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Verfahrenseinstellung wegen Verfolgungsverjährung, oder: Wille des Gesetzgebers

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Und dann vor dem morgigen „Kessel Buntes“ heute noch Gebühren-/Kosten-/Auslagenentscheidungen.

Ich beginne mit dem LG Stuttgart, Beschl. v.28.02.2022 – 6 Qs 1/22. In dem Beschluss geht es um die Einstellung wegen Verfahrenshindernisses. Die materiellen Fragen lasse ich mal außen vor. Hier geht es nur um die Frage der Auslagenerstattung.

Es waren gegen den Angeklagten verschiedene Tatvorwürfe erhoben worden, u.a. wegen Betruges. Insoweit hat das AG das Verfahren wegen Verjährung eingestellt, aber die Auslagenerstattung abgelehnt. Das LG hat diese Entscheidung aufgehoben:

„2. a) Das Verfahrenshindernis der Verjährung liegt hinsichtlich des Tatvorwurfs des Betruges vor. Der Lauf der gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB fünf Jahre betragenden Verjährungsfrist hat mit Vollendung der angeklagten Tat am 11.02.2015 begonnen. Der Lauf der Verjährungsfrist wurde zuletzt durch den Erlass des Beschlusses über die vorläufige Einstellung gemäß § 205 StPO am 01.12.2016 unterbrochen. Mangels anschließender Verjährungsunterbrechung im Sinne von § 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 StGB ist mit Ablauf des 30.11.2021 daher Verfolgungsverjährung eingetreten.

Der Eintritt der Verjährung wäre für das Amtsgericht leicht vermeidbar gewesen, indem die Anordnung der Verlängerung der Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung am 15.11.2018 (Bl. 436) durch den Referatsrichter und nicht lediglich, ohne richterliche Anordnung, von der Geschäftsstelle vorgenommen worden wäre. Dass es insoweit an einer richterlichen Anordnung fehlte, ergibt sich daraus, dass die am 01.12.2016 verfügte Wiedervorlage für den 01.12.2018 ausdrücklich nur an die Geschäftsstelle erfolgte und eine Vorlage an den Referatsrichter erst für den 15.11.2021 vorgesehen war (Bl. 411). Selbst wenn eine richterliche Anordnung der Verlängerung der Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung im November oder Dezember 2018 nicht erfolgt wäre, hätte die richterliche Anordnung der Verlängerung der Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung bei fristgerechter Wiedervorlage der Akten am 15.11.2021 noch mit verjährungsunterbrechender Wirkung vorgenommen werden können.

b) Insoweit war jedoch die Entscheidung über die notwendigen Auslagen der Angeklagten abzuändern.

Nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO kann das Gericht davon absehen, diese der Staatskasse aufzuerlegen, wenn er wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Voraussetzung hierfür ist, dass bei Hinwegdenken des Verfahrenshindernisses mit Sicherheit von einer Verurteilung auszugehen ist. Teilweise wird auch ein niedrigerer Verdachtsgrad als ausreichend erachtet (KK-StPO/Gieg, § 467 Rn. 10a m.w.N.). Insoweit kann eine Entscheidung aber dahinstehen.

Denn jedenfalls im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung verbleibt es bei der Auslagenerstattung durch die Staatskasse. Auf den Umstand, dass ohne das Verfahrenshindernis eine Verurteilung erfolgt wäre oder ein bestimmter Verdachtsgrad vorlag, kann dabei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht mehr abgestellt werden, da dies bereits tatbestandliche Voraussetzung des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO ist (BVerfG, NJW 2017, 2459; BGH, NStZ-RR 2018, 294, 295 f.). Erforderlich ist vielmehr, dass zum Verfahrenshindernis als alleinigem eine Verurteilung hindernden Umstand weitere besondere Umstände hinzutreten, die es billig erscheinen lassen, die Auslagenerstattung zu versagen (BVerfG, a.a.O.). Auf die dem Verfahren zugrundeliegende Tat, etwa die Schwere der Schuld, darf dabei ebenfalls nicht abgestellt werden (BGH, a.a.O.).

Im Ergebnis kann daher ein Abweichen vom Regelfall der Auslagenerstattung nur bei strafprozessual vorwerfbarem Verhalten des Angeklagten gerechtfertigt werden (KK-StPO/Gieg, a.a.O. Rn. 10b). Derartiges ist vorliegend aber – insbesondere unter Berücksichtigung des unter a) geschilderten Verfahrensganges – nicht ersichtlich.

Dass bei Beachtung dieser Grundsätze § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO nur in seltenen Ausnahmefällen anwendbar ist, entspricht dem Willen des Gesetzgebers (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 64. Auflage 2021, § 467 Rn. 18).“

StPO I: Fehlen eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses?, oder: Ggf. Verfahrenshindernis?

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Der Tag heute ist drei StPO-Entscheidungen gewidmet. Den Auftakt mache ich mit dem BGH, Beschl. v. 05.08.2020 – 3 StR 194/20. Problematik: Ist/war die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen oder ist das „versäumt“ worden und besteht deshalb ggf. ein Verfahrenshindernis. Die Frage beschäftigt die Revisionsgerichte ja immer wieder, vor allem in den Fällen der Übernahme von Verfahren und/oder der Verbindung. So auch hier.

Der BGH bejaht aber das Vorliegen eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses:

„Die Verfahrensvoraussetzung eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses liegt hinsichtlich aller fünf vom Landgericht unter II. festgestellten Fälle vor, obwohl die Strafkammer die den Fällen 1 bis 3 jeweils zugrundeliegenden Anklagen nicht ausdrücklich zur Hauptverhandlung zugelassen hat.

Folgendes Verfahrensgeschehen liegt zugrunde:

Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Angeklagten eine Vielzahl von Anklagen beim Amtsgericht erhoben. Dieses hat einen Großteil der einzelnen Verfahren zu einem führenden Verfahren verbunden, darunter die hiesigen Fälle 1 bis 3. Das führende Verfahren hat es nebst den verbundenen Sachen und weiteren einzelnen, noch nicht hinzuverbundenen Verfahren, darunter die die hiesigen Fälle 4 und 5 betreffenden, dem Landgericht zur Übernahme übersandt.

Die Strafkammer hat unter dem 5. Dezember 2019 das führende Verfahren übernommen und eröffnet, wobei es nur die diesem zugrundeliegende, einen weiteren Tatvorwurf betreffende Anklage gemäß § 207 Abs. 1 StPO ausdrücklich bezeichnet hat. Die Anklagen der hinzuverbundenen Verfahren, darunter die die Fälle 1 bis 3 betreffenden, finden in dem Beschluss keine Erwähnung. Daneben hat es die weiteren, bis dahin separaten Verfahren, darunter die die hiesigen Fälle 4 und 5 betreffenden, übernommen, zum führenden Verfahren verbunden und die zugrundeliegenden Anklagen jeweils zur Hauptverhandlung zugelassen.

Zum ersten Hauptverhandlungstag ist der Angeklagte nicht erschienen. Die mit drei Richtern besetzte Strafkammer hat daraufhin gemäß § 230 Abs. 2 StPO einen Haftbefehl erlassen, in welchem die dem Angeklagten vorgeworfenen Taten im Einzelnen aufgeführt sind. Darunter finden sich alle später als Fälle 1 bis 5 festgestellten Tatvorwürfe.

Damit hat das Landgericht insgesamt hinreichend dokumentiert, dass es die Eröffnungsvoraussetzungen auch für die den Fällen 1 bis 3 zugrundeliegenden Anklagen geprüft und angenommen hat. Zwar ist aus Gründen der Rechtsklarheit bei verbundenen Strafsachen grundsätzlich ausdrücklich schriftlich über die Eröffnung hinsichtlich jeder einzelnen Anklage zu entscheiden; der Verbindungsbeschluss allein bewirkt die Eröffnung in der Regel auch dann nicht, wenn das führende Verfahren bereits eröffnet ist oder – wie hier – später eröffnet wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. August 2017 – 2 StR 199/17, NStZ 2018, 155; vom 4. August 2016 – 4 StR 230/16, NStZ 2016, 747; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 4. April 2019 – 2 Rev 7/19, juris Rn. 16 f.). Zur Eröffnung des Hauptverfahrens genügt jedoch die schlüssige und eindeutige Willenserklärung des Gerichts, die Anklage nach Prüfung und Bejahung der Eröffnungsvoraussetzungen zur Hauptverhandlung zuzulassen. In Fällen, in denen das den Eröffnungsbeschluss enthaltende Schriftstück diesen Willen nicht sicher erkennen lässt, kann aus anderen Urkunden oder Aktenbestandteilen eindeutig hervorgehen, dass die zuständigen Richter die Eröffnung des Hauptverfahrens tatsächlich beschlossen haben (st. Rspr.; s. BGH, Beschluss vom 17. September 2019 – 3 StR 229/19, NStZ 236 f. mwN). Zu solchen Urkunden zählt gegebenenfalls ein Haftbefehl (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Februar 1998 – 4 StR 606/97, NStZ-RR 1999, 14, 15).

Die letztgenannten Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Denn die Strafkammer hat schon durch ihre Beschlüsse vom 5. Dezember 2019 zu erkennen gegeben, dass sie sich des Erfordernisses der Eröffnung jeder einzelnen Anklage bewusst gewesen ist. Dies zeigt sich daran, dass sie hinsichtlich der separaten, noch nicht hinzuverbundenen Sachen eigenständige Eröffnungsentscheidungen getroffen hat. Daneben hat der Vorsitzende bei der Terminierung der Hauptverhandlung Zeugen auch für die bereits durch das Amtsgericht zum führenden Verfahren hinzuverbundenen Strafsachen geladen. Maßgebend kommt hinzu, dass das Landgericht in voller Kammerbesetzung gemäß § 230 Abs. 2 StPO einen Haftbefehl gegen den Angeklagten erlassen hat. In diesem hat es im Einzelnen angeführt, welcher Taten der Angeklagte „hinreichend verdächtig und angeklagt“ ist. Darunter befinden sich auch die später als Fälle 1 bis 3 festgestellten Tatvorwürfe.“

Die Frage muss man als Verteidiger im Blick haben. Sie muss man zwar nicht rügen, da sie von Amts wegen  zu prüfen ist, es empfiehlt sich aber immer, das Revisionsgericht ggf. darauf hinzuweisen.

StPO I: Fehlender Eröffnungsbeschluss, oder: Verfahrenshindernis

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Heute Verfahrensrecht, aber mal nicht vom BGH, sondern von den OLG.

Und ich starte – quasi zum Warmwerden – dann hier der OLG Köln, Beschl. v. 30.06.2020 – III-1 RVs 127/20. Der Angeklagte ist wegen verschiedener Delikte verurteilt worden. Wegen einer Anklage, die dieser Veruretilung zugrunde liegt, hat das OLG gem. § 206a StPO eingestellt. Es fehlte der Eröffnungsbeschluss:

„1. Hinsichtlich der von der Anklage vom 21. Februar 2019 (332 Js 92/19) erfassten Taten war das Verfahren war gemäß § 206 a StPO einzustellen, weil es an der Ver­fah­rens­vor­aus­setzung eines Er­öffnungsbeschlusses fehlt.

Das Vorliegen der Verfahrensvoraussetzungen hat das Revisionsgericht auf die zulässige Revision von Amts wegen im Freibeweisverfahren zu prüfen (BGH NJW 1968, 2253; Kuckein, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl., § 337 Rdnr. 25 m. w. Nachw.). Wenn diese Prüfung ergibt, dass ein Eröffnungsbeschluss fehlt, zwingt dies zur Einstellung des Verfahrens (BGHSt 10, 278 [279]; BGH StV 1983, 2; BGH NStZ 1986, 276; SenE v. 16.06.2020 – III-1 Rs 120/20; SenE v. 24.10.2000 – Ss 329/00 – = VRS 99, 431 [433] = StraFo 2001, 200; SenE v. 21.01.2003 – Ss 456/02 – = VRS 104, 364 [365] = NStZ 2004, 281; SenE v. 14.11.2003 – Ss 435/03 -; Meyer-­Goß­ner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 203 Rdnr. 4 m. w. Nachw.).

Ein Beschluss des Amtsgerichts, durch den die Anklageschrift der Staatsan­waltschaft Köln vom 21. Februar 2019 ? 332 Js 92/19 ? gegen den Revisionsführer zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet wurde, ist in den Akten nicht vorhanden.

Die fehlende Eröffnungsentscheidung ist auch nicht durch andere Beschlüs­se oder Vorgänge im Rahmen des amtsgerichtlichen Verfahrens ersetzt wor­den. Zwar kann ein (konkludenter) Eröffnungs­beschluss auch in einer anderen, vor Erlass des erstinstanzlichen Urteils schriftlich ergangenen Entscheidung gesehen werden, der eine schlüssige und eindeutige Willenserklärung des Gerichts, die Anklage unter den Voraussetzungen des § 203 StPO zuzulassen, unter gleich­zeitiger Würdigung des hinreichenden Tatverdachts, zweifelsfrei entnommen werden kann (vgl. BGH, NStZ 1987, 239; BGH, NStZ 1988, 236; BGH, NStZ?RR 2011, 150 m. w. N., zitiert nach juris; Senat in ständiger Rechtsprechung, vgl. nur SenE v. 16.06.2020 – III-1 RVs 120/20; SenE v.  11.08.2009 ? 81 Ss 35/09; Stuckenberg in LR, StPO, 26. Auflage, § 207 Rdnr. 54).

Vorliegend lassen weder die Übernahme- und Verbindungsentscheidung vom 25. Juni 2019 nebst an den sachverständigen gerichtetem Begleitschreiben (Bl. 167 ff. d. A.) noch die amtsgerichtlichen Verfügungen vom 20. und 30. August 2019 (Bl. 212 ff. und 218 ff. d. A.) noch das Hauptverhandlungsprotokoll vom 26. September (Bl. 234 ff. d. A.) und 7. Oktober 2019 (Bl. 238 ff. d. A.) eine sachliche Prüfung der Zulassungsvoraussetzungen und Bejahung des hinreichenden Tatverdachts bezüglich der angeklagten Delikte erkennen. Auch der Haftbefehl vom 28. März 2019 betrifft nur die im führenden Verfahren  332 Js 130/19 angeklagten Taten.

Dass der Angeklagte das amtsgerichtliche Urteil nur hinsichtlich der Aussetzungsentscheidung angefochten hat, steht der Einstellung nicht im Wege. Es genügt, wenn das Verfahren nur noch etwa wegen der Frage der Strafaussetzung zur Bewährung oder einer anderen Nebenfolge rechtshängig ist (OLG Hamburg VRS 107, 449; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 337 Rz. 6 m. N.).

Bei dieser Sachlage verschlägt es auch nichts, dass das Amtsgericht die Verurteilung wegen „Verstoßes gegen das Waffengesetz in Tateinheit mit Bedrohung“ bei nur einer abgeurteilten Tat zweimal in den Tenor aufgenommen und das Landgericht dies durch die Verwerfung der Berufung ohne klarstellenden Zusatz bestätigt hat.“

Main stream 🙂 .

Anklage III: Keine Mitteilung der Anklageschrift, oder: Verfahrenshindernis?

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Und zum Tagesschluss dann noch der BGH, Beschl. v. 13.05.2020 – 4 StR 533/19 – zur Frage: Stellt die unterbliebene Mitteilung der Anklageschrift ein Verfahrenshindernis dar? Der BGh sagt nein:

„Ein Verfahrenshindernis besteht – anders als die Beschwerdeführerin meint – nicht. Ein solches ergibt sich nicht daraus, dass der Angeklagten und ihrem damaligen Verteidiger zunächst versehentlich nicht die Anklageschrift vom 5. April 2011 mitgeteilt worden war, sondern Abschriften eines anderslautenden Entwurfs der Anklage, die sich lose in den Akten befunden hatten; dieses Versehen war erst nach Eröffnung des Hauptverfahrens bemerkt worden. Danach verfügte der Vorsitzende die Zustellung der Anklage vom 5. April 2011 an die Verfahrensbeteiligten. Die Eröffnung des Hauptverfahrens wurde nicht wiederholt.

Die unterbliebene Mitteilung der Anklageschrift begründet kein Verfahrenshindernis und führt insbesondere nicht zur Unwirksamkeit des Eröffnungsbeschlusses ( BGH, Beschluss vom 19. April 1985 – 2 StR 317/84 , BGHSt 33, 183 ; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 2. Juli 2003 – III-2 Ss 88/03, NJW 2003, 2766; MK-StPO/Wenske, 1. Aufl., § 201 Rn. 2; LR-StPO/Stuckenberg, 27. Aufl., § 201 Rn. 44), da der Verstoß gegen § 201 StPO im weiteren Verfahren durch Nachholung der Mitteilung noch kompensiert werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Dezember 1981 – 4 StR 564/81 ; KG, Beschluss vom 14. Oktober 2015 – 4 Ws 78/15; KK-StPO/Schneider, 8. Aufl., § 201 Rn. 11; MK-StPO/Wenske, aaO, Rn. 35). Dies ist im vorliegenden Fall geschehen.“

StPO III: Abschiebung nach Einlegung der Revision, oder: Verfahrenshindernis?

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Die dritte Entscheidung kommt dann mit dem BGH, Beschl. v. 09.07.2019 – 3 StR 155/19 – vom 3. Strafsenat des BGH.

Das LG hat den Angeklagten wegen schwerer räuberischer Erpressung zu Freiheitsstrafe verurteilt. Er hat mit seiner Revision ein Prozesshindernis geltend gemacht, und zwar, dass er nach Einlegung der Revision und vor Zustellung des angefochtenen Urteils aus der Untersuchungshaft heraus in den Libanon abgeschoben worden sei.

Das hat beim BGH „nichts gebracht“:

„1. Anders als die Revision meint, begründet es kein – dauerndes oder vorübergehendes – Prozesshindernis im Sinne von § 206a Abs. 1 bzw. § 205 Satz 1 StPO, dass der Angeklagte nach Einlegung der Revision und vor Zustellung des angefochtenen Urteils aus der Untersuchungshaft heraus in den Libanon abgeschoben worden ist.

a) Hat ein Angeklagter einen Verteidiger, so hindert seine Abschiebung den Fortgang des Revisionsverfahrens im Grundsatz – wie auch hier – nicht (zur Überstellung eines Angeklagten aufgrund Rückführungsverlangens eines anderen Staates vor der Revisionshauptverhandlung s. BGH, Beschlüsse vom 19. Dezember 1986 – 2 StR 588/86, BGHR GG Art. 25 Restitutionsanspruch 1; vom 18. Februar 1987 – 2 StR 588/86, juris Rn. 4; die Verfassungskonformität dieser Entscheidungen bestätigend BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 1994 – 2 BvR 435/87, NJW 1995, 651; zur freiwilligen Ausreise ins Ausland vgl. OLG Celle, Beschluss vom 13. Oktober 2011 – 31 Ss 42/11, juris Rn. 5). Die zwangsweise Rückführung des Angeklagten gebietet weder mit Blick auf das Prinzip des fairen Verfahrens nach § 6 Abs. 1 MRK noch auf das Recht auf Verteidigung gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK für sich gesehen die Einstellung des Verfahrens.

Die grundsätzliche Ablehnung eines solchen Prozesshindernisses folgt aus dem Wesen der Revision als eines auf Rechtsprüfung beschränkten Rechtsmittels, dem die gesetzliche Ausgestaltung des Revisionsverfahrens Rechnung trägt, und steht in Einklang mit der Rechtsprechung zur Verfahrensvoraussetzung der Verhandlungsfähigkeit in der Revisionsinstanz.

aa) Zwischen dem Tat- und dem Revisionsgericht besteht eine prinzipielle Aufgabenteilung dergestalt, dass dem Tatgericht die Aufklärung und Feststellung des ihm durch die Anklage unterbreiteten Sachverhalts sowie die Rechtsanwendung hierauf einschließlich der Festsetzung gerechter Rechtsfolgen obliegt, während das Revisionsgericht zu überprüfen hat, ob das angefochtene tatrichterliche Urteil aus sich heraus Rechtsfehler enthält und in gesetzmäßiger Weise zustande gekommen ist.

Dementsprechend kann in der Hauptverhandlung vor dem Tatgericht die Einlassung des Angeklagten wesentliche Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein. Er kann selbst Anträge stellen und Zeugen befragen. Er wird vor Entscheidungen des Gerichts neben seinem Verteidiger angehört. Diese Rechte geben dem Angeklagten die Möglichkeit, das Verfahren unabhängig von seinem Verteidiger mitzugestalten und sich so zu verteidigen. Demgegenüber finden im Revisionsverfahren Erörterungen tatsächlicher Art im Allgemeinen nicht statt. Die Möglichkeiten des Angeklagten, dieses Verfahren mitzugestalten, sind gering. Selbst kann der Angeklagte das Rechtsmittel lediglich einlegen und zurücknehmen. Schon die Bestimmung des Umfangs der Anfechtung kann der Angeklagte nur durch seinen Verteidiger (oder zu Protokoll der Geschäftsstelle) vornehmen (§ 344 Abs. 1 StPO). Dasselbe gilt für die nach § 344 Abs. 2 StPO erforderliche Begründung der Revision. In der Revisionshauptverhandlung hat der auf freiem Fuß befindliche Angeklagte das Recht auf Anwesenheit und auf Gewährung des letzten Worts. Freilich kann er dabei für das Revisionsverfahren maßgebliche Erklärungen gemäß § 344 StPO, die nach § 345 StPO nur befristet angebracht werden können und der dort genannten Form bedürfen, nicht wirksam abgeben (s. zum Ganzen BGH, Beschluss vom 8. Februar 1995 – 5 StR 434/94, BGHSt 41, 16, 18 f.). Der nicht auf freiem Fuß befindliche Angeklagte kann seine Anwesenheit in der Hauptverhandlung vor dem Revisionsgericht nicht erzwingen; die Entscheidung darüber steht vielmehr in dessen Ermessen (§ 350 Abs. 2 Satz 3 StPO). Dies ist wegen der skizzierten Ausgestaltung des Revisionsverfahrens unbedenklich, wenn der Angeklagte einen Verteidiger hat und dieser in der Hauptverhandlung anwesend ist (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Februar 1995 – 5 StR 434/94, aaO, S. 19).

bb) In Anbetracht dessen ist etwa auch für die Verfahrensvoraussetzung der Verhandlungsfähigkeit anerkannt, dass es im Revisionsverfahren für die Wahrung der Verteidigungsinteressen des Angeklagten ausreichend ist, wenn er die Fähigkeit hatte, über die Einlegung des Rechtsmittels verantwortlich zu entscheiden, und wenigstens zeitweilig zu einer Grundübereinkunft mit seinem Verteidiger über Fortführung oder Rücknahme des Rechtsmittels in der Lage ist (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 8. Februar 1995 – 5 StR 434/94, BGHSt 41, 16, 19; vom 21. Dezember 2016 – 4 StR 527/16, NStZ 2017, 490; Urteil vom 4. Juli 2018 – 5 StR 46/18, NStZ-RR 2018, 320, 321; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit s. BVerfG, Beschluss vom 24. Februar 1995 – 2 BvR 345/95, NJW 1995, 1951, 1952).

b) Im Fall der Abschiebung ist ein Prozesshindernis zwar ausnahmsweise in Betracht zu ziehen, falls es dem Angeklagten tatsächlich nicht möglich ist, mit seinem Verteidiger in Verbindung zu treten. Da sich ein Angeklagter zu diesem Zweck moderner Kommunikationsmittel bedienen kann, wird mit der Abschiebung jedoch selten die Vereitelung einer Kontaktaufnahme einhergehen (aA – ohne nähere Begründung – OLG Brandenburg, Beschluss vom 26. Mai 2004 – 2 Ws 97/04, NStZ-RR 2005, 49 f.). Im zu beurteilenden Fall besteht hierfür keinerlei Anhalt. Gerade der Vortrag des Verteidigers zu Einzelheiten der Abschiebung spricht, ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommt, für eine solche Kommunikationsmöglichkeit. Denn seine diesbezüglichen Kenntnisse beruhen naheliegenderweise darauf, dass der Angeklagte dem Verteidiger oder seiner in Deutschland lebenden Familie, noch bevor dieser die Revisionsbegründungsschrift verfasst hat, Informationen über seine zwangsweise Rückführung in den Libanon erteilt hatte.

c) Daraus, dass einem abgeschobenen Angeklagten versagt ist, selbst die Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle zu erklären, ergibt sich nichts anderes. Trotz eines solchen Mangels bei der persönlichen Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte (zum Anspruch des verteidigten Angeklagten auf Protokollerklärung s. LR/Franke, StPO, 26. Aufl., § 345 Rn. 16; BeckOK StPO/Wiedner, § 345 Rn. 36) sind diese ausreichend gewahrt, wenn er einen Verteidiger hat, zumal dieser – anders als gewöhnlich der Angeklagte – rechtskundig ist.

Im zu beurteilenden Fall kommt hinzu, dass der im Revisionsverfahren tätige Verteidiger dem Angeklagten bereits im Ermittlungsverfahren beigeordnet worden war und an der Hauptverhandlung teilgenommen hat. Welchen revisionsrechtlich erheblichen Informationsvorsprung der Angeklagte ihm gegenüber gehabt haben könnte, der persönliche Erklärungen zu Protokoll der Geschäftsstelle als erfolgversprechender hätte erscheinen lassen, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Auch in anderem Zusammenhang gilt, dass die Beiordnung eines Verteidigers geeignet ist, erkennbare Mängel bei der persönlichen Wahrnehmung der Verteidigungsrechte zu kompensieren (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Februar 2017 – StB 2/17, BGHR GVG § 184 Gerichtssprache 1 Rn. 10; ferner MüKoStPO/Wenske, § 205 Rn. 34).“