Archiv für den Monat: März 2022

BVerfG II: Mitschreibeverbot in der Hauptverhandlung, oder: Beim Vorsitzenden eine Ausnahme beantragt?

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Die zweite Entscheidung des BVerfG, der BVerfG, Beschl. v. 26.01.2022 – 2 BvR 75/22 – hat ihren Ausgangspunkt in einem Staatsschutzverfahren beim OLG Frankfurt.

Dort hatte der Vorsitzende folgende Anordnung erlassen:

„Zuschauern ist das Mitschreiben in der Verhandlung grundsätzlich nicht gestattet. Sofern in Ausnahmefällen ein nachgewiesenes wissenschaftliches Interesse an der Mitschrift besteht, kann ein begründeter Antrag an den Senat gestellt werden. Eine Mitschrift ist dann im Fall positiver Bescheidung zulässig.

Medienvertretern hingegen ist gestattet, sich mit internetfähigen Geräten im Offline-Modus Notizen zu machen.“

Die Anordnung hat der Senatsvorsitzende auf § 176 Abs. 1 GVG. Eine Begründung für die  Regelung enthielt die sitzungspolizeiliche Verfügung nicht. Dagegen ist Verfassungsbeschwerde einegelt worden, mit der geltend gemacht worden ist, diese Regelung verletze den Beschwerdeführer in seiner durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit. Außerdem gebe es keinen Grund dafür, Medienvertreter und Personen, die ein wissenschaftliches Interesse daran geltend machen könnten, in der Verhandlung mitzuschreiben, ihm gegenüber zu privilegieren, weshalb auch ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vorliege. Der Beschwerdeführer hatte ausgeführt, er besuche „nur ab und zu in [seiner] Freizeit Gerichtsprozesse und möchte auch an diesem [Prozess] teilnehmen und [sich] bei spannenden Sachen Notizen machen, […] den Eindruck des Gerichtsaales schriftlich festhalten und mitschreiben, wie so ein großer Gerichtsprozess [ablaufe]“. Seine Aufzeichnungen wolle er weder an andere Personen weitergeben noch sonst veröffentlichen.

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen:

„Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, denn die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG sind nicht erfüllt. Grundsätzliche Bedeutung kommt der Verfassungsbeschwerde nicht zu. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt, da sie unzulässig ist. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht der Subsidiaritätsgrundsatz entgegen.

1. Der aus § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG abgeleitete Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde fordert, dass ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle ihm zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 68, 384 <388 f.>; 77, 381 <401>; 81, 97 <102>; 140, 229 <232 f. Rn. 10>). Die mit dem Grundsatz der Subsidiarität bezweckte vorrangige Anrufung der Fachgerichte soll eine umfassende Vorprüfung des Beschwerdevorbringens gewährleisten (vgl. BVerfGE 4, 193 <198>; 16, 124 <127>; 51, 386 <396>; 72, 39 <43>). Dem Bundesverfassungsgericht soll vor seiner Entscheidung unter anderem ein – gegebenenfalls sogar in mehreren Instanzen – geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und die Fallanschauung und Rechtsauffassung der Gerichte vermittelt werden (vgl. BVerfGE 8, 222 <227>; 9, 3 <7>; 72, 39 <43>; 140, 229 <232 f. Rn. 10>).

Der Grundsatz der materiellen Subsidiarität verpflichtet einen Beschwerdeführer zwar nicht, fachgerichtlichen Rechtsschutz zu suchen, wenn dieser offensichtlich aussichtslos wäre (vgl. BVerfGE 16, 1 <2 f.>; 55, 154 <157>; 102, 197 <208>; 150, 309 <327 f. Rn. 45>). Er greift aber ein, wenn eine anderweitige Möglichkeit besteht, den geltend gemachten Grundrechtsverstoß zu beseitigen. Beruht ein Eingriffsakt auf einer grundrechtsverletzenden Regelung, die Ausnahmen vorsieht, muss der Beschwerdeführer deshalb vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde versuchen, die Beseitigung des Eingriffsakts unter Berufung auf die Ausnahmeregelung zu erwirken (vgl. BVerfGE 78, 58 <69>).

2. Diese Grundsätze hat der Beschwerdeführer nicht beachtet. Im Ansatz zutreffend erkennt er, dass ihm ein Rechtsbehelf gegen die sitzungspolizeiliche Verfügung eines Senatsvorsitzenden beim Oberlandesgericht nicht zusteht (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Oktober 2015 – StB 10/15, StB 11/15 -, juris, Rn. 3 ff.; vgl. auch BVerfGE 91, 125 <133>; 103, 44 <58>; 119, 309 <317>; offenlassend BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 8. Juli 2016 – 1 BvR 1534/16 -, Rn. 2; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 6. September 2016 – 1 BvR 2001/16 -, Rn. 2). Er übersieht allerdings, dass ein Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde gehalten ist, dem geltend gemachten Grundrechtsverstoß entgegenzuwirken, indem er unter Berufung auf Ausnahmeregelungen beantragt, eine ihm eine durch eine abstrakte Regelung präventiv untersagte Handlung in dem ihn betreffenden Einzelfall zu erlauben.

Ein solcher Antrag erwiese sich hier nicht von vornherein als offensichtlich aussichtslos, denn das Verbot, in der Verhandlung mitzuschreiben, gilt nach der angegriffenen sitzungspolizeilichen Verfügung nicht ausnahmslos. Das Oberlandesgericht behält sich vor, nach entsprechender Prüfung eines begründeten Antrags Ausnahmen vom Mitschreibeverbot zuzulassen. Zwar ist in der angegriffenen Verfügung ausdrücklich nur vorgesehen, Zuschauern das Mitschreiben bei dargelegtem wissenschaftlichen Interesse zu gestatten. Der Strafsenat ist aber gehalten, jedes grundrechtsrelevante Vorbringen zu erwägen und zu bescheiden, denn er hat die Aufgabe, zunächst als Fachgericht die für eine tragfähige verfassungsrechtliche Prüfung erforderliche Tatsachenbasis zu ermitteln und die Grundrechte des Beschwerdeführers zu wahren und durchzusetzen (vgl. BVerfGE 107, 395 <414>).“

Na ja. M.E. ein wenig blauäugig vom BVerfG. Denn das Ergebnis eines Antrages an den Senatsvorsitzenden kann man m.E. voraussagen: Kein Erfolg.

Im Übrigen: Die Sinnhaftigkeit der Verfügung erschließt sich mir nicht, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Daher hat der Vorsitzende sie dann lieber auch gar nicht erst begründet. 🙂

BVerfG I: Warum braucht man dafür das BVerfG?, oder: Anhörungpflicht vor nachteiliger Kostenentscheidung

In die neue Woche starte ich dann mit zwei Entscheidungen von ganz oben, also vom BVerfG.

Und den Opener macht der BVerfG, Beschl. v. 03.02.2022 – 2 BvR 1910/21 – zur Anhörungspflicht vor einer nachteiligen Kostenentscheidung. In dem entschiedenen Fall hatte ein LG hat dem Beschuldigten im Rahmen einer Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO ohne vorherige Anhörung seine notwendigen Auslagen auferlegt. Dagegen hat der Beschuldigte sofortige Beschwerde eingelegt, die das OLG als unzulässig verworfen hat. Die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde hat das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen.

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde als unzulässig angesehen. Sie sei nicht innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG eingelegt worden. Das begründet es damit, dass die vom OLG als unzulässig verworfene sofortige Beschwerde offensichtlich aussichtslos sei gewesen und deswegen nicht zum Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG gehört habe. Darüber hinaus sah das BVerfG nicht die Begründungsanforderungen für eine Verfassungsbeschwerde als erfüllt an.

Aber:

„2. Jedoch bestehen – ungeachtet der in der Verfassungsbeschwerde fehlenden ausdrücklichen oder konkludenten Rüge eines Gehörsverstoßes gemäß Art. 103 Abs. 1 GG – verfassungsrechtliche Bedenken gegen die nicht angegriffene Anhörungsrügeentscheidung des Landgerichts München I vom 6. Juli 2021 – 16 Ns 113 Js 238036/15 (2) -. Das Landgericht hat mit Beschluss vom 1. Juni 2021 dem Beschwerdeführer ohne vorherige Anhörung im Rahmen der Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO seine notwendigen Auslagen auferlegt. Es erscheint im Hinblick auf die den Beschwerdeführer belastende Auslagenentscheidung verfassungsrechtlich bedenklich, die hiergegen gerichtete Anhörungsrüge des Beschwerdeführers, mit der er insbesondere die Nichtberücksichtigung seines äußerst zeitnah an das Landgericht übersandten Schriftsatzes vom 2. Juni 2021 rügte, allein deswegen zu verwerfen, weil dem Beschwerdeführer bei nicht zustimmungsbedürftigen Einstellungen außerhalb der Hauptverhandlung gemäß § 33 Abs. 1 StPO kein Anspruch auf rechtliches Gehör zustehe.

Diese Begründung legt nahe, dass das Landgericht den Umfang des Gehörsanspruchs aus Art. 103 Abs. 1 GG verkannt hat. Die Vorschriften der §§ 33, 33a StPO beschränken die gebotene Anhörung nicht auf Tatsachen und Beweisergebnisse, sondern erfassen über den Wortlaut der Bestimmungen hinaus jeden Aspekt rechtlichen Gehörs. Dazu gehört im Grundsatz die Gelegenheit, sich vor einer belastenden Entscheidung zur Rechtslage zu äußern (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Oktober 2015 – 2 BvR 2436/14 -, Rn. 16; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 18. September 2018 – 2 BvR 745/18 -, Rn. 57 m.w.N.). Vor einer Auslagenentscheidung ist der Betroffene zu hören, wenn er durch das Auferlegen der eigenen Auslagen oder der Auslagen des Nebenklägers beschwert wird (vgl. VerfG des Landes Brandenburg, Beschluss vom 22. März 2019 – 1/18 -, juris, Rn. 12 m.w.N.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 29. März 2004 – 4 Ws 65/04 -, juris, Rn. 8; OLG Oldenburg, Beschluss vom 2. Juli 2010 – 1 Ws 296/10 -, juris, Rn. 4; OLG Dresden, Beschluss vom 22. Oktober 2014 – 2 Ws 457/14 u.a. -, juris, Rn. 10).“

Manchmal ist es gut, wenn das BVerfG in seinen Entscheidungen Selbstverständlichkeiten noch einmal hervorhebt. So wie hier. Obwohl es an sich nicht nötig sein sollte

Sonntagswitz, heute zur Zeitumstellung: Witze zur Sommer-/Winterzeit, so lange es noch geht

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Und dann der Sonntagswitz. Heute standen zwei Themen zur Auswahl: Ostfriesenwitze, weil ich auf Borkum bin, oder „Sommerzeit/Winterzeit“ bzw. „Zeit“, weil heute Nacht die Uhren umgestellt worden sind. Ich habe mich für die „Zeitenwende“ bzw. die „Zeit“ entschlossen. Borkum ist öfter 🙂 .

Und da sind dann – alles Klassiker:

“Mist, diese Sommerzeit!”

“Aber warum denn?”

“Dieses blöde Uhren verstellen, ich musste 300 EUR Strafe zahlen.”

“Hä? Wieso Strafe?”

“Na ja, hatte die Gas- und Wasseruhr auch zurückgestellt!”


„Wenn Sie noch eine Zeit lang leben wollen, müssen Sie aufhören zu rauchen!“

„Dazu ist es jetzt zu spät.“

„Zum Aufhören ist es nie zu spät!“

„Na, dann hat’s ja noch Zeit …“


„Ich schlafe sehr schlecht ein.“

„Kenne ich. Ich zähle dann immer bis drei.“

„Ach, und das hilft?“

„Na ja, manchmal zähle ich auch bis halb vier …“


In der Deutschstunde werden Zeitformen wiederholt. “

“Du wirst schwimmen, er wird schwimmen, sie wird schwimmen – welche Zeit ist das?”

“Klarer Fall”, antwortet ein Schüler, “Sommerzeit”.

Wochenspiegel für die 12 KW., das war Ukraine, Corona, „menschlicher Abschaum“, Abnehmen, beA im OWiG

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Und dann hier der Wochenspiegel für die 12. KW., der erste unter Sommerzeit 2022 🙂 .

Es gibt dann folgende Hinweise:

  1. UPDATE: Einreise, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit von Geflüchteten aus der Ukraine in Deutschland

  2. Schlechte Karten für Eventim vor dem EuGH?

  3. EuGH: Auch bei Cloud-Speicherung kann Privatkopie vorliegen,

  4. Facebook-Nutzer dürfen in bestimmten Fällen Pseudonyme verwenden,

  5. BayObLG: Bezeichnung eines Richters als „menschlicher Abschaum“ nicht von Meinungsfreiheit gedeckt und als Beleidigung strafbar,
  6. Zugang einer E-Mail – wie beweisen?,

  7. Was ist der richtige Weg zum Abnehmen?

  8. Kündigung wegen heimlicher Tonaufnahme nicht immer zulässig,

  9. Datenübertragbarkeit: Das Betroffenenrecht in der Praxis,

  10. aus meinem Blog dann: Einspruchseinlegung im OWi-Verfahren nur durch beA?, oder: Nein, sagt das AG Hameln.

Kollision bei Vorbeifahrt an parkendem Fahrzeug, oder: Sorgfaltspflicht beim Ein-/Aussteigen

entnommen wikimedia.org
Urheber Opihuck

Und dann als zweite Entscheidung mal wieder etwas zu einem Verkehrsunfall, und zwar zu einer Kollision während der Vorbeifahrt an einem parkendem Fahrzeug. Dazu verhält sich das LG Saarbrücken, Urt. v. 11.02.2022 – 13 S 135/21.

Die Klägerin befuhr mit ihrem Fahrzeug eine Einbahnstraße, die als verkehrsberuhigter Bereich i.S.v. § 42 StVO (Zeichen 325.1 u. 2.) ausgewiesen war. Linksseitig parkten Fahrzeuge, rechtsseitig stand das bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherte Taxi. Der Erstbeklagte wollte aus dem Taxi aussteigen und öffnete hierzu die hintere linke Tür. In der Folge kam es zur Kollision mit dem Klägerfahrzeug.

Das AG hat der Klage statt gegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei davon auszugehen, dass der Unfall alleine von den Beklagten verschuldet sei. Die Beklagten hätten den gegen sie streitenden Anscheinsbeweis für einen Verstoß gegen § 14 Abs. 1 StVO nicht zu erschüttern bzw. widerlegen vermocht. Demgegenüber sei ein unfallursächlicher Sorgfaltsverstoß der Klägerin nicht bewiesen. Die Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs trete hinter den Sorgfaltsverstoß auf Beklagtenseite zurück. Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten mit dem Ziel der Klageabweisung. Die Berufung hatte teilweise Erfolg:

„Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie hat in der Sache teilweise Erfolg.

1. Zutreffend und von der Berufung unbeanstandet hat das Erstgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt, dass sowohl die Klägerseite als auch die Zweitbeklagte grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. §§ 7, 17, 18 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) einzustehen haben, da die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und sich für keinen der beteiligten Fahrer als unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellt.

2. Im Verhältnis der Fahrzeughalter untereinander hängt die Ersatzverpflichtung damit davon ab, inwieweit der Schaden von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist (§ 17 Abs. 1, 2 StVG). Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, d.h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. Dabei ist in erster Linie das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben (vgl. BGH, Urteil vom 26. Januar 2016 – VI ZR 179/15, NJW 2016, 1100 mwN).

3. Entgegen der Berufung hat das Erstgericht auf Beklagtenseite mit Recht einen unfallursächlichen Verstoß berücksichtigt. Dieser ergibt sich hier aber nicht aus § 14 Abs. 1 StVO unmittelbar, sondern aus § 1 Abs. 2 StVO i.V.m. dem Rechtsgedanken des § 14 Abs. 1 StVO.

a) Der Unfall hat sich hier in einem verkehrsberuhigten Bereich im Sinne von § 42 StVO (Zeichen 325.1 u. 2) ereignet. Nach der Rechtsprechung der Kammer kommt hier wie auf Parkplätzen § 1 Abs. 2 StVO zur Anwendung (vgl. Kammer, Urteil vom 15. Juli 2016 – 13 S 20/16; Lafontaine in: Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR, § 42 StVO Rdn. 71).

b) Den Aussteigenden trifft aber auch im Rahmen des allgemeinen Rücksichtnahmegebots nach § 1 Abs. 2 StVO die Pflicht, sich vor dem Türöffnen zu vergewissern, dass kein anderer Verkehrsteilnehmer durch das Türöffnen geschädigt wird. Dabei können die strengen Sorgfaltsmaßstäbe, die im fließenden Verkehr gelten, jedenfalls sinngemäß herangezogen werden, sofern sich – wie hier – in einem bestimmten Verkehrsverhalten die besondere Gefährlichkeit gegenüber den übrigen Verkehrsteilnehmern niederschlagen kann. Daher hatte der Erstbeklagte beim Türöffnen hier für die gesamte Dauer des Aussteigevorgangs, der erst mit dem Schließen der Fahrzeugtüre und dem Verlassen der Fahrbahn beendet ist (vgl. BGH, Urteil vom 06. Oktober 2009 – VI ZR 316/08, NJW 2009, 3791), besondere Vorsicht und Achtsamkeit walten zu lassen.

c) Ob wie bei § 14 Abs. 1 StVO ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Türöffnenden eingreift, kann hier offenbleiben. Denn nach den bindenden (§ 529 Abs. 1 ZPO) Feststellungen des Erstgerichts hat der Erstbeklagte zum einen die Tür beim Öffnungsvorgang nicht nur geringfügig, sondern jedenfalls 70-80 cm weit in den durch die Parkposition des Taxis ohnehin verengten Fahrraum geöffnet, wobei nach den Ausführungen des Gerichtssachverständigen das Spurenbild zudem auf einen (weiteren) Öffnungsvorgang während der Vorbeifahrt des Klägerfahrzeugs schließen lässt. Ferner hat der Erstbeklagte selbst angegeben, beim Aussteigen den Blick zu dem rechts neben ihm sitzenden Patienten gerichtet zu haben, anstatt den rückwärtigen Verkehrsraum genau zu beobachten.

d) Der Erstbeklagte hat damit die an ihn gerichteten Sorgfaltsanforderungen schuldhaft verletzt. Er selbst haftet daher aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 1 Abs. 2 StVO, dem grundsätzlich Schutznormcharakter zukommt (vgl. BGH, Urteil vom 09. Dezember 2014 – VI ZR 155/14, NJW 2015, 1174). Auch die Zweitbeklagte haftet für den durch den Erstbeklagten beim Türöffnen verursachten Schaden (vgl. die Nachweise im Urteil der Kammer vom 20. November 2015 – 13 S 117/15, NJW-RR 2016, 356).

4. Ohne Erfolg machen die Beklagten geltend, auch auf Klägerseite sei ein unfallursächlicher Sorgfaltsverstoß zu berücksichtigen.

a) Derjenige, der an einem stehenden Fahrzeug vorbeifährt, muss nach dem allgemeinen Gebot der Gefährdungsvermeidung (§ 1 Abs. 2 StVO) einen angemessenen Seitenabstand einhalten. Dieser kann nach den maßgeblichen Umständen des Einzelfalls durchaus geringer sein als der beim Überholen und bei der Begegnung regelmäßig verlangte Mindestabstand von 1 m (vgl. etwa OLG Köln, Beschluss vom 10. Juli 2014 – I-19 U 57/14 –, juris). Er muss aber jedenfalls so bemessen sein, dass ein geringfügiges Öffnen der Wagentür noch möglich bleibt, wenn für den Vorbeifahrenden nicht mit Sicherheit erkennbar ist, dass sich im haltenden Fahrzeug und um das Fahrzeug herum keine Personen aufhalten (vgl. BGH, Urteil vom 24. Februar 1981 – VI ZR 297/79, VersR 1981, 533; OLG Frankfurt NZV 2014, 454). Die Klägerin hat diesen Sorgfaltsanforderungen hier genügt. Nach den Feststellungen des Gerichtssachverständigen ist sie mit einem Abstand von 70-80 cm an dem Beklagtenfahrzeug vorbeigefahren. Da die Beklagten einen Sorgfaltsverstoß der Klägerin nachzuweisen haben (vgl. OLG Celle, RuS 2019, 286), ist damit ein geringerer Abstand als 80 cm nicht bewiesen. Dieser war hier ausreichend. Konkrete Umstände, die hier einen noch größeren Seitenabstand geboten hätten, sind nicht ersichtlich. Hierfür genügt insbesondere nicht bereits, dass es sich bei dem Beklagtenfahrzeug um ein Taxi handelt und mit dem Aussteigen von Fahrgästen gerechnet werden musste. Denn der Abstand von 80 cm war grundsätzlich ausreichend, um Fahrgästen ein gefahrloses geringes Türöffnen zu ermöglichen.

b) Mit Recht hat das Erstgericht auch keinen sonstigen Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO berücksichtigt. Zwar ist die Geschwindigkeit an der Unfallörtlichkeit auf 7 km/h begrenzt (Zeichen 274.1) und die Klägerin nach den Feststellungen des Gerichtssachverständigen jedenfalls mit 20 km/h und damit mit einer deutlich überhöhten Geschwindigkeit gefahren. Ein Geschwindigkeitsverstoß darf bei der Haftungsabwägung aber nur Berücksichtigung finden, wenn er sich unfallursächlich ausgewirkt hat (vgl. OLG Saarbrücken, Urteil vom 28. April 2016 – 4 U 106/15 –, juris). Dies bleibt hier aber nach dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens – wie auch die Berufung einräumt – gerade offen. Auch ein etwaiger Anscheinsbeweis (vgl. LG Potsdam, Urteil vom 28. August 2012 – 3 O 250/10 –, juris) ist hier erschüttert, da nach den Ausführungen des Gerichtssachverständigen die ernsthafte Möglichkeit verbleibt, dass die Kollision durch eine (weitere) Türöffnung während der Vorbeifahrt verursacht wurde.

5. Da sich die Sorgfaltspflichten der Unfallbeteiligten hier jeweils nach § 1 Abs. 2 StVO richten und damit einander angenähert sind, und zudem die erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung in einem verkehrsberuhigten Bereich die Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs objektiv erhöht hat, erscheint es aber angemessen, diese hier nicht vollständig zurücktreten zu lassen, sondern mit 25% in die Haftungsabwägung einzustellen.“