Archiv für den Monat: Mai 2021

Pflichti I: „Unverzüglich“ bedeutet: „eine Woche“, oder: Rückwirkende Bestellung

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Heute dann ein Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen.

Ich starte mit dem m.E. sehr schön begründeten LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 04.05.2021 – 12 Qs 22/21 –, der sich noch einmal mit den Fragen der nachträglichen Beiordnung befasst. Der Beschuldigte hatte sich in anderer Sache in Haft befunden, so dass ein Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorlag. Über den Beiordnungsantrag des Beschuldigten war aber nicht entschieden und nach Aufhebung des Haftbefehls wurde die Beiordnung dann abgelehnt. Dazu das LG, dessen Entscheidung man auch zusammenfassen könnte mit: „So nicht.“:

„2. Die sofortige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Dem Angeklagten war Rechtsanwalt P. als Pflichtverteidiger beizuordnen.

a) Die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO liegen vor. Nach dieser Vorschrift ist der Fall einer notwendigen Verteidigung gegeben, wenn sich der Angeklagte aufgrund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet, was auch die Straf- und Untersuchungshaft umfasst (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. § 140 Rn. 16). Unerheblich ist dabei, ob die Pflichtverteidigerbestellung für die Sache, in der die Freiheitsentziehung vollzogen wird, oder für ein anderes gleichzeitig geführtes Strafverfahren erfolgen soll. Denn die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten sind durch den Vollzug der Freiheitsentziehung in beiden Fällen gleichermaßen eingeschränkt. (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. August 1999 – 1 Ws 411/99, juris Rn. 11; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 29. Mai 2012 – 5 Qs 53/12, juris Rn. 3).

Soweit aufgrund systematischer Erwägungen zu früherer Rechtslage im Hinblick auf das Verhältnis von § 140 Abs. 1 Nr. 4 und 5 StPO a.F. vertreten wurde, § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO a.F. erfasse nicht den Fall einer in anderer Sache vollzogenen Freiheitsentziehung (dazu etwa LG Dresden, Beschluss vom 23. Mai 2018 – 14 Qs 16/18; LG Osnabrück, Beschluss vom 6. Juni 2016 – 18 Qs 526 Js 9422/16 (17/16), beide in juris), ist diese Auffassung durch die Änderung des § 140 StPO aufgrund des Gesetzes zur Regelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. 2019 Teil I, 2128) überholt.

Vom weggefallenen systematischen Argument abgesehen ist eine andere Bewertung mit dem Gesetzeswortlaut des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO auch nicht zu vereinbaren. Diese Vorschrift enthält keine Einschränkung im Hinblick auf Anlass oder Ort der Anstaltsunterbringung. Auch nach Art. 4 Abs. 4 Buchstabe b der Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26. Oktober 2016 (ABl. L 297/1 vom 4. November 2016, fortan: PKH-Richtlinie), deren Umsetzung § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO n.F. dient (BT-Drs. 19/13829, 34), ist es für die Gewährung von Prozesskostenhilfe in jedem Fall ausreichend, dass sich der Angeklagte in Haft befindet, ohne dass diese Voraussetzung nach Ort oder Anlass des Vollzugs der Freiheitsentziehung näher eingegrenzt würde (vgl. auch BT-Drs. 19/13829, 37).

Damit war es für die Pflichtverteidigerbestellung grundsätzlich ausreichend, dass sich der Angeklagte im Zeitpunkt der Antragstellung am 19. Februar 2021 in Untersuchungshaft in anderer Sache befand.

b) Für die Bestellung ist im gegebenen Fall unschädlich, dass der Grund der notwendigen Verteidigung im Zeitpunkt der amtsrichterlichen Entscheidung über den Antrag am 6. April 2021 bereits entfallen war.

aa) Zur früheren Rechtslage war weitgehend anerkannt, dass eine Pflichtverteidigerbestellung nur für die Zukunft möglich ist, da die Beiordnung dem Zweck einer zukünftigen ordnungsgemäßen Verteidigung und nicht dem Kosteninteresse des Angeklagten oder einem Vergütungsanspruch des Verteidigers gegen die Staatskasse dient (Nachweise bei Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. § 140 Rn. 19).

bb) Nach Auffassung der Kammer gilt das nicht mehr uneingeschränkt für die neue Rechtslage. Vorliegend hatte die Beiordnung nachträglich zu erfolgen. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des OLG Nürnberg (Beschluss vom 6. November 2020 – Ws 120/20, juris; ähnlich LG Hamburg, Beschluss vom 26. März 2021 – 604 Qs 6/21, BeckRS 2021, 6859 Rn 9; LG Bochum, Beschluss vom 18. September 2020 – II-10 Qs 6/20, juris Rn. 42 m.w.N.) geht die Kammer davon aus, dass im Lichte der PKH-Richtlinie eine nachträgliche Verteidigerbestellung nicht versagt werden kann, wenn die Entscheidung hierüber verzögert getroffen wurde.

(1) Befindet sich der Beschuldigte – wie hier – in einer Anstaltsunterbringung, wird ihm, wenn er noch keinen Verteidiger hat, ein Pflichtverteidiger bestellt, sobald diese Unterbringung bekannt wird (§ 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO; ein Ausnahmefall gem. Abs. 2 Satz 3 der Vorschrift lag hier nicht vor). Dem Fall, dass der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat, steht dabei gleich, dass der gewählte Verteidiger – wie hier – bereits mit dem Antrag ankündigt, das Wahlmandat mit der Bestellung niederzulegen (vgl. BT-Drs. 19/13829, 36).

Die sachbearbeitende Staatsanwältin erhielt Kenntnis vom aktuellen Freiheitsentzug des Angeklagten spätestens am 10. Februar 2021, als sie die von der polizeilichen Ermittlung zurückgelaufene Akte, in der die Untersuchungshaft des Angeklagten in der Haftsache deutlich vermerkt war, zur Akteneinsicht an Rechtsanwalt P. verfügte. Am 22. Februar 2021 ging sodann der Beiordnungsantrag des Rechtsanwalts bei der Staatsanwaltschaft ein. Damit hatte die Staatsanwaltschaft gem. § 142 Abs. 2 i.V.m. § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO ihrerseits den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung „unverzüglich“ zu stellen, wenn sie nicht nach § 142 Abs. 2 StPO vorgehen wollte. Nach letztgenannter Bestimmung kann die Staatsanwaltschaft in Eilfällen selbst über die Bestellung entscheiden, was sie sich dann binnen Wochenfrist vom Gericht bestätigen lassen muss.

Die Strafprozessordnung definiert den Begriff der Unverzüglichkeit nicht. Ausweislich der Gesetzesmaterialien bedeutet unverzüglich zwar nicht sofort, die Bestellung muss aber so rechtzeitig erfolgen, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden (BT-Drs. 19/13829, 37). Diese Begriffsbestimmung nähert sich damit dem allgemeinen juristischen Verständnis der Unverzüglichkeit als „ohne schuldhaftes Zögern“ (vgl. § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB; ähnlich LG Bochum, Beschluss vom 18. September 2020 – II-10 Qs 6/20, juris Rn. 30). Diese Auslegung steht im Einklang mit der vorrangigen und europarechtlich autonom auszulegenden PKH-Richtlinie. Nach deren Art. 6 Abs. 1 Satz 1 sind die Entscheidungen über die Bestellung von Rechtsbeiständen unverzüglich zu treffen. Dem im obigen Sinn verstandenen „unverzüglich“ der deutschen Sprachfassung der Richtlinie entsprechen gleichsinnig in der englischen Fassung „without undue delay“, in der französischen „sans retard indu“, in der italienischen „senza indebito ritardo“ oder in der polnischen „bez zb?dnej zw?oki“.

(2) Der – hier nicht aktivierten – Bestimmung des § 142 Abs. 4 Satz 2 StPO kann die konkretisierende Wertung entnommen werden, dass Unverzüglichkeit bei Wahrung der Wochenfrist noch bejaht werden kann; darüber hinaus jedoch nicht mehr (so schon zum alten Recht Lüderssen/Jahn in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 141 Rn. 19). Die Kammer hält diese Wertung jedenfalls auf den hier gegebenen Fall einer auf § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO beruhenden notwendigen Verteidigung regelmäßig für anwendbar. Zumindest bei einem im Inland vollzogenen und aktenkundigen Freiheitsentzug ist eine darüber hinaus gehende längere Prüfungsfrist des Beiordnungsgrundes sachlich nicht erforderlich.

(3) Die Wochenfrist – zwischen Eingang des Beiordnungsantrags des Verteidigers und der Abschlussverfügung, die den Beiordnungsantrag der Staatsanwaltschaft an das Gericht enthielt – wurde hier durch die Staatsanwaltschaft um mehr als das Doppelte überschritten, ohne dass aus der Akte nachvollziehbare Gründe hierfür erkennbar würden. Damit liegt eine nicht gerechtfertigte Verzögerung vor.

(4) Folge des Verstoßes gegen das Unverzüglichkeitsgebot ist hier, dass die Pflichtverteidigerbestellung rückwirkend zu erfolgen hat. Das ist notwendig, um ein Unterlaufen des Zwecks der PKH-Richtlinie zur effektiven Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten durch eine Verzögerung oder Untätigkeit auf Justizseite zu verhindern (OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 – Ws 120/20, juris Rn. 26; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. § 142 Rn. 20; vgl. auch den 1. Erwägungsgrund der PKH-Richtlinie). Nur ein solches Verständnis stellt die praktische Wirksamkeit („effet utile“, dazu etwa Mayer in Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV, 71. EL August 2020, Art. 19 Rn. 57 f.; Nachweise zur Rechtsprechung des EuGH bei Potacs, EuR 2009, 465, 467 f.) der unionsrechtlichen Mindeststandards der PKH-Richtlinie (vgl. dazu deren 16. und 30. Erwägungsgrund) sicher.

(5) Die Kammer sieht sich mit vorliegender Entscheidung in Übereinstimmung mit den Erwägungen des OLG Nürnberg in dessen zitiertem Beschluss vom 6. November 2020. Sofern im dortigen Leitsatz die Pflichtverteidigerbestellung an eine „wesentliche“ Verzögerung anknüpft, versteht die Kammer das nicht als eine zusätzliche Voraussetzung für die Beiordnung – dafür geben die dortigen Beschlussgründe nichts her –, sondern als Bezugnahme auf den konkret vom Strafsenat entschiedenen Sachverhalt, in dem die eingetretene Verzögerung evident wesentlich war.“

Und dann für die Sammlung aus dem inzwischen unüberschaubaren Reservoir der Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung:

Für mich nicht nachvollziehbar und klar gegen Sinn und Zweck der Neuregelung.

Zustellung III: Öffentliche Zustellung, oder: Anordnung durch Beschluss, nicht nur durch Verfügung

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Die dritte Entscheidung, der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.02.2021 – III-2 RVs 5/21 – befasst sich mit Fragen in Zusammenhang mit der öffentlichen Zustellung.

Der Angeklagte ist vom AG verurteilt worden. Die gegen das Urteil gerichtete Berufung des Angeklagten hat das Landgericht nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen, nachdem er in der Berufungshauptverhandlung ohne Entschuldigung ausgeblieben war.  Dagegen der Antrag des Angeklagaten, ihm wegen der Versäumung der Berufungshauptverhandlung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und die Revision mit dem Antrag wegen Versäumung der einmonatigen Begründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Wiedereinsetzung wegen der Versäumung der Begründungsfrist gibt es, die beiden anderen Anträge bleiben ohne Erfolg. Hier nur die Ausführungen des OLG zur öffentlichen Zustellung:

„2. Die mangelnde Antragsbegründung ist allerdings unschädlich, wenn sich ein Wiedereinsetzungsgrund aus aktenkundigen Tatsachen ergibt. Denn aktenkundige Tatsachen brauchen nicht vorgetragen zu werden (vgl. BVerfG NJW 1995, 2544; OLG Köln NStZ-RR 2002, 142, 143; MüKo-Valerius a.a.O. § 45 Rdn. 5). Der Wille des Angeklagten zur Fortführung des Verfahrens kommt bereits durch den Wiedereinsetzungsantrag, der (hier verspätet) mit anderen Erwägungen begründet wurde, eindeutig zum Ausdruck.

In der Rechtsprechung ist weitgehend anerkannt, dass in entsprechender Anwendung der §§ 329 Abs. 7 Satz 1, 44, 45 StPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch demjenigen gewährt werden kann, der nicht wirksam zum Termin der Berufungshauptverhandlung geladen wurde und deshalb zu Unrecht als säumig behandelt worden ist (vgl. OLG Hamm NStZ 1982, 521; OLG Hamburg NStZ-RR 2001, 302; OLG Köln NStZ-RR 2002, 142; OLG Brandenburg BeckRS 2011, 8101; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 329 Rdn. 41 m.w.N.).

Vorliegend ist zwar anhand der Akten ein Ladungsmangel festzustellen (dazu II.2.a). Dieser Ladungsmangel war jedoch nicht kausal für das Nichterscheinen des Angeklagten (dazu II.2.b), so dass eine Wiedereinsetzung auch unter diesem Gesichtspunkt ausscheidet.

a) Eine ladungsfähige Anschrift des Angeklagten, der nach dem erstinstanzlichen Urteil in die Türkei zurückgekehrt ist, war in dem Berufungsverfahren nicht bekannt. Das Landgericht hat daher die öffentliche Zustellung der Ladung angeordnet (§ 40 Abs. 1 StPO).

Dies ist lediglich in der Weise geschehen, dass die Vorsitzende der Strafkammer in der Ladungsverfügung betreffend den Angeklagten den Zusatz „gegen öffentliche Zustellung“ vermerkt hat. Die Anordnung der öffentlichen Zustellung erfordert indes gemäß § 37 Abs. 1 StPO, § 186 Abs. 1 Satz 1 ZPO einen Gerichtsbeschluss, der – jedenfalls kurz – zu begründen ist. Eine Verfügung des Vorsitzenden genügt nicht und macht die Zustellung unwirksam (vgl. OLG Hamm JMBl NRW 1958, 262; KMR-Ziegler, StPO, 102. Lfg. 2020, § 40 Rdn. 19; KK-Maul a.a.O. § 40 Rdn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 40 Rdn. 6).

b) Ein Ladungsmangel als solcher rechtfertigt jedoch noch nicht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungshauptverhandlung. Erforderlich ist darüber hinaus, dass der Ladungsmangel kausal für das Nichterscheinen des Angeklagten war (vgl. OLG Köln NStZ-RR 2002, 142; OLG Hamm NStZ-RR 2008, 380; NStZ-RR 2009, 314; OLG Brandenburg BeckRS 2011, 8101; OLG Frankfurt BeckRS 2015, 7902; KG BeckRS 2017, 134409). Der Ladungsmangel muss verhindert haben, dass der erscheinungswillige Angeklagte an der Verhandlung teilnehmen konnte. Es besteht kein Anlass, einem Angeklagten, der ohnehin nicht erscheinen wollte oder sich aus anderen Gründen an der Teilnahme gehindert sah, wegen eines Ladungsmangels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

An der erforderlichen Kausalität fehlt es hier. Der Verteidiger hat zu Beginn der Berufungshauptverhandlung erklärt, dass ihm der Angeklagte mitgeteilt habe, dass er sich noch in der Türkei befinde und heute nicht erscheinen werde. Diese Erklärung des Verteidigers impliziert, dass der Angeklagte – offenbar durch telefonischen Kontakt mit dem Verteidiger – sogar Kenntnis von dem Termin hatte. Der dem Angeklagten nicht bekannte Umstand, dass die öffentliche Zustellung statt durch einen Gerichtsbeschluss lediglich im Rahmen der Ladungsverfügung angeordnet wurde, war jedenfalls nicht ursächlich für sein Nichterscheinen.

Soweit das OLG Köln in einer jüngeren Entscheidung (NStZ-RR 2015, 317) bei einer wirksamen öffentlichen Zustellung nicht tragend als obiter dictum bemerkt hat, dass das Kausalitätserfordernis nicht für den Fall der öffentlichen Zustellung gelte, da ansonsten Ladungsmängel bei dieser Zustellungsform nahezu stets folgenlos blieben, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Denn das Instrument der Wiedereinsetzung dient nicht einer umfassenden Rechtskontrolle.

Um einen für das Nichterscheinen nicht kausalen Ladungsmangel erfolgreich beanstanden zu können, steht dem Angeklagten das Rechtsmittel der Revision zur Verfügung. Auf eine entsprechende Verfahrensrüge bleibt auch ein solcher Ladungsmangel nicht folgenlos, da ein Verwerfungsurteil, das nur bei ordnungsgemäßer Ladung hätte ergehen dürfen, bei einem Ladungsmangel der Aufhebung unterliegt, ohne dass es auf die Kausalität für das Nichterscheinen des Angeklagten ankommt.“

Im Übrigen: Verteidiger scheint ein „Künstler“ gewesen zu sein. 🙂

Zustellung II: Gemeinschaftseinrichtung, oder: Wohnen ohne Übernachten?

Die zweite Entscheidung, der OLG Hamm, Beschl.  v. 13.04.2021 – 5 Ws 102/21 und 103/21 – behandelt ebenfalls den Begriff der Wohnung, und zwar in Zusammenhang mit der Zustellung in einer „Gemeinschaftseinrichtung“ (§ 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO). Die Frage: Kann ein Obdachloser in einer  Gemeinschaftseinrichtung auch dann „wohnen“, wenn diese keine Übernachtungsmöglichkeit anbietet. Das OLG Hamm hat die Frage- wie schon vor einiger Zeit das OLG Köln – bejaht:

„1. Entgegen der Auffassung des Verteidigers ist eine ordnungsgemäße Ersatzzustellung nach § 37 StPO i. V. m. § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO erfolgt. Diese hat zur Folge, dass die Entscheidung dem Empfänger wirksam zugestellt ist, auch wenn er davon persönlich keine Kenntnis erlangt. Für den Beginn der Rechtsmittelfrist ist allein der Tag der Ersatzzustellung maßgebend (Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, 63. Auflage 2020, § 37 Rn. 17).

Bei der von dem Verurteilten angegebenen Adresse handelt es sich um ein Postfach der Wohnungslosenhilfe der D in H. Der angefochtene Beschluss wurde ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 11. Februar 2021 einem zum Empfang berechtigten Vertreter der Gemeinschaftseinrichtung übergeben. Bei der Einrichtung der D handelt es sich um eine vom Gesetz gemeinte Gemeinschaftseinrichtung, wozu grundsätzlich auch Obdachlosenunterkünfte zählen (OLG Köln, Beschluss vom 12.6.2018 – 1 RVs 107/18, BeckRS 2018, 13378; MüKo-StPO/Valerius, § 37 Rn. 27- beck-online).

Einer wirksamen Ersatzzustellung steht nicht entgegen, dass sich der Verurteilte zu diesem Zeitpunkt bereits seit dem 02. Februar 2021 in der Therapieeinrichtung „Q“ in L aufgehalten hat. Eine wirksame Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO setzt nicht voraus, dass der Verurteilte bzw. der Adressat auch tatsächlich in der Gemeinschaftseinrichtung wohnt.

Der Begriff der Wohnung im Sinne des Zustellungsrechts ist geprägt durch das Interesse des Zustellungsveranlassers an zeitnaher Kenntnisnahme des Inhalts des zuzustellenden Schriftstücks durch den Zustellungsempfänger bei gleichzeitiger Wahrung der Belange des Adressaten. Diese gebieten es, im Ausgangspunkt auf die tatsächlichen Verhältnisse, d. h. dessen räumlichen Lebensmittelpunkt abzustellen. Nicht maßgebend ist daher der Wohnsitzbegriff des § 7 BGB. Für die Erfüllung des Begriffs „Wohnen“ ist es zwar typisch, nicht aber unabdingbar, dass der Zustellungsempfänger an der angegebenen Anschrift auch übernachtet (OLG Köln a. a. O.).

Sieht – wie hier – die Gemeinschaftseinrichtung eine Übernachtungsmöglichkeit nicht vor, kann der Zustellungsadressat dort gleichwohl seinen Lebensmittelpunkt im vorstehend gekennzeichneten Sinne haben.

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist hier zunächst von Bedeutung, dass die D unter der o. g. Adresse ausweislich der frei zugänglichen Internetseite die postalische Erreichbarkeit für Ämter und Behörden als eine ihrer Leistungen für Wohnungslose anbietet.

Ausweislich des Berichts des Bewährungshelfers vom 04. Dezember 2020 hat der wohnungslose Verurteilte in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Gelsenkirchen am 03. Dezember 2020 die Adresse „I-Straße ## in ##### H“ als seine postalische Erreichbarkeit ohne Einschränkung benannt, wobei er sich ausweislich der Feststellungen in dem Urteil des Amtsgerichts Gelsenkirchen zu diesem Zeitpunkt bei einem Bekannten in H aufgehalten hat. Zuvor war der wohnungslose Verurteilte monatelang weder für den Bewährungshelfer noch für das Gericht (postalisch) erreichbar und hielt sich zuletzt zur Entgiftung in der J-Stiftung in F auf. Der Verteidiger führt insoweit in seinem Schriftsatz vom 26. März 2021 aus, dass der Verurteilte die postalische Adresse mangels Wohnsitz bereits vor einiger Zeit eingerichtet hatte. Dem Bericht des Bewährungshelfers ist zudem zu entnehmen, dass der Verurteilte bereits die Kostenzusage für die Therapie in der „Q“ in L hatte, er also davon ausgehen konnte, sich demnächst für mehrere Wochen dort aufzuhalten. Trotz häufig wechselnder Aufenthaltsorte hat der Verurteilte danach stets diese Adresse behalten. Infolgedessen ist auch nicht ersichtlich, dass er mit dem Antritt der Therapie am 02. Februar 2021 seinen im obigen Sinne gekennzeichneten Lebensmittelpunkt nicht mehr unter der o.g. angegebenen Anschrift hatte bzw. haben wollte, denn dann wäre mit einer Auflösung der Postanschrift zu rechnen gewesen. Eine anderslautende Mitteilung hinsichtlich seiner postalischen Erreichbarkeit ist nicht erfolgt. Zudem hatte der Verurteilte diese Adresse offensichtlich gerade deshalb eingerichtet, um trotz seiner Wohnungslosigkeit postalisch erreichbar zu sein.“

Zustellung I: Verjährungsunterbrechung?, oder: Wo man gemeldet ist, muss man nicht „wohnen“

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Nach dem gestrigen „Corona-Tag“ heute dann wieder das „normale Programm“. Ich stelle heute hier drei Entscheidungen zu Zustellungsfragen vor.

Ich beginne mit dem AG Landstuhl, Beschl. v. 05.05.2021 – 2 OWi 4211 Js 90/21. Ergangen ist der Beschluss im Bußgeldverfahren, in dem um die Unterbrechung der Verjährung durch Zustellung des Bußgeldbescheides gestritten worden ist.  Das AG hat eine wirksame Unterbrechnung abgelehnt und das Verfahren gegen den Betroffenen nach § 206a StPO eingestellt. Dabei geht es (noch einma) um den Begriff der Wohnung:

„Es besteht ein Verfahrenshindernis hinsichtlich des Betroffenen, § 206a StPO. Es ist Verfolgungsverjährung eingetreten. Denn der Erlass des Bußgeldbescheides vom 27.10.2020, der bis heute nicht ordnungsgemäß zugestellt worden ist, hat die durch die Anhörungsverfügung (20.8.2020) ausgelöste Unterbrechung der Verjährungsfrist von drei Monaten nicht erneut unterbrechen können. Zwar bedarf es für den Bußgeldbescheid an sich der Zustellung nicht. Nur diese kann jedoch die Einspruchsfrist auslösen bzw. die Verjährung unterbrechen (BeckOK OWiG/Sackreuther OWiG § 65 Rn. 11). Die Zustellung des Bußgeldbescheids erfolgte hier an die Meldeadresse des Betroffenen. Diese Meldeadresse kann jedoch nicht als Wohnung im Sinne der §§ 46 OWiG, 37 StPO fungieren.

Ob eine Wohnung am Übergabeort existiert, richtet sich nicht danach, ob jemand unter einer bestimmten Adresse polizeilich gemeldet ist (VG Mainz BeckRS 2011, 47522; dies ist ggf. nur ein Indiz), sondern entscheidend ist, ob der Zustellungsempfänger tatsächlich an der angegebenen Anschrift wohnt und dort schläft, d.h. eine Wohnung des Adressaten an dem Ort, an dem zugestellt werden soll, i.S.d. Zustellvorschriften der §§ 178 ff. ZPO tatsächlich existiert und von dem Adressaten als Lebensmittelpunkt genutzt wird (BeckOK StPO/Larcher, § 37 Rn. 10 m.w.N.). D.h., dass er für eine gewisse Dauer dort lebt (LAG Köln LAGReport 2005, 160 Ls. 1). Eine „zustellfähige“ Wohnung kann aber nicht deshalb bejaht werden, weil die Räume z.B. als Kontaktadresse unterhalten werden, aber nicht Lebensmittelpunkt sind (OLG Düsseldorf OLGR Düsseldorf 2005, 648). Ob der Zustellungsempfänger tatsächlich am Zustellungsort im Zeitpunkt der Zustellung wohnhaft war, ist von Amts wegen zu berücksichtigen (OLG Karlsruhe BeckRS 2008, 19581 mwN).

Hier hat der Verteidiger von Beginn an und sogar noch innerhalb der Verjährungsunterbrechungsfrist mitgeteilt (Bl. 46 d.A.), dass der Betroffene nicht an der Meldeadresse wohnt und Zustellungen unter Vorlage einer dafür tauglichen Vollmacht an sich erbeten. Dem ist die Behörde aus nicht erklärlichen Gründen nicht nachgekommen. Der Betroffene ist Schausteller und dementsprechend im Bundesgebiet unterwegs. Dass er dies zum fraglichen Zeitpunkt wegen der Corona-Pandemie gerade nicht sein hätte können, kann das Gericht im Freibeweisverfahren nicht feststellen. Der fragliche Zeitraum Sommer/Herbst 2020 war gerade davon geprägt, dass kaum Einschränkungen gegeben waren.

Die eingeholte Stellungnahme der für den Betroffenen örtlich zuständigen Polizeiinspektion Ludwigslust / Parchim ergab exakt den Sachvortrag des Betroffenen (Bl. 124 d.A.). Die im Schreiben der Polizeibehörde genannte Rechtsansicht, der gewillkürte Wohnsitz stelle auch den räumlichen Lebensmittelpunkt des Betroffenen dar, ist lediglich eine Vermutung, die nicht auf tatsachenbasierten Erkenntnissen beruht. Auch der ergänzende Vortrag des Verteidigers zu zahlreichen Wiedereinsetzungsentscheidungen in anderen Verfahren, die gerade auf der Melde-/Wohnungsproblematik beruhen (Bl. 127 ff.), lässt den einfachen Rückschluss „Meldeadresse = Wohnung“ gerade nicht zu, sondern steht dem entgegen.

Dem Betroffenen ist auch kein rechtsmissbräuchliches Verhalten vorzuwerfen. Denn schon in Reaktion auf den Anhörungsbogen wurde der Behörde eine Zustellungsmöglichkeit angeboten. Dass sie diese nicht nutzt, kann dem Betroffenen nicht vorgehalten werden.

Eine Heilung durch Übersendung der Abschrift an den potentiellen Zustellungsbevollmächtigten, den Verteidiger, § 189 ZPO, ist vorliegend nicht eingetreten. Hier fehlt es schon am Zustellungswillen der Behörde. Dass sich dieser von der Zustellung an den Betroffenen auf andere potentielle Zustellungsberechtigte ohne gesonderte Willensbekundung oder -manifestation übertragen ließe, ist rechtlich weder geboten noch zulässig.

Dass der Betroffene selbst Kenntnis vom Inhalt des Bußgeldbescheids erhalten hat und damit eine Heilung eingetreten wäre, konnte das Gericht anhand der Akte nicht feststellen. Zudem ist der Betroffene unwidersprochen Analphabet, sodass auch diesbezüglich eine Kenntnisnahme des Inhalts des Bußgeldbescheids zumindest fraglich gewesen wäre.“

Und dann << Werbemodus an>>: Die Zustellungsfragen spielen – wie der Beschluss zeigt – eine (große) Rolle im Bußgeldverfahren. Daher: Sie sind (auch) in Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OW-Verfahren, 6. Auflage, 2021, eingehend behandelt. Das Werk kann man hier bestellen <<Werbemodus aus>>.

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Nochmals – altes oder neues Recht?

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Am vergangenen Freitag ging es bei dem Rätsel: Ich habe da mal eine Frage: Nochmals – altes oder neues Recht?, nochmals um die Anwendung des alten oder neuen Rechts nach Inkrafttreten des KostRÄG 2021.

Ich hatte ja bereits berichtet, dass die Frage aus einer „Verteidigergruppe“ stammt. Das war als Antwort zunächst gegeben worden: „Der Verteidiger erhält erst ab dem Moment eine Vergütung, ab der er die allererste Tätigkeit in der Sache vornimmt. Das ist hier das Lesen des Beiordnungsbeschlusses. Das war 2021 -> RVG neu.“ M.E. ist/war das nicht richtig. Sondern – und so habe ich dann auch geantwortet:

„Nein, ist m.E. so nicht zutreffend.

Es gilt § 60 Abs. 1 Satz 3 RVG. Es kommt auf den Zeitpunkt der Beiordnung an, nicht auf den Zeitpunkt der ersten Tätigkeit. Wirksam ist die Beiordnung mit dem Erlass des Bestellungsbeschlusses, hier also wohl der 18.12.2020. Daher m.E. altes Recht

Zu allem Burhoff/Volpert, RVG, § 61 Rn 49 und Teil A Rn 2167 ff. m.w.N. aus der Rechtssprechung.

Tur mir leid.“

Und <<Werbemodus an>>, wenn ich unseren RVG-Kommentar schon erwähne, dann hier auch der Hinweis, dass Burhoff/Volpert, RVG, Straf- und Bußgeldsachen, 6. Auflage, 2021, am 26.03.2021 erschienen und damit also lieferbar ist. Da findet man dann auch Rechtsprechnung zu der Frage der Beiordnung. Die ist zwar zum Teil aus dem Jahr 2005, also Übergang BRAGO/RVG. Die Rechtsprechung gilt aber auch für den derzeitigen Übergang. Bestellen kann man das Werk hier. <<Werbemodus aus>>.