Archiv für den Monat: Juni 2024

Auslagenerstattung nach Verjährungseinstellung?, oder: Man möchte beim AG St. Ingbert schreien

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Und im zweiten Posting dann das AG St. Ingbert, Urt. v.  12.12.2023 – 22 OWi 66 Js 1319/23 (2348/23). Thematik: Auch die Auslagenerstattung nach Einstellung wegen eines Verfahrenshidnernisses. Ich habe diese Entscheidung bewusst nicht heute morgen mit den anderen – positiven – Entscheidungen vorgestellt, da ich mit dem Urteil erhebliche Probleme habe, wie leider häufig mit Entscheidungen von dem Gericht.

Das AG hat in dem Urteil das Bußgeldverfahren eingestellt, weil Verjährung eingetreten war. Gegen den Betroffenen waren wegen desselben Vorwurfs insgesamt zwei Bußgeldbescheide: ergangen: Einmal mit Datum vom 24.01.2023, wobei in diesem Bußgeldbescheid ein falscher Nachname des Betroffenen angegeben war. Dieser Bußgeldbescheid konnte daher dem Betroffenen nicht wirksam zugestellt werden. Dem Verteidiger des Betroffenen wurde dieser Bußgeldbescheid mit Verfügung vom 24.01.2023 formlos übersandt.

Nachdem die Behörde den richtigen Nachnamen des Betroffenen ermittelt hatte, erging nunmehr der Bußgeldbescheid vom 27.01.2023, wobei mit diesem Bußgeldbescheid der alte weder aufgehoben noch zurückgenommen wurde.

Das AG geht davon aus, dass dieser zweite Bußgeldbescheid wegen Verstoß gegen den Verfassungsgrundsatz „ne bis in idem „(Art. 103 Abs. 3 Grundgesetz)  nichtig war. Der zuerst ergangene Bußgeldbescheid wäre aber trotz falscher Namensangabe grundsätzlich wirksam, jedoch konnte diese dem Betroffenen nicht zugestellt werden, so dass Verfolgungsverjährung eingetreten war.

Also Einstellung des Verfahrens nach § 260 Abs. 3 StPO, 46 OWiG. Zur Kostenentscheidung führt das AG dann aus:

„Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 46 OWiG, 467 StPO, wobei es gerechtfertigt erschien, die notwendigen Auslagen des Betroffenen nicht der Staatskasse aufzuerlegen. Der Betroffene wurde mit Anhör- Schreiben vom 17.11.2022 (Blatt 5 d.A.) zu der Sache angehört, wenn auch mit Angabe des falschen Nachnamens. Hierauf hin beauftragte er offensichtlich seinen Verteidiger, der sich mit Schreiben vom 24.11.2022 (7 d.A.) als Verteidiger des Betroffenen bestellte und vorsorglich Einspruch einlegte. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Betroffene somit Kenntnis von dem Vorwurf und dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren; ferner war für ihn ersichtlich, dass ein falscher Nachname angegeben war. Der zuerst erlassene Bußgeldbescheid konnte zwar dem Betroffenen wegen Angabe falschen Nachnamens nicht zugestellt werden, dieser wurde jedoch dem Verteidiger übersandt, sodass der Betroffene frühzeitig darüber informiert war, dass die Behörde fälschlicherweise (Gründe dafür sind aus der Akte nicht ersichtlich) einen falschen Nachnamen angegeben hatte, wobei die übrigen Angaben ausreichend sind und waren, den Betroffenen als solchen zu identifizieren, somit keine Verwechslungsgefahr bestand. Der 2. Bußgeldbescheid wurde dem Betroffenen dann förmlich zugestellt, worauf hin vom Verteidiger Einspruch eingelegt wurde.

Eine Verurteilung des Betroffenen wegen des vorgeworfenen Verstoßes (Verkehrsordnungswidrigkeit) wäre nach Aktenlage und der vorhandenen Beweismittel wahrscheinlich gewesen.“

M.E. falsch. Man möchte schreien wenn man es liest, so falsch ist die Entscheidung. Denn es handelt sich im Hinblick auf die Rechtsprechung des BVerfG (vgl. u.a. BVerfG, Beschl. v.  26.05.2017 – 2 BvR 1821/16) sicherlich nicht um ein  vorwerfbar prozessuales Fehlverhalten des Betroffenen, wenn er auf einen solchen Umstand nicht hinweist. Der nemo-tenetur-Grundsatz gilt auch im Bußgeldverfahren. Das bedeutet, dass der Betroffene auf solche Umstände, die ggf. zu seiner Verurteilung beitragen würden, nicht hinweisen muss. Das scheint sich noch nicht überall im Saarland herum gesprochen zu haben.

Auslagenerstattung nach Einstellung des Verfahrens, oder: Verfahrenshindernis der Verjährung

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Heute stelle ich dann ein paar Entscheidungen vor, die sich mit der Frage der Kosten- und Auslagenentscheidung nach Einstellung des Verfahrens, also §§ 467, 467a StPO, befassen.

Zunächst etwas aus Karlsruhe. Das AG Karlsruhe hatte eine Bußgeldverfahren wegen Verjährung eingestellt – der Bußgeldbescheid war nicht fristgemäß zugestellt – eingestellt. In der Kosten- und Auslagenentscheidung hieß es dann kurz und zackig nur: „Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 464, 467 Abs. 1 und 3 StPO. Unter Würdigung aller entscheidungserheblichen Umstände des Einzelfalls wird daher davon abgesehen, die notwendi­gen Auslagen der Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen.

Das sieht das LG Karlsruhe dann im LG Karlsruhe, Beschl. v. 31.01.2024 – 4 Qs 46/23 – anders:

2. Die Kostenentscheidung des Amtsgerichts Karlsruhe vom 25.08.2023 war auf die sofortige Beschwerde der Betroffenen insoweit aufzuheben, als darin angeordnet wurde, dass die Betroffene ihre notwendigen Auslagen im Bußgeldverfahren selbst zu tragen hat. Diese waren der Staatskasse aufzuerlegen.

Gemäß § 467 Abs. 1 StPO fallen grundsätzlich die Auslagen der Staatskasse und die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse zur Last, soweit das Verfahren gegen ihn eingestellt wird. Über § 46 Abs. 1 OWiG gilt diese Vorschrift sinngemäß auch für das Bußgeldverfahren. Gemäß §§ 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO, 46 OWiG kann das Gericht jedoch davon absehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen, wenn er nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht.

Ein Fall der §§ 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO, 46 OWiG ist indes in vorliegender Sache im Ergebnis nicht gegeben:

Soweit in dem Beschluss des Amtsgerichts zur Begründung auf die „Würdigung aller entscheidungserheblichen Umstände des Einzelfalls“ abgestellt wird, bleibt schon unklar, ob damit ein Tatverdacht gegen die Betroffene in einem für eine Anwendbarkeit des § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO erforderlichen Maß begründet werden sollte. In Rechtsprechung und Literatur gehen hin-sichtlich der insoweit zu fordernden Tatverdachtsstufe die Ansichten auseinander: § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO verlangt, dass der Angeschuldigte wegen einer Straftat „nur deshalb nicht verurteilt wird“ weil ein Verfahrenshindernis besteht. Teilweise wird insoweit verlangt, dass bei Hinweg-denken des Verfahrenshindernisses mit Sicherheit von einer Verurteilung auszugehen sein müsse (vgl. etwa KK-StPO/Gieg, 9. Aufl. 2023, StPO § 467, Rn. 10a). Dies erscheint vorliegend mangels einer Beweisaufnahme zum Tatvorwurf in der Sache zumindest zweifelhaft. Nach anderer Ansicht und wohl herrschender Rechtsprechung genügt eine niedrigere Tatverdachtsstufe und insbesondere ein auf die bisherige Beweisaufnahme gestützter erheblicher Tatverdacht (vgl. etwa OLG Bamberg, Beschluss vorn 20.07.2010, Az.: 1 Ws 218/10). Letztlich kann die Frage der Verdachtsstufe aber vorliegend offen bleiben.

Die Möglichkeit, nach § 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO von einer Erstattung der notwendigen Auslagen abzusehen. besteht nämlich nur dann, wenn zusätzlich zu dem Verfahrenshindernis als alleinigem eine Verurteilung hindernden Umstand weitere besondere Umstände hinzutreten, die es als billig erscheinen lassen, dem Betroffenen die Auslagenerstattung zu versagen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.05.2017, BvR 1821/16, NJW 2017, 2459). Die erforderlichen besonderen Umstände dürfen dabei aber gerade nicht in der voraussichtlichen Verurteilung und der zu Grunde liegenden Tat gefunden werden, denn das ist bereits Tatbestandsvoraussetzung für die Ermessensentscheidung des Gerichts (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 20.07.2010, 1 Ws 218/10) Grundlage für ein Absehen von der Erstattung notwendiger Auslagen muss vielmehr ein hinzutretendes vorwerfbar prozessuales Fehlverhalten des Betroffenen sein. Bei einem in der Sphäre der Verwaltungsbehörde oder des Gerichtes eingetretenen Verfahrenshindernis hingegen, wird es regelmäßig der Billigkeit entsprechen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzubürden (vgl. BVerfG. a.a.O., KK-StPO/Gieg, a.a.O., Rn 10b; LG Ulm, Beschluss vorn 06.11.2020 — 2 Qs 46/20, BeckRS 2020, 32961).

Im vorliegenden Fall liegt ein prozessuales Fehlverhalten der Betroffenen nicht vor. Der Grund für den Eintritt des Verfahrenshindernisses der Verjährung liegt vielmehr darin, dass eine wirksame Zustellung des Bußgeldbescheids (unter der ausweislich der Meldeauskunft vorn 02.11.2021 seit dem 13.10,2021 maßgeblichen Adresse „26 Rue pp. in pp. /Frankreich“) nicht erfolgt ist.

Vor diesem Hintergrund erscheint es im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung nach §§ 467 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 StPO. 46 OWiG unbillig, die Betroffene entgegen der gesetzlichen Regel nach §§ 467 Abs. 1 StPO, 46 OWiG mit ihren notwendigen Auslagen zu belasten.“

Und in die gleiche richtige Richtung geht der AG Limburg, Beschl. v. 19.03.2024 – 3 OWi 110/24.

Anwalt III: Terminverlegung wegen Anwaltsurlaub?, oder: Nicht beim Kurzurlaub „ins Blaue“

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Und dann als drittes Posting heute etwas aus einem finanzgerichtlichen Verfahren. Ok, ok, aber das, was der BFH im BFH, Beschl. v. 22.04.2024 – III B 82/23 – ausführt, kann auch in anderen Verfahren von Bedeutung sein/werden. Es geht nämlich um eine Terminverlegung wegen eines (Kurz)Urlaubs des Rechtsanwalt „ins Blaue“

Das Verfahren befindet sich im zweiten Rechtsgang. Im ersten Rechtsgang hatte der Bundesfinanzhof (BFH)  die Vorentscheidung aufgehoben und das Verfahren gemäß § 116 Abs. 6 FGO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen, da das FG trotz eines dargelegten und glaubhaft gemachten wichtigen Grundes für eine Terminsverlegung in der Sache verhandelt und entschieden hatte.

Im zweiten Rechtsgang stellte der Kläger/Beschwerdeführer zunächst erfolgreich zwei weitere Anträge auf Terminsverlegung. Bei der streitgegenständlichen dritten Ladung im zweiten Rechtsgang (der vierten Ladung unter Berücksichtigung des ersten Rechtsgangs) wurde der Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 22.02.2023 – Aschermittwoch – bestimmt. Der ordnungsgemäß geladene Prozessbevollmächtigte, ein selbständiger Einzelanwalt mit Kanzleisitz in Sachsen, nicht in Köln 🙂 , beantragte mit Schreiben vom 31.01.2023 Terminsverlegung mit der Begründung, dass er sich vom 16.02.2023 bis zum 22.02.2023 im Urlaub befinde.

Das FG lehnte diesen Antrag mit Schreiben vom 03.02.2023 unter Hinweis auf den BFH-Beschluss vom 16.10.2020 – VI B 13/20 (BFH/NV 2021, 434) ab, da der Prozessbevollmächtigte nicht dargetan ? ?und erst recht nicht glaubhaft gemacht ?? habe, dass der Klägervertreter infolge eines bereits vor Anberaumung des Termins geplanten Urlaubs ortsabwesend sei.

Weder der Kläger noch der Prozessbevollmächtigte erschienen zur mündlichen Verhandlung. Das FG verhandelte in Abwesenheit der Klägerseite und wies die Klage ab. In den Urteilsgründen legte es die hierfür maßgeblichen Gründe dar. Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision (§ 116 Abs. 1 FGO), die er mit einer Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 96 Abs. 2 FGO) und damit mit einem Verfahrensfehler im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO begründet. Die Beschwerde Antrag hatte keinen Erfolg:

„Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann das Vorgehen des FG, die mündliche Verhandlung in Abwesenheit der Klägerseite durchzuführen und eine verfahrensabschließende Entscheidung zu treffen, nicht beanstandet werden. Der rechtskundig vertretene Kläger hat gegenüber dem FG schon keinen erheblichen Grund im Sinne des § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 227 Abs. 1 ZPO dargelegt, der eine Terminsverlegung gerechtfertigt hätte, obwohl er hierzu Anlass hatte.

a) Der Kläger hat vor der mündlichen Verhandlung weder dargetan noch glaubhaft gemacht, dass die Urlaubsplanung des Prozessbevollmächtigten bereits vor Zugang der Ladung so ausgestaltet war, dass diesem unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Einzelfalls die Wahrnehmung des gerichtlichen Termins während dieser Zeit nicht zumutbar ist.

Der Vortrag im Schreiben vom 08.02.2023, der Prozessbevollmächtigte habe sich vor Zugang der Ladung mit seiner Frau darauf verständigt, am Sitzungstag Urlaub zu machen, sie wüssten aber nicht, wohin die Reise gehen solle, genügt nicht, um eine Terminsverlegung zu erreichen. Bei einem derartigen Urlaub „ins Blaue“ liegt die Erheblichkeit des Grundes im Sinne des § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht auf der Hand, sondern kann sich nur unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls ergeben.

b) Weitere zu seinen Gunsten zu berücksichtigende Umstände hat der Kläger jedoch nicht vorgetragen und erst recht nicht glaubhaft gemacht, obwohl das FG mit Schreiben vom 03.02.2023 deutlich gemacht hatte, dass es den Termin zur mündlichen Verhandlung nicht (ein weiteres Mal) wegen eines nicht näher präzisierten Urlaubs verlegen werde und obwohl sich aus diesem Schreiben in Zusammenschau mit dem vorangegangenen Schriftwechsel ergab, dass das FG auch eine Glaubhaftmachung der erheblichen Gründe verlangt. Dies war dem Prozessbevollmächtigten auch klar, denn er kritisiert, dass der Richter durchwegs Nachweise haben wollte, ob seine (des Prozessbevollmächtigten) Aussagen wahr seien.

Als Rechtsanwalt musste dem Prozessbevollmächtigten bekannt sein, dass er in einem derartigen Fall zusätzlich zu dem angegebenen Verlegungsgrund –dem beabsichtigten Urlaub– Umstände vortragen und glaubhaft machen muss, wonach die Wahrnehmung des gerichtlichen Termins nach den Gesamtumständen des Einzelfalls als nicht zumutbar erscheint. Auch dem BFH-Beschluss vom 16.10.2020 – VI B 13/20 (BFH/NV 2021, 434, dort insbesondere Rz 28), auf den sich das FG bezogen hatte, ließ sich dies entnehmen.

c) Auch aus den Akten ergeben sich keine Umstände, wonach sich dem FG die Unzumutbarkeit der Terminswahrnehmung geradezu aufdrängen musste.“

Anwalt II: Zweimal etwas zum Beiordnungsgrund, oder: Schwere Rechtsfolge oder psychiatrisches Gutachten

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Und dann hier im Mittagsposting zwei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Von einer schweren Rechtsfolge ist ab einer Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe auszugehen, wobei auch schwerwiegende mittelbare Nachteile, wie ggf. eine Bewährungswiderruf und eine Ablehnung des Antrags auf Aufhebung der Führungsaufsicht in anderer Sache zu berücksichtigen sind.

Liegt ausweislich eines psychiatrischen Gutachtens bei dem Angeschuldigten eine seelische Behinderung, nämlich eine psychotische Störung durch multiplen Substanzgebrauch (F19.5) vorm die ihn nach der Bewertung der Ärztin daran hindert seine Angelegenheiten in Bezug auf die Vermögenssorge, die Vertretung gegenüber Ämtern, Behörden und der Krankenkasse, die Vertretung in Wohnungsangelegenheiten, die Geltendmachung von Ansprüchen auf Sozialleistungen, die Hilfe im Insolvenzverfahren sowie die Gesundheitssorge selbst zu besorgen, ist Unfähigkeit zur Selbstverteidigung zu bejahen.

Anwalt I: Rückwirkende Bestellung des Pflichti, oder: Die Waage neigt sich zur „Zulässigkeit“

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Und heute gibt es dann einen Tag mit „Pflichti-Entscheidungen“, aber nicht nur. Das letzte Posting betrifft eine Entscheidung vom BFH, die aber auch den Rechtsanwalt betrifft, daher der Oberbegriff „Anwalt“.

Ich beginne mit den Entscheidungen, die mir in der letzten Zeit zur rückwirkenden Bestellung zugegangen sind. Das sind alles „positive“ Entscheidungen, also solche, die die rückwirkende Bestellung als zulässig angesehen haben. M.E. dreht sich das Blatt und wir haben zunehmend Gerichte, die dieser Auffassung sind. Hier kommen dann:

    1. Liegt es allein an von dem Beschuldigten nicht zu beeinflussenden Abläufen, ob die Entscheidung über seinen Antrag – hier: Bestellung eines Pflichtverteidigers – vor dem Abschluss des Verfahrens ergeht, ist ihm faktisch die Möglichkeit der Herbeiführung einer Entscheidung im gerichtlichen Beschwerdeverfahren verwehrt, mit der Folge, dass er auch noch nach Abschluss des Verfahrens Beschwerde gegen die Ablehnung seines Antrags, ihm einen Pflichtverteidiger zu bestellen, einlegen kann.
    2. Mit der Reform der §§ 141, 142 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BT-Drucks. 19/13829, S. 36 ff.) und aufgrund der dieser Gesetzesänderung zugrundeliegenden RL 2016/1919/EU ist die Annahme eines Verbotes der rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht mehr begründbar.
    3. An der bisher vertretenen anderen Auffassung hält die Kammer nicht mehr fest.
    1. Liegt es allein an von dem Beschuldigten nicht zu beeinflussenden Abläufen, ob die Entscheidung über seinen Antrag – hier: Bestellung eines Pflichtverteidigers – vor dem Abschluss des Verfahrens ergeht, ist ihm faktisch die Möglichkeit der Herbeiführung einer Entscheidung im gerichtlichen Beschwerdeverfahren verwehrt, mit der Folge, dass er auch noch nach Abschluss des Verfahrens Beschwerde gegen die Ablehnung seines Antrags, ihm einen Pflichtverteidiger zu bestellen, einlegen kann.
    2. Mit der Reform der §§ 141, 142 StPO durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Vertei­digung vom 10.12.2019 (BT-Drucks. 19/13829, S. 36 ff.) und aufgrund der dieser Gesetzesände­rung zugrundeliegenden RL 2016/1919/EU ist die Annahme eines Verbotes der rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht mehr begründbar.
    3. Hat der der Betroffene (s)einen Antrag rechtzeitig gestellt und alle formalen Voraussetzungen für dessen Bewilligung erfüllt sind, soll es ihm und indirekt dem von ihm beauftragten Anwalt finanziell nicht zum Nachteil gereichen, dass aus von ihnen nicht zu vertretenden und einzig im Verantwortungsbereich der Justiz liegenden Umständen mit einer Entscheidung hierüber bis zum Abschluss der Instanz zugewartet worden ist.
    4. Entgegenstehende Rechtsprechung wird aufgegeben.
    1. § 68a Abs. 1 Satz 1 JGG bestimmt in den Fällen der notwendigen Verteidigung lediglich den Zeitpunkt, zu welchem dem Jugendlichen oder Heranwachsenden „spätestens“ ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist, nämlich bevor eine Vernehmung des Jugendlichen oder Heranwachsenden oder eine Gegenüberstellung mit ihm durchgeführt wird. Aus der Formulierung „spätestens“ folgt, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 68 JGG dem Beschuldigten auch bereits vor dem in § 68a Abs. 1 Satz 1 JGG genannten Zeitpunkt ein Pflichtverteidiger bestellt werden kann.
    2. Unter besonderen Umständen ist die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers möglich, etwa wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss bzw. Einstellung des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung vorlagen und die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der (ehemalige) Beschuldigte keinen Einfluss hatte, insbesondere die Entscheidung über den Beiordnungsantrag seitens der Justiz wesentlich verzögert bzw. das in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO statuierte Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde.
    1. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Abschluss des Verfahrens ist zulässig, wenn trotz des Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140, 141 StPO über den rechtzeitig gestellten Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung aus justizinternen Gründen nicht entschieden worden ist oder die Entscheidung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat. Hiergegen lässt sich insbesondere nicht einwenden, dass eine solche Beiordnung allein noch dem Kosteninteresse des Beschuldigten und seines Verteidigers dient.
    2. Der Anwendungsbereich des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO Vorschrift beschränkt sich auf Fälle der Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen nach § 141 Abs. 2 StPO.
    1. Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ist vorzunehmen, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde.
    2. Eine entsprechende Anwendung des § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO auch auf Fälle einer ausdrücklichen Antragsstellung nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO kommt nicht in Betracht.