Archiv für den Monat: März 2020

Umdrehen im stockenden Verkehr auf der BAB zu Kind auf Rücksitzbank, oder: Grobfahrlässig

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Die zweite Entscheidung kommt vom OLG Frankfurt am Main. Sie hat ein „Verkehrsgeschehen“ zum Gegenstand, das der ein oder andere kennen wird.

Der Beklagte hatte bei der Klägerin Pkw gemietet. Im Mietvertrag vereinbarten die Parteien eine Haftungsfreistellung zu Gunsten des Beklagten für selbstverschuldete Unfälle mit einer Selbstbeteiligung von 1.050,- € pro Schadenfall. Nach der in den Mietvertrag einbezogenen Allgemeinen Vermietbedingungen war die Klägerin, sofern der Schaden grob fahrlässig herbeigeführt wurde, aber berechtigt, ihre Leistungsverpflichtung zur Haftungsfreistellung in einem der Schwere des Verschuldens entsprechenden Verhältnis zu kürzen.

Es ist dann zu folgendem Unfallgeschehen gekommen.

„Am 14.9.2016 gegen 18:15 Uhr verursachte der Beklagte einen Schaden am Mietfahrzeug. Er befuhr die BAB A. aus Richtung Stadt1 kommend in Richtung Stadt2. Auf dem Rücksitz des Fahrzeugs befanden sich die beiden damals acht bzw. neun Jahre alten Kinder des Beklagten. In Höhe der Abfahrt Stadt3 wechselte er von der linken auf die rechte Fahrspur. Da er bei seinem zuvor getätigten kurzen Schulterblick wahrgenommen hatte, dass sein rechts hinter ihm sitzender achtjähriger Sohn einen Gegenstand in der Hand hielt, den er zunächst nicht identifizieren konnte, drehte er sich nach Beendigung des Fahrspurwechsels nach hinten zu diesem Kind auf der Rückbank um. Da er hierbei kurzzeitig das Verkehrsgeschehen außer Acht ließ, bremste er nicht mehr rechtzeitig und fuhr auf das etwa mittig vor ihm auf der rechten Spur fahrende Motorrad des Zeugen A auf.“

Die Klägerin hat zunächst 70 % des entstandenen Schadens geltend gemacht. Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin, mit der noch 50 % geltend gemacht worden sind, hatte Erfolg. Das OLG Frankfurt meint im OLG Frankfurt am Main, Urt. v. 12.02.2020 – 2 U 43/19:

„Ein vollständiges Umdrehen während der Fahrt mit einem Pkw auf der Autobahn im stockenden Verkehr zu einem auf dem rechten Rücksitz befindlichen achtjährigen Kind, das zu einem leichten Auffahren auf ein vorausfahrendes Motorrad führt, ist als grob fahrlässig anzusehen. Dass ein Kraftfahrer die vor ihm befindliche Fahrspur beobachten muss, um möglicherweise in hohem Maße gefährliche Situationen zu vermeiden, stellt eine einfachste ganz naheliegende Überlegung dar.“

Wartepflichtiger versus Vorfahrtsberechtigter, oder: Wer haftet wie?

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Heute dann – auch in Coronazeiten – der „Kessel Buntes“ mit zwei Entscheidungen aus dem Verkehrszivilrecht.

Nun, an sich sind es drei, denn in diesem ersten Posting stelle ich zwei Entscheidungen vor, die beide aus einer beim OLG Dresden anhängigen Verkehrsunfallsache stammen. Es geht um Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall, bei dem die Wartepflicht des einen Unfallbeteiligten an einer Kreuzung eine Rolle gespielt hat.

Dazu hat es zunächst den Hinweisbeschluss, den OLG Dresden, Beschl. v. 30.09.2019 – 4 U 1354/19, gegeben, und zwar mit folgenden Leitsätzen:

1. Der Wartepflichtige an einer Kreuzung, der in eine Vorfahrtsstraße einbiegen will, darf nur dann darauf vertrauen, dass der Vorfahrtsberechtigte seinerseits abbiegen will, wenn dieser blinkt und zusätzlich die Annäherungsgeschwindigkeit deutlich und erkennbar herabsetzt oder zweifelsfrei bereits mit dem Abbiegen bereits begonnen hat. Es reicht demgegenüber nicht aus, wenn der Vorfahrtberechtigte sich dem Kreuzungsbereich mit einer geringeren als der dort zugelassenen Höchstgeschwindigkeit nähert, ohne diese jedoch weiter zu verlangsamen.

2. Eine Haftungsverteilung zu Lasten des Wartepflichtigen von 1/3 zu 2/3 ist gerechtfertigt, wenn der Vorfahrtsberechtigte vor dem Zusammenstoß zwar geblinkt, sich darüber hinaus aber nicht tatsächlich wahrnehmbar auf das Abbiegen vorbereitet hat.

3. Teilt das Gericht den Parteien mit, dass es beabsichtigte, ein Gutachten aus einem Straf- oder Ermittlungsverfahren zu verwerten, führt die rügelose Antragstellung dazu, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme in der Berufungsinstanz nicht mehr eingewandt werden kann.

Die Berufung ist dann nicht zurückgenommen worden. Das OLG hat dann die Berufung mit dem OLG Dresden, Beschl. v. 10.02.2020 – 4 U 1354/19, zurückgewiesen.

Ich habe da mal eine Frage: Muss der Mandant die Kosten für beide „Durchgänge“ tragen?

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Im Gebührenrätsel dann heute folgende – kostenrechtliche – Frage:

„Guten Tag Herr Kollege Burhoff,

ich habe eine Frage hinsichtlich Verfahrenskosten, die Sie mir hoffentlich beantworten können, ich habe nämlich keine Ahnung.

Ich habe in einem Verfahren als Pflichtverteidiger vor der Strafkammer verteidigt. Im ersten Durchgang habe ich einen BefA gestellt, der durchging, im zweiten wurde mein Mandant dann verurteilt.

Nun wurde dem Mandanten die (recht hohe) Rechnung bzgl. der Verfahrenskosten durch die StA zugesandt. Soweit ich das erkennen kann, sind dort die Gebühren des Pflichtverteidigers für beide Durchgänge berechnet worden. Nach meinem Verständnis müsste der erste Durchgang, der mit dem BefA endete doch eigentlich vom Staat gezahlt werden. Es lag ja nicht an dem Angeklagten oder einem der anderen Angeklagten, sondern an der Kammer, dass erneut verhandelt werden musste.

Oder liege ich da falsch?“

Nun? Müssten doch alle Zeit haben 🙂 .

Gebührenbemessung im Bußgeldverfahren, oder: Mal wieder falsch – AG Charlottenburg

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Die zweite Entscheidung des Tages kommt mit dem AG Charlottenburg, Urt. v. 17.01.2020 – 220 C 85/19 – aus Berlin. Das AG hat über die anwaltlichen Gebühren in einem straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren entschieden. M.E. falsch:

Ein weitergehender Zahlungsanspruch auf Erstattung der Rechtsanwaltskosten aus der streitgegenständlichen Bußgeldverfahren steht dem Kläger nicht zu.

In Bezug auf die vorgerichtliche und gerichtliche Tätigkeit des jetzigen Prozessbevollmächtigten des Klägers ist die von diesem abgerechnete Rahmengebühr unbillig hoch und rechtfertigt über den bereits von der Beklagten vorgerichtlich bezahlten Betrag keine weitere Forderung. Angemessen ist hier vorliegend lediglich eine Gebühr im unteren Bereich des Gebührenrahmens und damit höchstens so viel, wie von der Beklagten bereits bezahlt wurde:

Nach § 14 RVG hat der Rechtsanwalt seine Gebühren im Einzelfall nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des Umfangs und der Schwierigkeitseiner Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens-. und Vermögensverhältnisse seines Auftraggebers zu bestimmen. Dabei ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung im Verhältnis zu einem zur Zahlung verpflichteten Dritten nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist. Das ist hier der Fall.

Die Tätigkeit des Klägervertreters rechtfertigt nicht die von diesem abgerechnete Mittelgebühr. Die Abweichung des angemessenen Betrages zu dem in Rechnung gestellten liegt bei rund 25 % und ist damit unbillig. Vorliegend führte der Prozessbevollmächtigte des Klägers für diesen ein standardmäßiges Bußgeldverfahren vor dem Amtsgericht, was keinerlei Schwierigkeiten aufwies. Generell ist nach weitverbreiteter Rechtsprechung der Ansatz einer Mittelgebühr für durchschnittliche Verkehrsordnungswidrigkeiten in Abgrenzung zu anderen Ordnungswidrigkeiten nicht gerechtfertigt. Die Mittelgebühr ist der Richtwert für die Abrechnung einer durchschnittlichen anwaltlichen Tätigkeit. Sie ist demnach angemessen für Verfahren mit durchschnittlicher Schwierigkeit und durchschnittlichem Umfang im Bereich der Ordnungswidrigkeiten. Zu beachten ist, dass die Bedeutung, Schwierigkeit und der Umfang der Angelegenheiten im Bereich der Verkehrsordnungswidrigkeiten im Vergleich dazu regelmäßig unterdurchschnittlich ist. Dem steht auch nicht entgegen, dass es Fachanwälte für Verkehrsrecht gibt. Zum einen bilden die Verkehrsordnungswidrigkeiten nur einen Teil der fachanwaltlichen Tätigkeit. Ein weiterer, weitaus schwieriger Bereich, sind beispielsweise Verkehrsunfälle. Zum anderen treten Verkehrsordnungswidrigkeiten im Alltag sehr häufig auf und betreffen eine Vielzahl von Menschen. Es handelt sich in der Regel um standardisierte Verfahrensabläufe mit immer gleicher bzw. ähnlichem Ablaufmuster. Die rechtlichen oder tatsächlichen Probleme sind meist ähnlich gelagert und erschöpfen sich in einem bestimmten Problemkreis. Eine neuartige Problemstellung, die eine gesteigerte Eigenleistung des Rechtsanwalts erfordert, ist regelmäßig nicht gegeben, sodass die Mittelgebühr in der Regel nicht angemessen ist (vgl. Landgericht Cottbus, Beschluss vom 29.05.2007, 24 Os 77/07; Landgericht Kassel, Beschluss vom 20.05.2019, 8 Os 18/19 mit weiteren Nachweisen). Die Prüfung des hier vorliegenden Einzelfalls kommt dabei zu keinem, anderen Ergebnis. Der Umfang der rechtsanwaltlichen Tätigkeit beschränkt sich vorliegend auf das Einlegen des Einspruchs: ohne Begründung; die Einsichtnahme in die verfahrensrelevanten Unterlagen, die Wahrnehmung des Gerichtstermins und den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ohne Begründung und dessen Rücknahme. Der Klägervertreter hat keine weiteren Schriftsätze verfasst. Der Umfang der Ermittlungsakten mit 32 Seiten ist durchschnittlich. Die Kontrolle der Funktionsfähigkeit des Messgerätes einschließlich der Bedienungsanleitung und des Ausbildungsnachweises des ausführenden Polizisten ist in solchen Verfahren ein standardisiertes Vorgehen und erfordert eher geringen Aufwand. Auch wenn die einzelnen Unterlagen hierzu mehrere Seiten lang sind, deutet dies nicht auf einen gesteigerten Umfang hin. Die entscheidenden Dokumente entsprechen standardmäßiger Lektüre in solchen Bußgeld-verfahren und allein ihre Bearbeitung rechtfertigt nicht die Annahme eines auch nur durchschnittlichen Aufwandes für den Rechtsanwalt. Auch die mündliche Verhandlung war mit 45 Minuten von durchschnittlicher Länge. Die Ladung eines Zeugen steigert nicht den Umfang und die Schwierigkeit in einem solchen Verfahren. Vielmehr ist auch dies in einem üblichen Bußgeldverfahren regelmäßig der Fall. Das Verfahren wies überdies keinerlei Schwierigkeiten auf. Es gab ein Frontfoto des Klägers, auf dem er einwandfrei erkennbar war. Die Aufgabe bestand demnach in diesem Fall allein darin, die Richtigkeit der Messung anhand der Unterlagen und hinsichtlich typischer Fehlerquellen zu kontrollieren. Die Behauptung des Klägers, er sei im Pulk gefahren, wodurch Messungen besonders fehlerträchtig seien, wird durch das von ihm vorgelegte Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in seiner Bußgeldsache widerlegt Hier führt die Richterin aus, es werde durch das Messbild widerlegt, dass der Betroffene im Pulk gefahren sei. Das Messbild lag dem Rechtsanwalt schon bei Einsichtnahme in die Akte vor. Auch die Höhe des Bußgeldes. mit 100,00 € liegt im untersten Bereich des Bußgeldrahmens. Es stellt für den Kläger, der als IT-Manager tätig ist, keine empfindliche Geldbuße dar. Auch durch die Eintragung des Punktes drohen dem Kläger keine weiteren Folgen wie etwa den Entzug der Fahrerlaubnis. Das schon jetzt jeder Punkt bedeutsam sein soll, weil er „eine Stufe auf der Leiter zum Entzug der Fahrerlaubnis darstelle“ und nun höhere Bußgelder im Falle weiterer Geschwindigkeitsüberschreitung verhängt würden, ist nicht überzeugend. Es ist schon nicht zu berücksichtigen, inwieweit der Kläger durch eventuell in der Zukunft begangene Rechtsverstöße dieser Art höher belastet werden wird. Er kann es immerhin selbst vermeiden, weitere Verstöße in der Zukunft zu begehen.“

Und:

Hinsichtlich der Rücknahme des Antrages auf Zulassung einer Rechtsbeschwerde steht dem Kläger gegenüber der Beklagten nur der von dieser anerkannte Betrag von 214,20 € zu.

Die von dem Prozessbevollmächtigten des Klägers abgerechnete zusätzliche Gebühr gemäß Nummer 5115, 5113 VV RVG kann hier nicht abgerechnet werden, da diese nicht angefallen ist.

Eine solche Gebühr fällt nur an, wenn durch die anwaltliche Mitwirkung das Verfahren vor der Verwaltungsbehörde erledigt oder die Hauptverhandlung entbehrlich wird. Hier käme nur eine Hauptverhandlung in 2. Instanz infrage. Für die Anberaumung einer solchen Hauptverhandlung müssen konkrete Anhaltspunkte bestehen (vgl. für die Revision OLG Hamm, Beschluss vorn 20.06.2006, 4 Ws 144/06). Sinn und Zweck der zusätzlichen Gebühr ist es, die Mithilfe an der Verkürzung und Vereinfachung des gerichtlichen Verfahrens und die damit verbundene Entlastung des Gerichts zu belohnen (Landgericht Cottbus, Beschluss vom 29.05.2007, 24 Os 77/07). Vorliegend war die Rechtsbeschwerde schon nicht nach § 79 OWIG, zulässig, da keinerlei Anhaltspunkte dafür vorliegen, warum der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde Erfolg haben sollte. Somit war es kaum im Bereich des Möglichen, dass es überhaupt zu einer mündlichen Verhandlung in 2. Instanz gekommen wäre, insbesondere da der Antrag vor der Rücknahme noch nicht einmal begründet wurde. In einem solchen Fall, wo ein kaum erfolgsversprechender Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gestellt und noch vor der Begründung zurückgenommen wird, hat der Rechtsanwalt nicht durch sein Verhalten dazu beigetragen, dass eine Hauptverhandlung. verhindert wird.“

Folgen kann ich dem AG vielleicht noch bei der Nr. 5115 VV RVG. Aber die Ausführungen zu § 14 RVG sind m.E. falsch. Und jetzt muss ich wieder vorsichtig sein, sonst heißt es: Er pöbelt. Aber, was man erwarten können sollte, ist, dass sich ein AG mit der umfangreich vorliegenden Rechtsprechung zu der von ihm entschiedenen Frage auseinander setzt und nicht nur auf “ weitverbreitete Rechtsprechung“ verweist und dann eine LG-Entscheidung aus 2007 (!) und eine aus 2019 zitiert, die übrige Rechtsprechung aber völlig außen vorlässt. Dass solche Entscheidungen dann bei den RSV große Freude auslösen, ist klar. Und die werden dann als „h.M.“ dem Verteidiger gern entgegen gehalten. Obwohl die „h.M.“ m.E. anders lautet.

Beratungshilfe auch noch nach Zustellung der Anklage, oder: Ja, das geht

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Auch in Corona-Zeiten gibt es am Freitag  RVG-Entscheidungen. Denn es gibt ja auch eine Zeit nach Corona 🙂 .

Und heute beginne ich die Reihe mit dem AG Bad Segeberg, Beschl. v. 03.03.2020 – 18 UR II 808/19. In ihm geht es um die Frage: Kann Beratungshilfe auch noch nach Zustellung der Anklageschrift bewilligt werden? Das AG sagt: Ja:

Die Erinnerung ist auch begründet, weil dem Antragsteller Beratungshilfe zu bewilligen war. Dies deshalb, weil die gesetzlichen Voraussetzungen des § 1 BerhG vorliegen. Der Antragsteller ist zunächst als Bezieher sog. Grundsicherung bedürftig und kann die erforderlichen Mittel der Rechtsberatung nicht aufbringen. Andere Möglichkeiten als die Inanspruchnahme eines Rechtsanwaltes stehen dem Betroffenen nicht zur Verfügung, auch ist sein Begehren nicht mutwillig.

Die Voraussetzung der Bewilligung von Beratungshilfe liegen auch trotz des Umstandes vor, dass zum Zeitpunkt der Mandatierung eines Rechtsanwaltes durch den Antragsteller ihm die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kiel bereits zugestellt worden war. Denn der in § 1 Abs. 1 BerHG genannte Tatbestand des Ausschlusses der Beratungshilfe infolge eines „gerichtlichen Verfahrens“ liegt in der vorliegenden Konstellation zur Überzeugung des Gerichtes nicht vor.

Die Frage, wann in Strafsachen in zeitlicher Hinsicht für eine Beratung des Beschuldigten bzw. Angeklagten Beratungshilfe gewährt werden kann, wird nicht einheitlich beantwortet. In der Literatur wird einerseits vertreten, dass die Zustellung der Anklageschrift bzw. des Strafbefehls den Endpunkt der Bewilligungsmöglichkeit darstellen soll (PollerHärtl/Köpf-Köpf, Gesamtes Kostenhilferecht, § 1 BerHG, Rz. 40, inhaltlich identisch Köpf, Beratungshilfegesetz, § 1, Rz. 40). Auf der anderen Seite besteht auch die Auffassung, dass in entsprechenden Verfahren die Bewilligung der Beratungshilfe so lange möglich sein soll, wie kein Pflichtverteidiger bestellt worden ist (Burhoff/Volpert-Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen Rz. 290). Die Rechtsprechung vertritt, soweit erkennbar, einhellig die letztgenannte Auffassung (AG Augsburg v. 9.9.1988 -1 UR II 1058, iuris; AG Köln v. 13.2.1984 -662 UR II 1514/82, iuris). Diese ist inhaltlich zutreffend. Die in § 1 Abs. 1 BerHG aufgenommenen Schranke der Bewilligung von Prozesskostenhilfe durch den Passus „außerhalb eines gerichtlichen Verfahrens“ ist inhaltlich konsequent vor dem Hintergrund, dass in zivil- und familiengerichtlichen Verfahren vor den Gerichten zwei verschiedene Möglichkeiten der Prozess- bzw. Verfahrensführung für bedürftige Personen durch die Institute der Prozesskosten- und Verfahrenskostenhilfe bestehen. Insofern besteht die aus dem Sozialstaatsprinzip abzuleitende Zugangsmöglichkeit bedürftiger Verfahrensbeteiligter zu den Gerichten in nahtloser Abfolge von Beratungs-, Prozesskosten- und Verfahrenskostenhilfe. Diese Systematik besteht für den Beschuldigten bzw. Angeklagten im Strafverfahren nicht. Hier gibt es zwar das Institut der Pflichtverteidigung aus § 141 StPO, welches auf die Regelung zur notwendigen Verteidigung aus § 140 StPO aufbaut. Bei ihm finden allerdings die Kriterien der Bedürftigkeit, des Erfolges der beabsichtigten Rechtsverfolgung sowie der fehlenden Mutwilligkeit keinerlei Berücksichtigung. Ausschlaggebend ist vielmehr allein der Gesichtspunkt der Fürsorge des Staates, wie er auch bei der Verfahrenspflegerbestellung bzw. des Verfahrensbeistandes im Rahmen des Gesetzes zur Regelung des Verfahrens in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit aufzufinden ist. Aus diesem Grunde ist die Pflichtverteidigerbestellung auch nicht abhängig von einer willentlichen Handlung seitens des Beschuldigten oder Angeklagten in Gestalt eines Antrages oder der Darlegung von persönlichen bzw. objektiven Voraussetzungen, sondern allein von der rechtlichen Einschätzung des Gerichtes. Damit aber greift der maßgebliche Gesichtspunkt, der zur Aufnahme des in § 1 Abs. 1 BerHG genannten Ausschlusses der Beratungshilfe infolge eines „gerichtlichen Verfahrens“ geführt hat, nicht ein. Denn dieser besteht ja nicht darin, Hilfe generell zu versagen, sondern nur darin, die zugrunde liegenden Systeme der antragsabhängigen Hilfebewilligung zeitlich randscharf abzugrenzen. Und dieser Gesichtspunkt greift in Strafverfahren nicht. Dort besteht gerade kein nahtloser Übergang verschiedener Möglichkeiten bedürftiger Personen, rechtliche Beratung außerhalb oder während eines gerichtlichen Verfahrens in Anspruch zu nehmen. Wollte man nun die Möglichkeit der Inanspruchnahme der Beratungshilfe nach Zustellung der Anklageschrift oder des Strafbefehles versagen, so würde einem wirtschaftlich Bedürftigen, gegen den die öffentliche Klage erhoben wird und der vom Gericht keinen Pflichtverteidiger bestellt bekommt, gleichsam von einem Tag auf den anderen die Möglichkeit genommen, sich in der rechtlich höchst prekären Situation einer konkreten Strafverfolgung rechtlich kompetenten Rat in Anspruch zu nehmen. Hierfür allerdings besteht durchaus ein Bedürfnis, da die Fragen der Folgen eines Strafverfahrens, einer etwaigen Einlassung in der Hauptverhandlung, des Ablaufes des Gerichtstermines an sich pp. wegen der einschneidenden Folgen eines Strafverfahrens nicht durch anderweitige Erkenntnisquellen mit der notwendigen Sicherheit beantwortet werden können. Diese Folgen aber können nicht in der Intention des aus dem Sozialstaatsgebot ausfließenden Beratungshilfegesetzes gelegen haben.“

Und hier – weil im Beschluss zitiert – mal wieder der Hinweis auf „Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 5. Aufl.,“ den man – auch in Corona-Zeiten hier bestellen kann – für die Zeiten nach Corona 🙂 .