2022, mit dem er zunächst selbst die Revision einlegte und in dem er die „Gesamtanfechtung“ des Urteils und Verletzung seines Notwehrrechts nach § 32 StGB anführte, ebenso wie sein Aufforderungsschreiben an seinen Verteidiger vom 19. Mai 2022, dem Gericht die Rücknahme mitzuteilen, dass der Beschuldigte über Förmlichkeiten informiert war und entsprechend handelte. Der Verteidiger hat zudem in seiner Stellungnahme erklärt, es habe keinen Hinweis auf eine vorgelegene Geschäftsunfähigkeit des Beschuldigten gegeben. Dass dieser bei Abfassen seines Schreibens vom 19. Mai 2022 infolge der schizophrenen Erkrankung in seiner Willensentschließung und Willensbetätigung beschränkt war, ist danach nicht ersichtlich.“

Die vom BGH angesprochenen Fragen muss man im Auge haben 🙂 .

Neuigkeiten zum CanG/KCanG III: Einziehung, oder: Überschreiten der erlaubten nicht geringen Menge

entnommen wikimedia.org
Author H. Zell

Und dann habe ich hier noch eine Entscheidung zur Einziehung, und zwar den AG Bautzen, Beschl. v. 27.05.2024 – 47 Gs 409/24. In ihm geht es um den Umfang dr Einziehung (von Cannabispflanzen) bei Überschreitung der nicht geringen Menge.

Folgender Sachverhalt:

„Kurz vor dem 12.5.2024 baute der über 18 Jahre alte Beschuldigte in seiner Wohnung auf dem Anwesen pp..straße 21 in pp. vier weibliche Cannabispflanzen zum Eigenkonsum an, welche am 12.5.2024 in einem eigens dafür errichteten Anbauzelt in der Wohnung jeweils in einem Gefäß aufbewahrt wurden. Daneben bewahrte der Beschuldigte 47,494g Cannabisblüten in zwei Gläsern in einem Küchenschrank auf. Sowohl die vier Pflanzen als auch die beiden Gefäße mit den Cannabisblüten wurden durch die Polizei sichergestellt. Dem Beschuldigten war bewusst, dass er für den Anbau von mehr als 3 Cannabispflanzen eine Erlaubnis hatte.

Diese Handlungen strafbar als unerlaubter Anbau von Cannabis gemäß §§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 2, 34 Abs. 1 Nr. 2a, 37 KCanG, 74 StGB.

Der Beschuldigte hat die Herausgabe sämtlicher von der Polizei sichergestellten im Tenor bezeichneten Gegenstände verlangt.“

Dazu sagt das AG:

„1. Die Beschlagnahme war nach §§ 94, 98 Abs. 2 i.V.m. § 111b, 111c, 111j Abs. 2 StPO für eine Cannabispflanze richterlich zu bestätigen, da die (vierte) Cannabispflanze nebst Pflanztopf sowohl als Beweismittel dient, als auch der späteren Einziehung im Hauptverfahren nach § 37 KCanG, § 74 StGB unterliegt.

Die angeordnete Maßnahme steht auch im angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat sowie zur Stärke des Tatverdachtes und ist für die weiteren Ermittlungen und die Sicherung der Durchführung des Verfahrens notwendig.

2. Der weitergehende Antrag der Staatsanwaltschaft auf richterliche Bestätigung der Beschlagnahme der sichergestellten drei weiteren Cannabispflanzen und der beiden Glasbehälter mit den Cannabisblüten war indes abzulehnen, da keine gesetzliche Grundlage für diesen Eingriff in die nach Art. 2 Abs. 1, Art. 14 GG geschützten Freiheiten besteht.

a) Beschlagnahme als Einziehungsgegenstand:

Nach der mit dem CanG getroffenen gesetzgeberischen Entscheidung zur Neuausrichtung im Umgang mit Cannabis sind in gewissen Grenzen unter anderem Besitz und Anbau von Cannabis erlaubt. Damit einhergehend stehen diese erlaubten Tätigkeiten auch nicht (mehr) unter Strafe. Konkret ist nach § 3 Abs. 2 Satz 1 KCanG der Besitz von bis zu 50 g Cannabis am Wohnsitz (Buchst. a) und der Besitz von bis zu drei lebenden Cannabispflanzen (Buchst. b) erlaubt. Das Additionsverbot von § 3 Abs. 2 Satz 2 KCanG erfasst nicht die Gegenstände und Mengen nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Buchst. a und b KCanG.

Anders als die Staatsanwaltschaft ist das Gericht nicht der Auffassung, dass sich die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat des unerlaubten Anbaus von Cannabis auf alle vier lebenden Cannabispflanzen bezieht und damit alle vier Pflanzen der Beschlagnahme (zur Sicherung der späteren Einziehung) unterliegen. Der Anbau von bis zu drei Cannabispflanzen gleichzeitig zum Eigenkonsum ist nicht nur gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 2 KCanG straflos, sondern nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b KCanG gesetzlich erlaubt. Die in diesem Rahmen erlaubte Tätigkeit wird nicht dadurch insgesamt zur unerlaubten Tätigkeit, da die erlaubte Menge (hier um eine lebende Cannabispflanze) überschritten wird. Eine derartige Auslegung wäre nach Auffassung des Gerichts contra legem. Gleiches gilt im Ergebnis beim Zusammentreffen des Besitzes der nach § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 KCanG erlaubten Menge mit dem gleichzeitigen Anbau von bis zu drei lebenden Cannabispflanzen zum Eigenkonsum, da das Additionsverbot insoweit nicht eingreift.

Das Gericht ist sich durchaus bewusst, dass dies im Ergebnis dazu führen dürfte, dass die Ermittlungsbehörden die erlaubten Mengen Cannabis abwägen bzw. abzählen und beim Beschuldigten belassen oder an zurückgeben werden müssen.

b) Beschlagnahme als Beweisgegenstand:

Eine Beschlagnahme der drei weiteren Cannabispflanzen und der 47,494g Cannabisblüten nach §§ 94, 98 Abs. 2 StPO als Beweisgegenstand kommt ebenfalls nicht in Betracht. Die Staatsanwaltschaft hat bereits nicht vorgetragen, zu welchen Beweiszwecken diese Gegenstände im Strafverfahren Verwendung finden sollen. Es zeigt sich auch nicht als erforderlich, die Gegenstände als potentielle Beweismittel vorerst im staatlichen Gewahrsam zu belassen. Denn eine fotografische Sicherung der Gegenstände ist erfolgt. Nach den Ausführungen der Mitbeschuldigten besteht auch kein Zweifel daran, dass es sich jeweils um Cannabis bzw. Cannabispflanzen handelt. Auch hat der Beschuldigte dies dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er „sein Cannabis“ zurückgefordert hat.

c) Nicht geringe Menge:

Eine Beschlagnahme zu Beweiszwecken käme uneingeschränkt für alle Gegenstände dann in Betracht, wenn sich der Verdacht bestehen würde, dass der Beschuldigte eine nicht geringe Menge (§ 34 Abs. 3 Satz 1 und 2 Nr. 4 KCanG) besessen und angebaut hat. Ausgehend von der aktuellen Rechtsprechung des BGH (Beschluss vom 18.04.2024 – 1StR 106/24) liegt die nicht geringe Menge weiterhin bei 7,5 g THC. Die sichergestellte Menge erlaubt jedoch unter Berücksichtigung eines durchschnittlichen THC-Gehalts von 10 % nicht den Schluss, dass die nicht geringe Menge vorliegend überschritten wurde. Einer solcher Verdachtsrichtung geht auch die Staatsanwaltschaft nicht nach.

Es kommt daher insoweit auch nicht auf die Frage an, ob im Falle einer nicht geringen Menge die gesamte Menge der Einziehung nach § 37 KCanG i.V.m. § 74 StGB und damit einer vorläufigen Beschlagnahme als potentieller Einziehungsgegenstand unterliegen würde oder ob die Einziehung sich nicht auf die Cannabisgegenstände beziehen kann, die keine nicht geringe Menge sind und deren Gewicht bzw. Zahl unterhalb der Freigrenzen nach § 3 Abs. 1 und 2 KCanG liegen.“