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BtM I: Bewaffneter Handel mit BtM, oder: Schreckschusspistole/Einhandmesser in der Wohnung

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In die neue Woche starte ich mit zwei Entscheidungen aus dem BtM-Bereich. Ich beginne mit BGH, Urt. v. 04.12.2024 – 5 StR 442/24 – zum bewaffneten Handeltreiben.

Das LG hat den Anegklagten wegen Handel mit BtM in nicht geringer Menge verurteilt. Nach den Urteilsfeststellungen betrieb der Angeklagte gemeinsam mit fünf weiteren Personen von Mai bis August 2023 im Rahmen einer „organisierten Arbeitsstruktur“ über mehrere Monate in erheblichem Umfang Handel mit Kokain. Am 29.10.2023 wurde der Angeklagte in der „Deal-Wohnung“ festgenommen, wobei 1.050 EUR in seiner Hosentasche sichergestellt wurden. In der Küche befanden sich in einer Schublade, auf der Arbeitsplatte und in einem Hohlraum der Wand zum Wohnzimmer knapp 70 Gramm Kokain mit einer Wirkstoffmenge von etwa 63 Gramm zum gewinnbringenden Weiterverkauf. In der Küche lagen griffbereit ein funktionsfähiges Elektroschockgerät, das dem Aussehen nach einer Taschenlampe glich, und eine geladene Schreckschusspistole, der eine nicht ohne weiteres behebbare Funktionsstörung beim Entsichern anhaftete. Im Schlafzimmer, das hinter dem vom Flur abgehenden Wohnzimmer gelegen war, befanden sich in einer offenen Kommode neben dem Bett ein Einhandmesser und eine im Originalkarton verpackte Schreckschusspistole zusammen mit vier Kartuschen.

Die dagegen eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft hatte Erfolg:

„2. Soweit das Landgericht von einer Verurteilung des Angeklagten wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln nach § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG abgesehen hat, weist das Urteil Rechtsfehler auf.

a) Den zutreffenden Maßstab vorangestellt hat es seine Wertung wie folgt begründet: Zwar seien die in der offenen Küche gelagerte Schreckschusspistole und das äußerlich einer Taschenlampe gleichende Elektroschockgerät bei den regelmäßig im angrenzenden Wohnungsflur stattfindenden Drogengeschäften griffbereit gewesen. Die Schreckschusspistole sei aber wegen der Funktionsstörung beim Entsichern nicht gebrauchsbereit gewesen; das Elektroschockgerät habe der Angeklagte angesichts des äußerlichen Anscheins einer Taschenlampe nicht als solches erkannt. Die Schreckschusspistole im Schlafzimmer sei nicht in Griffweite gewesen, weil die Entfernung zum Aufbewahrungsort des Kokains „zu groß“ gewesen sei und die Waffe noch ausgepackt und geladen hätte werden müssen. Hinsichtlich des im Schlafzimmer liegenden Einhandmessers fehle es an einem „erkennbaren Zusammenhang“ mit den Betäubungsmittelgeschäften, weil dem Angeklagten „nahe dem regelmäßigen Ort der Portionierung und des Verkaufs des Kokains ebenso ein Küchenmesser“ zur Verfügung gestanden habe. Der Einsatz des Einhandmessers liege daher „besonders fern“, was das „Bewusstsein der Verfügbarkeit dieser Waffe fraglich erscheinen“ lasse.

b) Die Verneinung eines bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln im Sinne des § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

aa) Bewaffnetes Handeltreiben im Sinne von § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG setzt voraus, dass der Täter die Waffe derart bewusst in einer Weise verfügungsbereit hält, die ihm beim Umgang mit den Betäubungsmitteln einen Einsatz ohne nennenswerten Zeitaufwand erlaubt (vgl. BGH, Urteil vom 23. Januar 2020 – 3 StR 433/19, NStZ 2020, 554). Am Körper muss er sie hierfür nicht zwingend tragen. Es genügt vielmehr, dass sie sich so in der räumlichen Nähe des Täters befindet, dass er sich ihrer jederzeit – also ohne nennenswerten Zeitaufwand und ohne besondere Schwierigkeiten – bedienen kann. Dies kann auch der Fall sein, wenn die Betäubungsmittel und die Schusswaffe oder der sonstige (gefährliche) Gegenstand innerhalb derselben Wohnung in unterschiedlichen Räumen aufbewahrt werden. Das Tatgericht muss in einer solchen Konstellation die konkreten Umstände des Einzelfalls in der Weise darlegen, dass dem Revisionsgericht die Nachprüfung möglich ist, ob der Täter den Gegenstand tatsächlich jederzeit verwenden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Mai 2020 – 5 StR 111/20, NStZ 2020, 555 f.).

bb) Die Schreckschusspistolen und das Einhandmesser betreffend wird das Urteil diesen Anforderungen nicht gerecht.

(1) Hinsichtlich der im Schlafzimmer verwahrten Gegenstände hat das Landgericht zwar sowohl deren Aufbewahrungsort als auch den der Betäubungsmittel und die räumlichen Verhältnisse in den Urteilsgründen beschrieben. Seine Wertung, die Entfernung von dem Aufbewahrungsort des Kokains in der Küche zu der Schreckschusspistole und dem Einhandmesser im Schlafzimmer sei „zu groß“ gewesen, ist aber nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Zum einen steht dies in einem unaufgelösten Spannungsverhältnis zu der an anderer Stelle getroffenen Feststellung, es habe sich bei dem Tatort um eine „kleine Wohnung“ gehandelt. Zum anderen hat das Landgericht außer Betracht gelassen, dass die Betäubungsmittelgeschäfte regelmäßig im Flur der Wohnung abgewickelt wurden. Soweit sich das Landgericht hinsichtlich der Schreckschusspistole zusätzlich darauf gestützt hat, dass die Waffe ungeladen und verpackt gewesen sei, fehlt es an der weiteren zur rechtlichen Beurteilung erforderlichen Beschreibung der „Originalverpackung“. Angesichts der insoweit defizitären Feststellungen kann der Senat nicht überprüfen, ob der Angeklagte sich der im Schlafzimmer verwahrten Gegenstände tatsächlich nur mit einem „nennenswerten Zeitaufwand“ hätte bedienen können (vgl. BGH, aaO, 556). Die vom Landgericht herangezogene Entscheidung (BGH, Urteil vom 21. März 2000 – 1 StR 441/99, NStZ 2000, 433) besagt nichts anderes. Vielmehr ist das Tatgericht auch danach in einer Konstellation wie der hier vorliegenden verpflichtet, lückenlose Feststellungen zu treffen.

(2) Hinsichtlich der in der Küche verwahrten Schreckschusspistole hat das Landgericht zwar die Funktionsstörungen beim Entsichern unter Hinweis auf die waffentechnische Untersuchung durch einen Sachverständigen genau beschrieben. Es hat aber – worauf der Generalbundesanwalt zu Recht hingewiesen hat – nicht dargestellt, ob die Schreckschusspistole bei ihrer polizeilichen Sicherstellung in der „Deal-Wohnung“ ge- oder entsichert war. Darauf kommt es hier indes entscheidend an; der Umstand hätte daher in den Urteilsgründen dargelegt werden müssen.

cc) Soweit das Landgericht das Bewusstsein des Angeklagten von der Verfügbarkeit des Einhandmessers verneint und ihm einen Irrtum hinsichtlich des Elektroschockgeräts zugutegehalten hat, hält die Beweiswürdigung der rechtlichen Nachprüfung – auch eingedenk des eingeschränkten Prüfungsmaßstabes (vgl. BGH, Urteil vom 9. Januar 2020 – 3 StR 288/19 Rn. 19) – nicht stand.

(1) Das Landgericht hat das fehlende Bewusstsein des Angeklagten von der Verfügbarkeit des Messers damit begründet, dass dessen Einsatz angesichts der in der Küche vorhandenen Küchenmesser „besonders fernliege“. Damit hat es die Anforderungen an die Überzeugungsbildung überspannt. Denn den Willen des Täters, den gefährlichen Gegenstand einzusetzen, setzt der subjektive Tatbestand des Mitsichführens im Sinne des § 30a Abs. 2 Nr. 2 StGB gerade nicht voraus (vgl. BGH, Urteile vom 28. Februar 1997 – 2 StR 556/96, BGHSt 43, 8, 14; vom 21. März 2000 – 1 StR 441/99; vom 22. August 2012 – 2 StR 235/12, NStZ-RR 2013, 150, 151). Darüber hinaus ist die Beweiswürdigung lückenhaft. Denn das Landgericht hat nicht in den Blick genommen, dass der Angeklagte die „Deal-Wohnung“ bewohnte, was seine Kenntnis von dem offen in einer Kommode im Schlafzimmer liegenden Messer nahelegt. Zudem hat er in seiner Einlassung angegeben, dass dieses schon bei seinem Einzug in die Wohnung vorhanden gewesen sei.

(2) Hinsichtlich des Elektroschockgerätes hat sich das Landgericht nicht vom dahingehenden Vorsatz des Angeklagten überzeugen können, dass es sich bei dem äußerlich einer Taschenlampe gleichenden Gegenstand um ein solches gehandelt habe. Dies habe sich beim bloßen Anblick des Gegenstandes nicht aufgedrängt; denn „immerhin“ habe eine bei der Durchsuchung beteiligte Polizistin ihn nicht als solchen erkannt und daher bei dessen Sicherstellung einen Stromschlag erlitten. Das Landgericht hat insofern aber nicht ersichtlich bedacht, dass der Angeklagte mehrere Monate in der Wohnung seines Onkels lebte und er daher naheliegend über weitergehende Kenntnisse über die tatsächliche Funktion des Gegenstandes als den bloßen äußeren Anschein verfügte. Soweit das Landgericht der von seinem Verteidiger verlesenen Einlassung des Angeklagten, wonach er „die Taschenlampe (Elektroimpulsgerät)“ bei seinem Einzug vorgefunden habe, insoweit Beweiswert abgesprochen hat, weil zu berücksichtigen sei, dass die Einlassung die „Funktion als Erwiderung auf die Anklageschrift“ hatte und daher „auch im Hinblick auf den möglichen Einfluss der mangelnden Deutschkenntnisse des Angeklagten“ nicht den Schluss auf dessen Kenntnis von der tatsächlichen Eigenschaft des äußerlich einer Taschenlampe gleichenden Gegenstandes zuließe, hat es überspannte Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt. Denn das Tatgericht darf keine Umstände als entlastend heranziehen, für die es keine tatsächliche Grundlage gibt. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass der Verteidiger die schriftlich vorbereitete Einlassung nicht sorgsam mit dem Angeklagten vorbereitet oder der für die Kommunikation zwischen diesen gegebenenfalls tätige Sprachmittler nicht sorgfältig gearbeitet haben könnte, sind aus den Urteilsgründen indes nicht ersichtlich.“

Zustellung I: (Un)Wirksame Ersatzzustellung?, oder: Wenn der Betroffene angegeben hat, wo er wohnt

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In meinem Ordner hängen einige Entscheidungen zu Zustellungsfragen. Die stelle ich heute vor.

Zunächst kommt hier der schon etwas ältere BayObLG, Beschl. v. 13.12.2021 – 201 ObOWi 1475/21. Das BayObLG nimmt inb ihm noch einmal Stellung zur Frage der Zulässigkeit der Berufung auf die unwirksame Ersatzzustellung des Bußgeldbescheides.

Der Betroffene hatte im Verfahren Verjährung geltend gemacht. Dem lag folgender Verfahrensablauf zugrunde:

„Der Verkehrsverstoß war mit einem bei der Autovermietung A angemieteten Fahrzeug begangen worden. Die Firma A teilte unter dem 15.05.2020 mit, dass Mieterin die Betroffene war und kein eingetragener zweiter Mieter vorhanden sei. Als Anschrift der Betroffenen teilte die Firma A die F.-Straße 4 in M. mit. Die Zustellung des Bußgeldbescheides erfolgte ausweislich der Postzustellungsurkunde am 19.08.2020 durch Einlegung in den zum Geschäftsraum F—Straße 4 in M. gehörenden Briefkasten. Der Verteidiger hat unter dem 24.08.2020 „namens und im Auftrag der Mandantschaft“ Einspruch eingelegt. Mit Schriftsatz vom 22.09.2020 beantragte der Verteidiger die Einstellung des Verfahrens wegen Eintritts der Verfolgungsverjährung und machte geltend, dass die Betroffene weder unter dieser Anschrift in M. wohne noch dort über Geschäftsräume verfüge. An dieser Adresse befände sich lediglich eine Firma X. GmbH, die trotz desselben Namens nichts mit der Betroffenen zu tun habe; die Betroffene sei weder Geschäftsführerin noch Gesellschafterin. Bedauerlicherweise werde diese Adresse häufiger genutzt, um der Betroffenen etwas zuzustellen. Deshalb wisse diese Firma, wer der Verteidiger der Betroffenen ist, und habe deshalb dem Verteidiger den Bußgeldbescheid in Kopie weitergeleitet. Tatsächlich war die Betroffenen nur bis zum 12.12.2011 unter dieser Anschrift in M. gemeldet. Auf Anfrage die Tatrichterin vom 04.11.2020 nach der zutreffenden aktuellen Anschrift der Betroffenen teilte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 01.12.2020 mit, dass die Betroffene bereits seit Jahren in Großbritannien wohnhaft sei. Aus dem Fahreignungsregister sei eine Entscheidung des Amtsgerichts M. aus dem Jahr 2018 erkennbar, in welcher auch die aktuelle Anschrift der Betroffenen aufgenommen worden ist. Die Tatrichterin ließ daraufhin mit Verfügung vom 02.12.2020 durch die PI M. die ladungsfähige Anschrift der Betroffenen ermitteln. Die Polizeiinspektion teilte unter dem 28.12.2020 mit, dass die Betroffene seit Jahren dem polizeilichen Sachbearbeiter aus Aufenthalts- und Ermittlungsverfahren bekannt sei. Es sei keine Adresse in Deutschland vorhanden. An der Anschrift in M. befänden sich die Büroräume der Firma X. Immobilien GmbH. Die Betroffene komme aber in unregelmäßigen Abständen vorbei. Im Gebäude wohne ihre Mutter, bei der sie hin und wieder übernachte. Bei einer telefonischen Rückfrage am 28.12.2020 gab sie gegenüber dem polizeilichen Sachbearbeiter an, dass sie derzeit beruflich in H. sei und verwies erneut auf ihre dem polizeilichen Sachbearbeiter bereits bekannte Anschrift in M. In M. seien die Angestellten angewiesen, keine behördliche Post für die Betroffene anzunehmen. Nach den Urteilsfeststellungen wurde die Betroffene am 11.06.2020 wegen eines Handyverstoßes kontrolliert und gab bei der Anhaltung an, dass sie in der F.-Straße 4 in M wohne.

Mit Verfügung vom 04.01.2021 ordnete die Tatrichterin die Zustellung der Ladung an die Betroffene an die von ihr angegebene Adresse in Großbritannien an, zusätzlich die Ladung mit einfachem Brief auch an die Adresse F.-Straße 4 in M. Der Zustellversuch in Großbritannien mit Einschreiben und Rückschein blieb (bis heute) erfolglos. Nach zwischenzeitlicher Einstellung des Verfahrens gemäß § 205 StPO und der angeordneten Aufenthaltsermittlung gab die Betroffene bei einer polizeilichen Verkehrskontrolle am 14.04.2021 an, sie sei unter der Anschrift F.-Straße 4 in M erreichbar.“

Das BayObLG sagt dazu:

„bb) Die Betroffene muss sich so behandeln lassen, als sei die Zustellung des Bußgeldbescheides am 19.08.2020 wirksam.

(1) Eine wirksame Zustellung an die Betroffene ist unter der Anschrift in M. nicht erfolgt. Nach § 51 Abs. 1 OWiG, Art. 3 Abs. 2 Satz 1 BayVwZVG gelten für die Zustellung eines Bußgeldbescheides durch die Post mittels Zustellungsurkunde die Vorschriften der §§ 177 bis 182 ZPO entsprechend. Nach §§ 178 Abs. 1, 180 Satz 1 ZPO erfordert eine Ersatzzustellung durch Niederlegung in den zur Wohnung bzw. zum Geschäftsraum (vgl. zur Gleichwertigkeit beider OLG Brandenburg, Urt. v. 22.07.2009 – 3 U 105/08 bei juris) gehörenden Briefkasten, dass der Betroffene dort tatsächlich wohnhaft ist bzw. einen Geschäftsraum unterhält (vgl. BGH, Urt. v. 16.6.2011 – III ZR 342/09 = BeckRS 2011, 18958 Rn. 13 = BGHZ 190, 99 = NJW 2011, 2440; MüKo/Häublein/Müller 6. Aufl. 2020 ZPO § 180 Rn. 2). Dies ist hier durch die getroffenen Feststellungen nicht belegt. Trotz der Namensgleichheit steht nicht fest, dass die Betroffene mit der Firma X., die unter der Anschrift F.-Straße 4 in M. einen Geschäftssitz unterhält, in geschäftlicher Verbindung steht. Es lässt sich auch nicht sicher feststellen, dass die Betroffene, die dort bis zum Jahr 2011 amtlich gemeldet war, (noch) einen Wohnsitz in M. innehat. Es genügt grundsätzlich auch nicht, dass die Betroffene den Rechtsschein gesetzt hatte, unter der genannten Anschrift über einen Wohn- bzw. Geschäftssitz zu verfügen (vgl. BGH a.a.O. Rn. 13, 14).

(2) Es stellt allerdings vorliegend eine unzulässige Rechtsausübung dar, wenn sich die Betroffene auf die Unwirksamkeit der Ersatzzustellung beruft. Die Betroffene hat nämlich den Irrtum über ihren tatsächlichen Lebensmittelpunkt bewusst und zielgerichtet herbeigeführt, sodass es ihr nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) versagt ist, sich auf die Unwirksamkeit einer Zustellung zu berufen (vgl. BGH a.a.O. Rn. 15; Beschl. v. 14.05.2019 – X ZR 94/18 = BeckRS 2019, 19203 = NJW 2019, 2942; OLG Dresden, Beschl. v. 26.10.2020 – 4 U 1563/20 = BeckRS 2020, 37503), was auch auf keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken stößt (vgl. BVerfG NJW-RR 2010, 421). Diese Grundsätze gelten für die Zustellung eines Bußgeldbescheides in gleicher Weise (vgl. BayObLGSt 2004, 33 = DAR 2004, 281) und sind insbesondere für die Fälle anerkannt, dass sich der Adressat dolos als an dem entsprechenden Wohn- bzw. Geschäftsort aufenthältlich geriert, seinen Schriftwechsel unter dieser Anschrift führt und seine Post dort abholt (vgl. OLG Hamm NStZ 2015, 525; OLG Jena NStZ-RR 2006, 238).

Demnach muss sich die Betroffene vorliegend so behandeln lassen, als habe sie unter der Anschrift F.-Straße 4 in M. einen Wohn- oder Geschäftssitz. Die Betroffene hatte gegenüber der Autovermietung die genannte Adresse als Wohnanschrift genannt, sodass sie zurechenbar den Rechtsschein gegenüber den Bußgeldbehörden gesetzt hatte, sie sei unter dieser Anschrift im Zusammenhang mit eventuellen Verkehrsverstößen postalisch erreichbar. Es kommt hinzu, dass die Betroffene am 11.06.2020 und damit vor Zustellung des hier verfahrensgegenständlichen Bußgeldbescheides wegen eines Verstoßes gegen § 23 Abs. 1a StVO kontrolliert wurde und bei der Kontrolle angab, dass sie unter der genannten Anschrift in M. wohne. Gleiches gab sie – wenn auch nach dem verfahrensgegenständlichen Vorfall – bei einer Verkehrskontrolle am 14.04.2021 an. Damit setzt die Betroffene fortlaufend zurechenbar den Rechtsschein, dort postalisch erreichbar zu sein.

Entgegen diesem von ihr gesetzten Rechtsschein gibt sie in einem Telefonat vom 28.12.2020 gegenüber dem mit der Aufenthaltsermittlung beauftragten Polizeibeamten an, dass die Angestellten der Firma X. angewiesen seien, keine Zustellungen für sie entgegenzunehmen. Auch aus dem Schriftsatz des Verteidigers vom 22.09.2020 ergibt sich, dass „bedauernswerterweise häufiger diese Adresse genutzt wird, um der Betroffenen etwas zuzustellen“, was angesichts der vorgenannten Umstände naheliegend darauf zurückzuführen ist, dass die Betroffene die Anschrift in M. als ladungsfähige Adresse benennt. Vorliegend erfolgte die Niederlegung in den Briefkasten der Firma X. am 19.08.2020 und bereits mit Schriftsatz vom 24.08.2020 hat der Verteidiger Einspruch eingelegt. In der Gesamtschau lässt dies nur den Schluss zu, dass die Betroffene zurechenbar den Anschein gesetzt hat, in M. wohnhaft bzw. zumindest postalisch erreichbar zu sein, sodass es ihr nach den Grundsätzen von Treu und Glauben verwehrt ist, sich auf einen Zustellungsmangel zu berufen.“

Zustellung I: Verjährungsunterbrechung?, oder: Wo man gemeldet ist, muss man nicht „wohnen“

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Nach dem gestrigen „Corona-Tag“ heute dann wieder das „normale Programm“. Ich stelle heute hier drei Entscheidungen zu Zustellungsfragen vor.

Ich beginne mit dem AG Landstuhl, Beschl. v. 05.05.2021 – 2 OWi 4211 Js 90/21. Ergangen ist der Beschluss im Bußgeldverfahren, in dem um die Unterbrechung der Verjährung durch Zustellung des Bußgeldbescheides gestritten worden ist.  Das AG hat eine wirksame Unterbrechnung abgelehnt und das Verfahren gegen den Betroffenen nach § 206a StPO eingestellt. Dabei geht es (noch einma) um den Begriff der Wohnung:

„Es besteht ein Verfahrenshindernis hinsichtlich des Betroffenen, § 206a StPO. Es ist Verfolgungsverjährung eingetreten. Denn der Erlass des Bußgeldbescheides vom 27.10.2020, der bis heute nicht ordnungsgemäß zugestellt worden ist, hat die durch die Anhörungsverfügung (20.8.2020) ausgelöste Unterbrechung der Verjährungsfrist von drei Monaten nicht erneut unterbrechen können. Zwar bedarf es für den Bußgeldbescheid an sich der Zustellung nicht. Nur diese kann jedoch die Einspruchsfrist auslösen bzw. die Verjährung unterbrechen (BeckOK OWiG/Sackreuther OWiG § 65 Rn. 11). Die Zustellung des Bußgeldbescheids erfolgte hier an die Meldeadresse des Betroffenen. Diese Meldeadresse kann jedoch nicht als Wohnung im Sinne der §§ 46 OWiG, 37 StPO fungieren.

Ob eine Wohnung am Übergabeort existiert, richtet sich nicht danach, ob jemand unter einer bestimmten Adresse polizeilich gemeldet ist (VG Mainz BeckRS 2011, 47522; dies ist ggf. nur ein Indiz), sondern entscheidend ist, ob der Zustellungsempfänger tatsächlich an der angegebenen Anschrift wohnt und dort schläft, d.h. eine Wohnung des Adressaten an dem Ort, an dem zugestellt werden soll, i.S.d. Zustellvorschriften der §§ 178 ff. ZPO tatsächlich existiert und von dem Adressaten als Lebensmittelpunkt genutzt wird (BeckOK StPO/Larcher, § 37 Rn. 10 m.w.N.). D.h., dass er für eine gewisse Dauer dort lebt (LAG Köln LAGReport 2005, 160 Ls. 1). Eine „zustellfähige“ Wohnung kann aber nicht deshalb bejaht werden, weil die Räume z.B. als Kontaktadresse unterhalten werden, aber nicht Lebensmittelpunkt sind (OLG Düsseldorf OLGR Düsseldorf 2005, 648). Ob der Zustellungsempfänger tatsächlich am Zustellungsort im Zeitpunkt der Zustellung wohnhaft war, ist von Amts wegen zu berücksichtigen (OLG Karlsruhe BeckRS 2008, 19581 mwN).

Hier hat der Verteidiger von Beginn an und sogar noch innerhalb der Verjährungsunterbrechungsfrist mitgeteilt (Bl. 46 d.A.), dass der Betroffene nicht an der Meldeadresse wohnt und Zustellungen unter Vorlage einer dafür tauglichen Vollmacht an sich erbeten. Dem ist die Behörde aus nicht erklärlichen Gründen nicht nachgekommen. Der Betroffene ist Schausteller und dementsprechend im Bundesgebiet unterwegs. Dass er dies zum fraglichen Zeitpunkt wegen der Corona-Pandemie gerade nicht sein hätte können, kann das Gericht im Freibeweisverfahren nicht feststellen. Der fragliche Zeitraum Sommer/Herbst 2020 war gerade davon geprägt, dass kaum Einschränkungen gegeben waren.

Die eingeholte Stellungnahme der für den Betroffenen örtlich zuständigen Polizeiinspektion Ludwigslust / Parchim ergab exakt den Sachvortrag des Betroffenen (Bl. 124 d.A.). Die im Schreiben der Polizeibehörde genannte Rechtsansicht, der gewillkürte Wohnsitz stelle auch den räumlichen Lebensmittelpunkt des Betroffenen dar, ist lediglich eine Vermutung, die nicht auf tatsachenbasierten Erkenntnissen beruht. Auch der ergänzende Vortrag des Verteidigers zu zahlreichen Wiedereinsetzungsentscheidungen in anderen Verfahren, die gerade auf der Melde-/Wohnungsproblematik beruhen (Bl. 127 ff.), lässt den einfachen Rückschluss „Meldeadresse = Wohnung“ gerade nicht zu, sondern steht dem entgegen.

Dem Betroffenen ist auch kein rechtsmissbräuchliches Verhalten vorzuwerfen. Denn schon in Reaktion auf den Anhörungsbogen wurde der Behörde eine Zustellungsmöglichkeit angeboten. Dass sie diese nicht nutzt, kann dem Betroffenen nicht vorgehalten werden.

Eine Heilung durch Übersendung der Abschrift an den potentiellen Zustellungsbevollmächtigten, den Verteidiger, § 189 ZPO, ist vorliegend nicht eingetreten. Hier fehlt es schon am Zustellungswillen der Behörde. Dass sich dieser von der Zustellung an den Betroffenen auf andere potentielle Zustellungsberechtigte ohne gesonderte Willensbekundung oder -manifestation übertragen ließe, ist rechtlich weder geboten noch zulässig.

Dass der Betroffene selbst Kenntnis vom Inhalt des Bußgeldbescheids erhalten hat und damit eine Heilung eingetreten wäre, konnte das Gericht anhand der Akte nicht feststellen. Zudem ist der Betroffene unwidersprochen Analphabet, sodass auch diesbezüglich eine Kenntnisnahme des Inhalts des Bußgeldbescheids zumindest fraglich gewesen wäre.“

Und dann << Werbemodus an>>: Die Zustellungsfragen spielen – wie der Beschluss zeigt – eine (große) Rolle im Bußgeldverfahren. Daher: Sie sind (auch) in Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OW-Verfahren, 6. Auflage, 2021, eingehend behandelt. Das Werk kann man hier bestellen <<Werbemodus aus>>.

Wo wohnt ein Student?, oder: Keine schriftliche Vollmacht

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Und als zweite Entscheidung am Ostermontag der AG München, Beschl. v. 02.03.2017 – 1013 OWi 456 Js 239910/16 jug – schon etwas älter, aber der Kollege hat sie erst vor kurzem geschickt. Ich bringe die Entscheidung aber schon allein deshalb, weil sie ein schööne Beweis dafür ist, dass man als Verteidiger eine schriftlich Vollmacht nicht vorlegt. Und dass mauss man ja auch nicht. Und: Das hat nun gar nichts mit irgendwelchen Tricksereien zu tun. Im Übrigen: Ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig isch dieser Umstand doch herumgesprochen hat, und zwar sowohl bei den Ermittlungs-/Bußgeldbehörden, die immer wieder meinen, in Zusammenhnag mit Akteneinsicht schriftliche Vollmachten anfordern zu müssen, aber auch bei Kollegen, die immer wieder ohne Not schriftliche Vollmachten vorlegen.

In dem Beschluss vom 02.03.2017 hat das AG München des Bußgeldverfahren gegen den Betroffenen eingestellt, und zwar wegen Verjährung:

„Die Ordnungswidrigkeit vom 14.08.2016 ist verjährt.

Eine Unterbrechung der 3-monatigen Verjährungsfrist erfolgte wirksam durch die Anordnung der Anhörung des Betroffenen am 14.09.2016 gemäß § 33 Abs.1 Nr.1, 3. Alt. OWiG. Eine weitere wirksame Unterbrechungshandlung ist bis Eintritt der Verjährung am 14.12.2016 nicht mehr erfolgt.

Insbesondere erfolgte keine wirksame Zustellung des Bußgeldbescheids der Verwaltungsbehörde vom 9.11.2016.

Die am 11.11.2016 bewirkte Ersatzzustellung des Bescheids an der Anschrift „ppp.“ war unwirksam, da der Betroffene zu diesem Zeitpunkt unter dieser Anschrift nicht mehr dauerhaft wohnte. Vielmehr hielt er sich seit spätestens 1.10.2016 als Student während des Semesters dauerhaft in Klagenfurt unter der Anschrift „pppp. 9020 Klagenfurt“ auf. Dies ergibt sich aus dem vom Verteidiger vorgelegten Mietvertrag vom 1.10.2016, dem Stromlieferungsvertrag mit dem örtlichen Energieversorger vom 3.10.2016 und dem Vertrag mit einem örtlichen Telefonanbieter vom 1.10.2016. Der Begriff der Wohnung ist insoweit dadurch gekennzeichnet, dass sich die betreffende Person dort tatsächlich dauerhaft aufhält – unabhängig von einer polizeilichen Meldung. Ein Student hat jedenfalls in der Vorlesungszeit seine Wohnung am Studienort. Die Vorlesungszeit begann für das Wintersemester 2016 in Klagenfurt am 1.10.16.

Eine Zustellung an den Verteidiger des Betroffenen ist nicht erfolgt. Die formlose Mitteilung des Bescheids an diesen erfolgte nicht mit Zustellungswillen der Behörde.

Eine Heilung des Zustellungsmangels gemäß § 51 Abs.1 i.V.m. Art. 9 VwZVG durch den tatsächlichen Zugang des Bußgeldbescheids liegt nicht vor – kann jedenfalls nicht nachgewiesen werden. Hierfür genügt jedenfalls nicht die bloße Kenntnis von der Existenz eines Bußgeldbescheids; erforderlich ist vielmehr die zuverlässige Kenntnisnahme des Inhalts des Bußgeldbescheids. Vorlie-gend ist nicht nachweisbar, dass der Betroffene tatsächlich zuverlässige Kenntnis vom Inhalt des Bescheids vom 9.11.2016 – sei es per Fax oder per Mail – erlangt hat. Dafür reicht auch nicht der Umstand , dass der Verteidiger des Betroffenen in dessen Namen und in dessen Auftrag mit Schrieben vom 15.11.2016 gegen des Bußgeldbescheid Einspruch eingelegt hat, da der Verteidiger bereits im Rahmen des Verwaltungsverfahren mandatiert worden ist und dies bereits mit Schreiben vom 20.09.2016 angezeigt hat.

Der Eingang der Akte beim Amtsgericht München am 16.12.2016 konnte keine Unterbrechung der Verjährung mehr bewirken da diese bereits eingetreten war.“

Wäre eine schriftliche Vollmacht des Verteidigers bei der Akte gewesen…….

Brandstiftung: Ein bißchen Brennen reicht wohl nicht…

Beim BGH gab es Abweichungen zwischen dem 4. Strafsenat und dem 2. Strafsenat in der Frage, wann die Tatbestandsalternative des teilweisen Zerstörens eines der Wohnung von Menschen dienenden Gebäudes gemäß § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB  bei der Brandlegung in einem einheitlichen, teils gewerblich, teils zu Wohnzwecken genutzten Gebäude vollendet ist.

Der 4. Strafsenat wollte das erst annehmen, wenn ein zum Wohnen bestimmter selbständiger Teil des Gebäudes durch die Brandlegung für Wohnzwecke unbrauchbar geworden ist. Der 2. Strafsenat hatte das in 2 StR 266/07 anders gesehen und war davon ausgegangen,  dass bei einem gemischt genutzten Gebäude § 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB bereits dann erfüllt sei, wenn der Brand sich nur auf gewerbliche Teile erstreckt und nicht auszuschließen ist, dass das Feuer auf den Wohnbereich übergreifen kann. Deshalb die Frage, in der der 4. Strafsenat darauf hingewiesen hat, dass der 2. Strafsenat diese Rechtsauffassung mit Urt. v. 17. 11. 2010 – 2 StR 399/10 wahrscheinlich bereits selbst aufgegeben hatte. Aber fragen musste man, so der BGH-Beschl. v. 15.02.2011 – 4 StR 659/10.

Inzwischen ist die Antwort auch schon da: Der 2. Strafsenat ist im Beschl. v. 06.04.2011 – 2 ARs 97/11 der Ansicht des 4. Strafsenats beigetreten. Kurz und zackig.