Archiv für den Monat: März 2020

„Der Zeuge kommt nicht, dann bleibe ich zuhause..“, oder: Geht nicht. Wirklich nicht?

Die dritte Entscheidung kommt vom LG Trier. Über den LG Trier, Beschl. v. 29.08.2019 – 1 Qs 58/19. hat vor einiger Zeit schon der VerkehrsrechtsBlog des Kollegen Gratz berichtet.

Ergangen ist der Beschluss in einem Bußgeldverfahren. Das AG hatte nach Einspruch des Betroffenen Hauptverhandlungstermin bestimmt. Dazu war ein vom Betroffenen benannter Zeuge geladen war. Der hat einige Tage vor dem Termin die Verlegung des Termins beantragt.  Eine Terminsverlegung durch das AG erfolgte nicht. Der Betroffenen ist der Hauptverhandlung fwern geblieben. Das AG hat seinen Einspruch nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Dagegen der Wiedereinsetzungantrag des Betroffenen, der keinen Erfolg hatte.

„Der Beschwerdeführer war am Erscheinen in der Hauptverhandlung nicht unverschuldet verhindert.

Insbesondere genügt allein der von einem Zeugen gestellte Antrag auf Terminsverlegung nicht, um für den Betroffenen die berechtigte Erwartung zu wecken, der Termin werde verlegt und er könne der Hauptverhandlung fernbleiben. Der Beschwerdeführer hätte sich vielmehr vor dem Termin beim Amtsgericht vergewissern müssen, ob der Termin stattfindet oder verlegt wurde. Da keine Um- oder Abladung erfolgte, war der Beschwerdeführer verpflichtet, an der Hauptverhandlung teilzunehmen.

Soweit die Verteidigerin vorträgt, der Betroffene sei der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig und habe keine Kenntnis von den Folgen des unentschuldigten Fernbleibens gehabt, verhilft dies der sofortigen Beschwerde nicht zum Erfolg. Aus dem Grundsatz eines fairen Verfahrens besteht zwar die Verpflichtung, mit dem Bußgeldbescheid eine Übersendung der Rechtsbehelfsbelehrung in der Muttersprache des Betroffenen oder einer ihm sonst verständlichen Sprache mit zu übersenden, jedenfalls wenn der Betroffene nicht anwaltlich vertreten ist. Eine unterbliebene entsprechende ausländische Rechtsmittelbelehrung kann insoweit auch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen. Kann der ausländische Betroffene jedoch dem Bußgeldbescheid entnehmen, dass es sich um ein amtliches Schriftstück mit belastendem Inhalt handelt, und zieht er keine weiteren Erkundigungen bei einem Rechtsanwalt oder bei der Verwaltungsbehörde ein bzw. lässt er das Schriftstück nicht durch einen Dolmetscher übersetzen, trifft ihn ein Verschulden bei der Aufklärung des Inhalts der Verfügung. Gleiches gilt auch für die Terminsladung zum Einspruchstermin. Der Betroffene hatte Kenntnis vom Termin und hätte sich daher bei Gericht darüber erkundigen müssen, ob dieser verlegt worden ist. Soweit er sich nur auf seine Ehefrau verlassen haben will, entschuldigt ihn dies nicht.

Der Betroffene war anwaltlich vertreten und hätte daher jedenfalls bei seinem Verteidiger Rücksprache halten müssen.“

Nun ja: „Der Betroffene war anwaltlich vertreten und hätte daher jedenfalls bei seinem Verteidiger Rücksprache halten müssen.“ – aber doch nur, wenn der Betroffene überhaupt verstanden hat, worum es geht.

Beweiskraft der Zustellungsurkunde, oder: Zustellung am „Wohnort“?

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Die zweite Entscheidung, der OLG Hamm, Beschl. v. 04.02.2020 – 2 RVs 5/20 – nimmt noch einmal zur Frage der Beweiskraft einer Zustellungsurkunde Stellung.

Der Angeklagte ist nach dem Inhalt der bei den Akten befindlichen Postzustellungsurkunde unter der zu der Zeit bekannten Wohnanschrift „pp“ zur Berufungshauptverhandlung durch Einlegen der Ladung in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten oder eine ähnliche Vorrichtung geladen worden. Als der Angeklagte dann in der Hauptverhandlung nicht erschienen war, hat das LG die Berufung des Angeklagten gem. § 329 StPO verworfen. Dagegen die Revision, die Erfolg hatte:

„Die den Anforderungen des § 344 Abs. 2 StPO genügende Verfahrensrüge, eine ordnungsgemäße Ladung zur Berufungshauptverhandlung habe nicht vorgelegen, greift durch.

Auf diese Verfahrensrüge hin hat der Senat im Freibeweis selbstständig zu prüfen, ob der Angeklagte ordnungsgemäß zur Berufungshauptverhandlung geladen worden ist, d. h. ob er dort geladen worden ist, wo er zu der Zeit der Zustellung der Ladung gewohnt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 11.11.1986, MDR 1987, 336).

Im Rahmen dieses Freibeweises kann und muss der Senat alle ihm zugänglichen  Erkenntnisquellen und damit auch Erkenntnisse nach Erlass des angefochtenen Urteils nutzen.

Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse, insbesondere unter Berücksichtigung des Vermerks des Polizeipräsidiums vom 22. Juli 2019 über den Aufenthalt des Angeklagten ist davon auszugehen, dass der Angeklagte am 28. Mai 2019, dem Tag der in Rede stehenden Zustellung der Ladung zur Berufungshauptverhandlung, nicht mehr unter der zu der Zeit bekannten Anschrift „pp.“ gewohnt hat:

Zwar begründet die gemäß den §§ 166-195 der ZPO aufgenommene Zustellungsurkunde nach § 418 ZPO den vollen Beweis der in ihr bezeugten Tatsachen. Danach erstreckt sich die Beweiskraft der Zustellungsurkunde allerdings nicht auch darauf, dass der Zustellungsadressat unter der Zustellungsanschrift tatsächlich wohnt. Die tatsächlichen Voraussetzungen der Wohnung im Sinne der Zustellungsvorschrifien sind von dem Zusteller regelmäßig nicht voll zu überprüfen, so dass seine Erklärung, er habe eine Nachricht über die Niederlegung unter der  Anschrift des Empfängers abgegeben — bzw. hier den Brief in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten eingelegt —, nur ein beweiskräftiges Indiz dafür begründet,  dass der Zustellungsempfänger unter der Zustellungsanschrift wohnt. Dementsprechend kann das Gericht aufgrund der in der Zustellungsurkunde liegenden Beurkundung der Ersatzzustellung im Regelfall davon ausgehen, dass der Zustellungsempfänger unter der darin genannten Anschrift auch tatsächlich  wohnt, es sei denn, diese Indizwirkung wird durch eine substantiierte, plausible und schlüssige Darlegung des Betroffenen entkräftet, wozu die schlichte Behauptung,  unter der Zustellungsanschrift nicht zu wohnen, noch nicht genügt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 05.10.1996, NStZ-RR 1997, 70).

Die Beweiskraft der Postzustellungsurkunde und damit die Indizwirkung, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Zustellung der Ladung am 28.05.2019 noch in pp., gewohnt hat, ist vorliegend entkräftet.

Zur Entkräftung der Indizwirkung muss der Angeklagte nicht stets seinen jetzigen Wohnort offenlegen. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 03.06.1991 (NJW 1992, 224) wird dies nur „in der Regel“ gefordert, wobei sich das Maß der gebotenen Substantiierung im Übrigen nach den Umständen des  Einzelfalles richtet.

Nach einer Gesamtschau der vorliegenden Erkenntnissen bestehe vorliegend bereits ohne Angaben des Angeklagten zu seinem tatsächlichen Wohnort durchgreifende tatsächliche Zweifel daran, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Zustellung der Ladung zur Berufungshauptverhandlung noch unter der zu der Zeit bekannten Anschrift in pp. gewohnt hat.

Nach den Angaben des Bewährungshelfers im Hauptverhandlungstermin ist ein einfacher Brief an den Angeklagten am 17. Mai 2019 als unbekannt an die Bewährungshilfe zurückgesandt worden. Ein Hausbesuch des Bewährungshelfers am 29. Mai 2019 ergab, dass der Nachname des Angeklagten nicht mehr auf den Klingelschildern verzeichnet war. Das angefochtene Urteil konnte dem Angeklagten unter der Anschrift in pp. nicht mehr zugestellt werden. Daraufhin vom Landgericht veranlasste Ermittlungen des Polizeipräsidiums Bochum am 22. Juli 2019 zu dem Aufenthalt des Angeklagten haben ergeben, dass dieser seit Mai 2019 nicht mehr unter der Anschrift „pp.“ wohnhaft ist. Der Polizei ist zudem ausweislich ihres Vermerks durch vorherige Ermittlungen in anderen Verfahren bekannt geworden, dass die Familie angeblich nach pp. verzogen sein soll.“

Im Grunde auch ein „Klassiker“, zumindest aber eine „einfache Aufhebung“ für das OLG 🙂 .

Keine wirksame Zustellung am Flughafen durch die Polizei, oder/aber: Heilung durch Übergabe einer Kopie

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Heute dann mal ein „Zustellungstag“ bzw. ein Tag mit Entscheidungen, die mit Zustellungsfragen und Fristen zusammenhängen.

Und da kommt zunächst der LG Aachen, Beschl. v. 29.10.2019 – 86 Qs 16/19. Es geht um die Wirksamkeit der Zustellung eines Strafbefehls durch die Polizei. Die Entscheidung hatte folgenden Sachverhalt:

„Das Amtsgericht Aachen hat gegen die Angeklagte am 22.08.2018 einen Strafbefehl erlassen. Mehrere Zustellversuche an der Wohnanschrift der Angeklagten in Kelmis/Belgien scheiterten.

Daraufhin regte die Staatsanwaltschaft Aachen mit Verfügung vom 11.06.2019 beim Amtsgericht Aachen an, die polizeiliche Zustellung des Strafbefehls vom 22.08.2018 nach Hinterlegung beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen anzuordnen. Der zuständige Richter beim Amtsgericht verfügte antragsgemäß mit folgendem Wortlaut:

„Die polizeiliche Zustellung nach Hinterlegung des Strafbefehls vom 22.08.2018, Az.: 454 Cs 240/18 beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen wird gemäß § 36 StPO angeordnet.“

Am 16.07.2019 teilte die Bundespolizeiinspektion Flughafen Köln-Bonn mit, der Angeklagten sei im Rahmen einer Ausreisekontrolle des Fluges PC7492 nach Izmir gerade der Strafbefehl gegen Empfangsbestätigung ausgehändigt worden.

Mit Schriftsatz vom 02.08.2019, eingegangen bei Gericht am selben Tag, hat dann der Verteidiger Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt und beantragt, der Angeklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Angeklagte sei nach der Übergabe des Strafbefehls am Flughafen bis zum 02.08.2019 in den Urlaub geflogen. Man habe ihr bei der Übergabe am Flughafen erklärt, dass sie zunächst in den Urlaub fahren könne. Sie habe die Rechtsbehelfsbelehrung:daher erst nach dem Urlaub zur Kenntnis genommen.

Das AG hat den Einspruch gegen den Strafbefehl verworfen und den Wiedereinsetzungsantrag abgelehnt, da der vorgetragene Wiedereinsetzungsgrund nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden sei. Dagegen die Beschwerde, die beim LG keinen Erfolg hatte:

„1. Das Amtsgericht geht in seiner Entscheidung im Ansatz zutreffend davon aus, dass die Einspruchsfrist zum Zeitpunkt der Einlegung des Einspruchs bereits abgelaufen war. Es ist zwar nicht von einer ordnungsgemäßen Zustellung des Einspruchs auszugehen. Der Fehler in der Zustellung wurde jedoch nach §§ 37 Abs. 1 StPO, 189 ZPO durch Übergabe der Kopie des Strafbefehls am 16.07.2019 geheilt.

a) Das Amtsgericht hat die polizeiliche Zustellung des Strafbefehls nach Hinterlegung beim Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen verfügt, da weder eine postalische noch eine diplomatische Zustellung bei der Angeklagten zu bewirken war.

Die dementsprechend verfügte Zustellung durch eine andere Behörde als die Post oder einen Justizbediensteten kann nach §§ 37 Abs. 1 StPO, 168 Abs. 2 ZPO mittels Beauftragung durch den Vorsitzenden des Prozessgerichts erfolgen, wenn eine Zustellung nach §§ 37 Abs. 1 StPO, 168 Abs. 1 ZPO keinen Erfolg verspricht. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Die Ausführung des so erfolgten Zustellauftrages an eine andere Behörde, worunter die ausführende (Bundes-)Polizei fällt, richtet sich nach §§ 37 Abs. 1 StPO, 176 Abs. 1 ZPO. Danach übergibt die Geschäftsstelle das zuzustellende Schriftstück in einem verschlossenen Umschlag sowie ein vorbereitetes Formular einer Zustellungsurkunde. Dieses Erfordernis des verschlossenen Umschlags dient dem Schutz der Persönlichkeitssphäre des Adressaten (vgl. Häublein in Münchener Kommentar zur ZPO, § 176 Rn. 4). Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, ist die Zustellung unwirksam (vgl. Häublein in Münchener Kommentar zur ZPO, § 176 Rn. 4).

Der Akte lässt sich nicht entnehmen, dass der Strafbefehl den vorgenannten Anforderungen an eine ordnungsgemäße Zustellung entsprechend in einem verschlossenen Umschlag übergeben wurde. Es auch nicht davon auszugehen, dass der übergebene Strafbefehl die Anforderungen des §§ 37 Abs. 1 StPO, 169 Abs. 2 ZPO erfüllt. Danach ist das zuzustellende Schriftstück von der Geschäftsstelle zu beglaubigen. Angesichts der Durchführung der hier gewählten „Zustellart“ der polizeilichen Zustellung nach Hinterlegung beim Landeskriminalamt ist nicht davon auszugehen, dass diese gesetzlichen Anforderungen gewahrt sind. Der seitens der Bundespolizeiinspektion Flughafen Köln-Bonn übermittelte Vermerk legt vielmehr nahe, dass der Strafbefehl im dortigen System hinterlegt und entsprechend am Flughafen als einfache Kopie ausgedruckt und übergeben wurde. Eine andere Vorgehensweise erscheint kaum praktikabel.

Diese Vorgehensweise verstößt jedoch gegen die vorgenannten zwingenden Zustellvorschriften. Es ist daher von der Unwirksamkeit der gewählten „Zustellung“ auszugehen.

b) Gleichwohl hat die Angeklagte tatsächlich Kenntnis von dem Strafbefehl durch Übergabe der einfachen Kopie am 16.07.2019 erlangt. Die oben ausgeführte Verletzung der zwingenden Zustellungsvorschriften ist daher nach §§ 37 Abs. 1 StPO, 189 ZPO geheilt.

Danach wird eine wirksame Zustellung fingiert, wenn wegen des tatsächlichen Zugangs des Dokuments der Zweck der Zustellung erreicht ist.

Die für eine solche Heilung erforderliche Zustellabsicht dergestalt, dass die mit der Zustellung verbundene Rechtsfolge gewollt sein muss, liegt vor. Dies ergibt sich aus der Verfügung des zuständigen Richters vom 11.06.2019. Zwar wurde eine in der konkreten Ausführung unwirksame Zustellung verfügt. Gleichwohl ergibt sich aus der oben unter Ziffer I ausgeführten Formulierung, dass nicht bloß eine formlose Übersendung des Strafbefehls beabsichtigt war.

Weitere Voraussetzung einer Heilung ist der tatsächliche Zugang des Dokuments beim Zustellungsadressaten. Dies ist durch die Übergabe am Flughafen am 16.07.2019 erfolgt. Durch die Aushändigung der Kopie hatte die Angeklagte die Möglichkeit, vom Inhalt des Strafbefehls Kenntnis zu nehmen. Für eine Heilung ist es nicht erforderlich, dass das zuzustellende Schriftstück (hier: eine beglaubigte Abschrift des Strafbefehls) tatsächlich zugeht. Vielmehr genügt eine einfache Kopie (vgl. BGH, Teilversäumnis- und Schlussurteil vom 22.12.2015 – VI ZR 79/15, NJW 2016, 1517; OLG Braunschweig, Beschluss vom 07.09.1995 – 2 U 42/92, NJW-RR 1996, 380). Denn dadurch wird der Zweck der Heilung von Zustellungsmängeln, nämlich die tatsächliche Kenntnis vom Inhalt des zuzustellenden Schriftstücks, gleichermaßen erreicht.

Demzufolge begann die zweiwöchige Einspruchsfrist mit der Übergabe der Kopie des Strafbefehls am 16.07.2019 zu laufen und war zum Zeitpunkt der Einspruchseinlegung am 02.08.2019 bereits abgelaufen.

2. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand konnte nicht gewährt werden. Der Wiedereinsetzungsantrag ist unzulässig.

Unabhängig davon, ob das Vorbringen des Verteidigers den inhaltlichen Voraussetzungen der §§ 44, 45 StPO genügt und die vorgebrachten Gründe ausreichend sind für die Begründung eines fehlenden Verschuldens, sind diese nicht hinreichend glaubhaft gemacht.

Die Angeklagte behauptet, ihr sei bei der Übergabe des Strafbefehls erklärt worden, dass sie zunächst in den Urlaub fahren könne. Eine Glaubhaftmachung dieser Behauptung ist dem Wiedereinsetzungsantrag vom 02.08.2019 nicht zu entnehmen. Im Beschwerdeverfahren hat die Angeklagte mit Schriftsatz vom 09.09.2019 eine eidesstattliche Versicherung vom 05.09.2019 eingereicht und ihre Tochter als Zeugin benannt.

Die Tatsachen zur Begründung eines Wiedereinsetzungsantrags sind gemäß § 45 Abs. 2 S. 1 StPO bei der Antragsstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Als Mittel der Glaubhaftmachung kommen alle Mittel, die geeignet sind, die Wahrscheinlichkeit des Vorbringens darzutun, in Betracht. Hierzu zählen etwa eidesstattliche Versicherungen von Zeugen, amtliche Bescheinigungen, ärztliche Zeugnisse oder anwaltliche Versicherungen. Schlichte Erklärungen und eidesstattliche Versicherungen des Antragsstellers selbst reichen grundsätzlich nicht zur Glaubhaftmachung aus (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Auflage 2018, § 45 Rn. 8 f., m.w.N.). Ausnahmsweise kann die eigene Erklärung des Antragstellers dann genügen, wenn ihm eine anderweitige Glaubhaftmachung ohne eigenes Verschulden nicht möglich ist (BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 14.02.1995 – 2 BvR 1950/94, NJW 1995, 2545; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 06.09.1989 – 3 Ws 608/89, NStZ 1990, 149; OLG Koblenz, Beschluss vom 11.03.2014 – 2 Ws 100/14 -, juris).

Für Letzteres bestehen vorliegend indes keinerlei Anhaltspunkte. Insbesondere wäre die Vorlage eidesstattlicher Versicherungen von Zeugen, so der Tochter der Angeklagten, denkbar gewesen. Dies ist jedoch unterblieben. Allein die Benennung eines Zeugen reicht zur Glaubhaftmachung jedenfalls dann nicht aus, wenn nicht gleichzeitig dargetan wird, dieser habe eine schriftliche Bestätigung verweigert, er sei nicht unverzüglich erreichbar oder es handele sich um einen für die Säumnis verantwortlichen Beamten (BGH, Beschluss vom 05.08.2010 – 3 StR 269/10 -, Rn. 4, NStZ-RR 2010, 378; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, Rn. 8). Auch dies ist vorliegend unterblieben.“

Klassiker: Fehlende Einlassung des Angeklagten im Urteil, oder: Unverständlich

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Und als dritte und letzte Entscheidung ein weiterer BGH-Beschluss zur Beweiswürdigung, und zwar der BGH, Beschl. v. 12.12.2019 – 5 StR 444/19. Ein „Klassiker“, nämlich mal wieder fehlende Einlassung des Angeklagten in den Urteilsgründen:

Das LG hat die Angeklagten wegen Diebstahls verurteilt. Dagegen die Revisionen, die mit der Sachrüge Erfolg hatten:

„1. Nach den Feststellungen spähten die Angeklagten zusammen mit weiteren, teils unbekannt gebliebenen Mittätern in wechselnder Beteiligung hochwertige Autos aus, die sie sodann entwendeten. Meist leitete der Angeklagte G. die Planungen der Tatausführung und organisierte die anschließende Überführung der Fahrzeuge. Diese wurden jeweils durch „Schlossziehen“ unberechtigt geöffnet. Sodann wurden sogenannte Schlüsseldummys an die einzelnen Fahrzeuge angelernt, indem mittels eines Computers, der an ihr On-Bord-Diagnosesystem angeschlossen wurde, die Fahrzeugdaten auf die Schlüsseldummys übertragen wurden. In den Fällen 2 bis 5 übernahm der Nichtrevident B. diese Aufgabe. Mit den so erstellten Zweitschlüsseln konnten die Fahrzeuge dann gestartet und von Kurieren in das osteuropäische Ausland gebracht werden, wo sie entweder weiterveräußert wurden oder als „Teilespender“ für andere Fahrzeuge dienten. In Fall 7 unterstützte der Angeklagte S. den Angeklagten G. bei der Tat.

2. Die Revisionen führen bereits mit der Sachrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, so dass es auf die Verfahrensrügen nicht ankommt.

a) Die Beweiswürdigung, aufgrund derer sich das Landgericht die Überzeugung von den Taten verschafft hat, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Sie ist lückenhaft, weil Angaben dazu fehlen, ob und wie sich die Angeklagten G. und S. zu den Tatvorwürfen eingelassen haben (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Dezember 2014 ? 2 StR 403/14, NStZ 2015, 299). Unter sachlich-rechtlichen Gesichtspunkten ist regelmäßig eine Wiedergabe wenigstens der wesentlichen Grundzüge der Einlassung des Angeklagten erforderlich, damit das Revisionsgericht nachprüfen kann, ob sich das Tatgericht unter Berücksichtigung der erhobenen Beweise eine tragfähige Grundlage für seine Überzeugungsbildung verschafft und das materielle Recht richtig angewendet hat (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Mai 1998 – 4 StR 88/98, NStZ-RR 1999, 45).

Den Urteilsgründen lässt sich lediglich entnehmen, dass die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen der Angeklagten auf ihren Angaben und diejenigen zur Sache auf den geständigen Angaben des Nichtrevidenten B. zu seinen eigenen Tatbeiträgen sowie insbesondere Funkzellendaten und Telekommunikationsüberwachung beruhen. Dies lässt aber nicht den Schluss zu, dass die Angeklagten keine Angaben zur Sache gemacht haben.

Auch in Anbetracht der hier gegebenen äußerst schwierigen Beweislage kann ein Beruhen des Urteils auf dem Rechtsfehler nicht ausgeschlossen werden.“

Für mich unverständlich. Irgendjemand muss doch beim Lesen der abgesetzten Urteilsgründe merken, dass entweder die Einlassung der Angeklagten fehlt oder der Satz: „Die Angeklagten haben sich nicht zur Sache eingelassen“. Mehr schreibe ich nicht, sonst heißt es wieder, dass ich pöbele. Aber es ist unverständlich. Hoffentlich nicht nur für mich.

Beweiswürdigung und Verständigung mit Mitangeklagten, oder: Man muss Inhalt und Zustandekommen der Absprache kennen

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Und als zweites Posting des Tages dann etwas vom BGH, und zwar der BGH, Beschl. v. 29.01.2020 – 1 StR 471/19. Thematik: Beweiswürdigung in den Fällen, in denen eine Verständigung eine Rolle spielen kann:

„1. Nach den Feststellungen des Landgerichts hatten der Angeklagte und die Mitangeklagten vereinbart, dem Geschädigten P. im Jugendtreff “ “ in N. bei einem Betäubungsmittelgeschäft über 150 g Marihuana die Betäu- bungsmittel ohne Bezahlung und zudem das von P. üblicherweise in einer Bauchtasche mitgeführte Bargeld wegzunehmen. Im Rahmen der Tatausführung zogen sowohl der Angeklagte als auch der Mitangeklagte C. jeweils ein Messer mit einer Klingenlänge von mindestens 9 cm, um den Tatplan umzusetzen. Nachdem sie P. gewaltsam festgehalten hatten und dabei auch in den Besitz der Bauchtasche mit 700 Euro Bargeld gelangt waren, ergriffen sie – der Angeklagte W. mit der Bauchtasche, der Mitangeklagte C. mit den 150 g Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von 5 % THC – die Flucht. Der Mitangeklagte T. half durch seine Anwesenheit, die Drohwirkung des Auftretens des Mitangeklagten C. und des Angeklagten gegenüber der Gruppe um P. zu ver- stärken.

Nachdem gegen P. und die von ihm benannten Zeugen Ermittlungsverfahren eingeleitet worden waren, machten sowohl P. als auch die zum Tathergang vernommenen Zeugen überwiegend von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO Gebrauch. Vom Tatgeschehen hat sich das Landgericht im Wesentlichen auf der Grundlage der insoweit deckungsgleichen Geständnisse der Mitangeklagten C. , T. und B. überzeugt. Im Hinblick auf deren Angaben hält das Landgericht die Einlassung des Angeklagten, er sei zwar am Tatort anwesend gewesen, habe aber weder selbst ein Messer mit sich geführt noch vom Messer des C. gewusst, für widerlegt. Dem Urteil lag eine Verständigung im Sinne von § 257c StPO mit den Mitangeklagten C. , T. und B. zugrunde, deren Inhalt in den Urteilsgründen nicht mitgeteilt wird (UA S. 4).

2. Die Revision des Angeklagten hat Erfolg; die seinen Tatbeitrag betreffende Beweiswürdigung ist lückenhaft und hält deshalb sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) Sofern Inhalt und Begleitumstände einer Verständigung – wie etwa bei einer Verständigung mit einem Mitangeklagten – für die Beweiswürdigung relevant sein können, ergibt sich die Notwendigkeit einer Berücksichtigung in der Hauptverhandlung stattgefundener Verständigungsgespräche bereits aus § 261 StPO (BGH, Beschluss vom 6. März 2013 – 5 StR 423/12, BGHSt 58, 184 Rn. 14). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss deshalb bei der Verurteilung eines Angeklagten aufgrund von Geständnissen der Mitangeklagten, die Gegenstand einer verfahrensbeendenden Absprache waren, die Glaubhaftigkeit der Geständnisse in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise gewürdigt werden. Dazu gehört insbesondere die Erörterung des Zustandekommens und des Inhalts der Absprache. Nur bei einer Darlegung der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Geständnisses und des Inhalts der Absprache in den Urteilsgründen ist es dem Revisionsgericht möglich, die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben durch den Tatrichter auf Rechtsfehler zu überprüfen, insbesondere ob dem Tatrichter bewusst war, dass sich der geständige Angeklagte durch ein Nichtgeständige zu Unrecht belastendes Geständnis möglicherweise lediglich eigene Vorteile verschaffen wollte (BGH, Beschlüsse vom 15. Januar 2003 – 1 StR 464/02 Rn. 19, BGHSt 48, 161, 168; vom 8. Dezember 2005 – 4 StR 198/05 Rn. 50; vom 6. November 2007 – 1 StR 370/07, BGHSt 52, 78 Rn. 19; vom 6. März 2013 – 5 StR 423/12, BGHSt 58, 184 Rn. 14 f.).

b) Da das angefochtene Urteil lediglich den Umstand einer mit den Mitangeklagten getroffenen Verständigung im Sinne von § 257c StPO nennt, aber weder etwas vom Inhalt der Absprache mit den Mitangeklagten noch zu ihrem Zustandekommen mitteilt (UA S. 4), genügt die Beweiswürdigung den genannten Darlegungsanforderungen nicht und ist daher lückenhaft. Einer näheren Darlegung der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Geständnisse hätte es schon deshalb bedurft, weil die Geständnisse der Mitangeklagten nur im Kerngeschehen übereinstimmend waren, insbesondere hinsichtlich der Verteilung der Beute jedoch voneinander abwichen (UA S. 15 f.).

Soweit die Revision beanstandet, der sich nicht aus den Urteilsgründen ergebende Umstand, dass die Verständigung mit den Mitangeklagten für den Fall eines Geständnisses jeweils Jugendstrafen mit Strafaussetzung zur Bewährung beinhaltete, sei im Rahmen der Beweiswürdigung nicht erörtert worden, liegt darin eine verfahrensrechtlich zulässig gerügte Verletzung des § 261 StPO in Form einer Inbegriffsrüge (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 6. März 2013 – 5 StR 423/12, BGHSt 58, 184 Rn. 14 f.), die aus den genannten Gründen ebenfalls durchgreifen würde.

c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Urteil zum Nachteil des Angeklagten auf der fehlerhaften Beweiswürdigung beruht. Zwar hat der Angeklagte hinsichtlich seiner Tatbeteiligung ein Teilgeständnis abgelegt. Jedoch hat das Landgericht die Überzeugung von der Verwendung eines Messers durch den Angeklagten, die dieser in Abrede gestellt hat, im Wesentlichen auf die Angaben der Mitangeklagten gestützt. Sowohl den Schuldspruch des besonders schweren Raubes (§ 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB) als auch denjenigen des Sichverschaffens von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mit Waffen (§ 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG) hat das Landgericht mit dem Messereinsatz des Angeklagten begründet. Soweit das Landgericht seine Überzeugung von der Verwendung eines Messers ergänzend auch auf die Angaben des Geschädigten P. bei seiner Anzeigeerstat- tung gestützt hat, kann dies ein Beruhen des Urteils auf der lückenhaften Beweiswürdigung nicht ausschließen. Denn nach den Feststellungen des Landgerichts hatte P. , der in der Hauptverhandlung von seinem Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO Gebrauch machte, bei der Anzeigeerstattung den Sachverhalt teilweise falsch dargestellt und – um sein eigenes Betäubungsmitteldelikt zu verschleiern – zudem verheimlicht, dass die Täter von ihm auch Drogen erbeutet hatten (UA S. 3 f.).