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StPO I: Wo ist nach Zustellung das Verteidiger-EB?, oder: Akte nach Einsichtnahme „dankend zurückgereicht“

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Heute mache ich zur Wochenmitte einen „Zustellungstag“, also StPO-Entscheidungen, die sich mit mit der Wirksamkeit einer Zustellung befassen.

Ich beginne mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 14.09.2022 – 1 OLG 53 Ss-OWi 394/22. Folgender Ablauf: Das AG verurteilt die Betroffene am 13. April 2022 wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße. Gegen das Urteil hat die Betroffene mit einem bei Gericht am 19.04.2022 angebrachten Anwaltsschriftsatz Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gestellt.  Das mit Gründen versehene schriftliche Urteil gelangte am 10.05.2022 zu den Akten. Am selben Tag verfügte der Bußgeldrichter die förmliche Zustellung des Urteils sowohl an die Betroffene als auch an deren Verteidiger, dessen Vollmachtsurkunde sich bei den Akten befindet. Ausweislich des Vermerks der Geschäftsstelle wurde die Verfügung noch am 10.05.2022 ausgeführt. Die Zustellung an die Betroffene, die zunächst erfolglos blieb, erfolgte ausweislich der Postzustellungsurkunde schließlich am 19.05.2022; ein Nachweis hinsichtlich der Zustellung an den Verteidiger befindet sich nicht bei den Akten.

Zugleich mit der Verfügung vom 10.05. 2022 wurde dem Verteidiger Akteneinsicht gewährt. Mit Anwaltsschriftsatz vom 13.05.2022 wurde die Akte „nach erfolgter Einsichtnahme dankend zurückgereicht“; am 23. Mai 2022 ist die Akte wieder bei Gericht eingegangen (Bl. 102 R, 103 d.A.).

Das AG hat dann mit Beschluss vom 23.06.2022 den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß § 346 Abs. 1 StPO iVm. § 80 Abs. 3, Abs. 4 OWiG als unzulässig verworfen, da das Rechtsmittel nicht gemäß innerhalb der Monatsfrist des § 345 Abs. 1, 2 StPO iVm. § 79 Abs. 3, 80 Abs. 3, Abs. 4 OWiG begründet worden sei.

Dagegen der Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts und der Wiedereinsetzungsantrag. Beides hatte keinen Erfolg:

„a) Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 346 Abs. 2 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 2 OWiG ist form- und fristgerecht eingelegt worden.

In der Sache hat der Rechtsbehelf jedoch keinen Erfolg.

aa) Die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde beträgt nach § 345 Abs. 1 Satz 2 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG einen Monat ab Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe.

Im vorliegenden Fall wurde das Urteil des Amtsgerichts Zossen vom 13. April 2022 der Betroffenen am 19. Mai 2022 wirksam förmlich zugestellt. Die Zustellungsurkunde weist dies gem. § 1 BrbVwZG iVm. §§2, 3 BrbVwZG und §182 ZPO nach. Sie ist eine öffentliche Urkunde gem. §415 ZPO, die volle Beweiskraft gem. §418 ZPO entfaltet. Soweit nach §415 Abs.2 ZPO der Nachweis der Unrichtigkeit der durch zu Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen möglich ist, ist ein solcher Nachweis nicht geführt worden. Auch erfolgte die Zustellung auf Anordnung des Gerichtsvorsitzenden (§ 36 Abs.1 S.1 StPO iVm. §71 OWiG). Mithin endete die Frist zur Begründung des Zulassungsantrags bzw. der Rechtsbeschwerde gemäß § 43 Abs. 1, 2 StPO iVm. § 71 OWiG mit Ablauf des 20. Juni 2022, da der 19. Juni 2022 auf einen Sonntag fiel. Eine Begründungsschrift ist bisher nicht bei Gericht eingegangen, so dass das Amtsgericht Zossen zutreffend den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde mit Beschluss vom 23. Juni 2022 als unzulässig verworfen hat.

bb) Der Umstand, dass das Empfangsbekenntnis des Verteidigers nicht zu der Akte gelangt ist, wobei jedoch die förmliche Zustellung an den Verteidiger richterlich verfügt, auch ausgeführt wurde, kann im vorliegenden Fall nicht den Antrag nach § 346 Abs. 2 StPO iVm. § 79 Abs. 3, 80 Abs. 3, Abs. 4 OWiG auf Aufhebung des Verwerfungsbeschlusses begründen. Denn ausweislich der richterlichen Verfügung vom 10. Mai 2022 wurde dem Verteidiger der Betroffenen zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die schriftlichen Urteilsgründe bereits bei der Akte befanden, Akteneinsicht für die Dauer von 3 Tagen gewährt (Bl. 102 d.A.). Mit Anwaltsschriftsatz vom 13. Mai 2022 wurde – wie oben dargelegt – die Akte „nach erfolgter Einsichtnahme dankend zurückgereicht“; am 23. Mai 2022 ist die Akte wieder bei Gericht eingegangen. Mithin hatte der Verteidiger noch vor der Betroffenen Kenntnis von dem schriftlichen Urteil. Wenn die Akte mit dem schriftlichen Urteil nach Akteneinsicht, „nach erfolgter Einsichtnahme“, durch den Verteidiger dem Gericht zurückgereicht wird, kann sich die Betroffene bzw. deren Verteidiger nicht darauf berufen, dass sich das Empfangsbekenntnis nicht bei den Akten befindet; dies wäre rechtsmissbräuchlich.

cc) Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch, dass eine förmliche Zustellung des Urteils vom 13. April 2022 an die Betroffene erfolgt ist.

Zwar hatte der Verteidiger der Betroffenen bereits im Verwaltungsverfahren eine Vollmachtsurkunde zu den Akten gereicht, so dass er gemäß §145a Abs.1 StPO iVm. §71 OWiG (Nr. 154 Abs. 1 RiStBV) als ermächtigt gilt, Zustellungen im Empfang zu nehmen. Von daher wäre das Bußgeldgericht gehalten gewesen, vor Erlass des Verwerfungsbeschlusses das Empfangsbekenntnis als Zustellungsnachweis einzufordern. Die Vorschrift des §145a Abs.1 StPO ist jedoch eine bloße Ordnungsvorschrift und begründet keine Rechtspflicht, Zustellungen für die Betroffene an deren Verteidiger zu bewirken (allgemeine Ansicht, statt vieler: vgl. KG, Beschluss vom 27. November 2020, (5) 161 Ss 155/20 (47/20), in: StraFo 2021, 69 ff.; OLG Hamm, Beschluss vom 8. Mai 2007, 4 Ws 210/07; siehe auch Senatsbeschluss vom 19. September 2019, (1 B) 53 Ss-OWi 438/19 (266/19), zit. n. juris, dort Rn 18). Daher sind auch an die Betroffene vorgenommenen Zustellungen wirksam und setzen Rechtsmittelfristen sowohl hinsichtlich der Einlegung als auch hinsichtlich der Begründung in Gang (vgl. BVerfG NJW 2001, 2532; BGHSt 18, 352, 354; BayObLG VRS 76, 307; OLG Düsseldorf NStZ 1989, 88; OLG Frankfurt StV 1986, 288; OLG Karlsruhe VRS 105, 348; OLG Köln VRS 101, 373; KG a.a.O.; Senatsbeschluss a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 145a Rn 6). Wenn aber schon die unterlassene förmliche Zustellung des Urteils an den Verteidiger im vorliegenden Fall nicht maßgeblich sein kann, muss dies erst Recht für die unterlassene Anforderung des Empfangsbekenntnisses gelten. Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als der Verteidiger – wie oben ausgeführt – infolge der gewährten Akteneinsicht spätestens am 13. Mai 2022 Kenntnis von dem angefochtenen Urteil hatte, mag auch die bloße Aktenübersendung die Rechtsmittelfrist nicht in Gang gesetzt haben (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 19. September 2019, (1 B) 53 Ss-OWi 438/19 (266/19), zit. n. juris, dort Rn 15), sondern die Zustellung an die Betroffene.

Der Zulassungsantrag bzw. die Rechtsbeschwerde ist daher unzulässig, weil sie verfristet und nicht formgerecht begründet worden ist. Mithin hat das Amtsgericht das Rechtsmittel zu Recht nach § 346 Abs. 1 StPO iVm. § 79 Abs. 3 OWiG verworfen.

b) Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung des Zulassungsantrags bzw. der Rechtsbeschwerde ist zurückzuweisen. Weder die Betroffene noch deren Verteidiger waren gemäß § 44 StPO iVm. § 46 OWiG „ohne Verschulden“ gehindert, die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde einzuhalten; der Betroffenen wurde das Urteil vom 13. April 2022 förmlich zugestellt, der Verteidiger hatte infolge gewährter Akteneinsicht Kenntnis von dem angefochtenen Urteil. Überdies ist innerhalb der Antragsfrist des § 45 Abs. 1 StPO iVm. § 46 OWiG die versäumte Handlung nicht nachgeholt worden, denn infolge der Einsichtnahme in die Akten wäre es dem Verteidiger der Betroffenen möglich gewesen, das Rechtsmittel mit Anträgen zu versehen und zu begründen.“

Bewährung III: Rechtliches Gehör vor Widerruf, oder: Wenn die Anhörung vor der Entscheidung unterbleibt….

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Und als dritte Entscheidung zu Bewährungsfragen dann etwas Verfahrensrechtliches, nämlich zur Frage der Zustellung der Ladung zur mündlichen Anhörung und zur Frage der Folgen, wenn diese unterbleibt. Dazu verhält sich der LG Itzehoe, Beschl. v. 15.10.2021 – 2 Qs 183/21, von dem ich hier nur die Leitsätze einstelle, nämlich:

  1. Wird eine sofortige Beschwerde durch das Beschwerdegericht für begründet erachtet, so erlässt es nach § 309 Abs. 2 StPO im Regelfall zugleich die in der Sache erforderliche Entscheidung. Die Zurückverweisung einer Rechtssache an das erstinstanzliche Gericht kommt nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen in Betracht.

  2. Die nach § 453 Abs. 1 Satz 4 StPO vorgeschriebene Gewährung rechtlichen Gehörs durch mündliche Anhörung ist vor einem Bewährungswwiderruf zwingend. Ist sie unterblieben ist, leide die Widerrufsentscheidung an einem Verfahrensfehler.

Den Beschluss hat mir übrigens die Kollegin A. Hirsch aus Hamburg geschickt, die in den Neuauflagen meiner Handbücher, die jetzt bald vorliegen, einer meiner neuen „Mitstreiteri“ ist.

StPO III: Wirksamkeit der Zustellung des Strafbefehls, oder: Beim Ausländer nur mit Übersetzung

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Und zum Schluss des Tages dann noch zwei Entscheidungen aus dem Strafbefehlsverfahren. Es geht um die dort immer wieder anzutreffende Problematik der wirksamen Zustellung des Strafbefehls bei einem der deutschen Sprache nicht mächtigen Angeklagten. Die Frage, die sich hier immer stellt, wenn ggf. die Einspruchsfrist versäumt worden ist: War die Zustellung des Strafbefehls wirksam oder war sie unwirksam mit der Folge, dass die Einspruchsfrist noch nicht zu laufen begonnen hat, weil dem Angeklagten nicht auch eine Übersetzung des Strafbefehls in seiner Muttersprache zugestellt worden ist.

Das LG Göttingen und das AG Bremen sagen – wie die wohl h.M.: Bei einem nicht der deutschen Sprache mächtigen Beschuldigten bedarf es zwingend der Übersendung einer Übersetzung des Strafbefehls um die Einspruchsfrist in Gang zu.

Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den LG Göttingen, Beschl. v. 25.10.2021 – 2 Qs 70/21 – und auf den AG Bremen, Beschl. v. 21.10.2021- 93 Cs 349/18. Der AG-Beschluss ist auch wegen der Pflichtverteidigerbestellung von Bedeutung.

Zustellung/Wiedereinsetzung II: ZU-Bevollmächtigter, oder: Einspruch/Postlaufzeit aus dem EU-Ausland

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In der zweiten Entscheidung, dem LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 23.08.2021 – 12 Qs 57/21 – geht es um die Wirksamkeit der Zustellung eines Strafbefehls an einen polnischen Staatsbürger mit Wohnsitz Polen.  Der Strafbefehl samt Übersetzung in die polnische Sprache wurde am 03.03.2021 an den vom Angeklagten benannten Zustellungsbevollmächtigten, einen PHK , zugestellt. Der Angeklagte selbst erhielt den Strafbefehl am 05.03.2021. Mit Schreiben vom 17.03., beim AG eingegangen am 23.03.2021, legte der Angeklagte Einspruch gegen den Strafbefehl ein. Noch am selben Tag verwarf das AG den Einspruch als unzulässig, weil verspätet. Die Einspruchsfrist sei am 17.03. um 24.00 Uhr abgelaufen.

Zum 01.04.2021 trat der PHK in den Ruhestand. Am 15.04.2021 wurde die an ihn adressierte polnische Übersetzung des Verwerfungsbeschlusses an PHM zugestellt. Das AG gewährte keine Wiedereinsetzung und hat der sofortigen Beschwerde auch nicht abgeholfen.

Das LG Nürnberg-Fürth hat die sofortige Beschwerde als begründet angesehen. Es nimmt in seinem beschluss zur Wirksamkeit der Zustellung Stellung, wenn der zustellungsbevollmächtigte Polizeibeamte vor Zugang in den Ruhestand tritt und sein Nachfolger das Schriftstück entgegennimmt. Insoweit bitte selbst lesen.

Zum Wiedereinsetzungsantrag führt es aus:

„Die sofortige Beschwerde ist auch begründet. Dem Angeklagten ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da er ohne sein Verschulden an der Einhaltung der zweiwöchigen Frist zur Einlegung des Einspruchs gegen den Strafbefehl gehindert war (§ 44 Satz 1 StPO).

a) Der Angeklagte hat die Einspruchsfrist versäumt. Er gibt in seinem Einspruchsreiben vom 17. März 2021 selbst an, den Strafbefehl am 5. März 2021 erhalten zu haben. Das ist zwar mit der von der Kammer eingeholten Auskunft der Polizeiinspektion F. kaum zu vereinbaren, wonach PHK P. den Strafbefehl am 5. März 2021 zur Post an den Angeklagten gegeben habe. Es ist aber mangels besserer Erkenntnis von der Kammer so hinzunehmen. Damit ist der beim Amtsgericht Fürth erst am 23. März 2021 eingegangene Einspruch verfristet.

b) Diese Verspätung war aber nicht verschuldet i.S.d. § 44 Satz 1 StPO. Gemäß der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2015 – C-216/14, juris Rn. 52 ff.) ist der in einem anderen Mitgliedstaat wohnende Adressat eines Strafbefehls bei Zustellungsbevollmächtigung so zu stellen, dass ihm die volle Frist für den Einspruch zur Verfügung steht, gegebenenfalls durch die Gewährung einer Wiedereinsetzung (EuGH, Urteil vom 22. März 2017 – C-124/16 u.a., juris Rn. 51). Nachdem der Angeklagte den Strafbefehl am 5. März 2021 erhalten hatte, konnte er grundsätzlich bis zum 19. März 2021 den Einspruch einlegen. Das ist zwar nicht geschehen, gleichwohl war dem Angeklagten nach Lage des Falles Wiedereinsetzung zu gewähren.

aa) Sein fehlendes Verschulden kann der Angeklagte allerdings nicht darauf stützen, dass er von einer unzutreffenden Rechtslage ausging. Er berief sich darauf, dass nach dem Recht seines Heimatlandes die rechtzeitige Aufgabe eines Schriftstücks bei der Post die Frist wahre. Entsprechend dieser Vorstellung habe er sich auch verhalten, indem er seinen Einspruch am 17. März 2021 bei der polnischen Post aufgegeben habe. Tatsächlich gilt nach Art. 124 der polnischen Strafprozessordnung die Frist als gewahrt, wenn das Schriftstück vor dem Ablauf der Frist bei einem Postdienstleister aufgegeben worden ist, der Zustellungen auf dem Gebiet der Europäischen Union vornimmt. Hier lag dem Strafbefehl aber ausweislich der Zustellungsurkunde eine polnische Übersetzung der Rechtsbehelfsbelehrung bei, aus der sich ausdrücklich ergibt, dass die Frist nur als gewahrt gilt, wenn der Einspruch vor Fristablauf bei Gericht eingeht. In einer solchen Situation kann sich ein Beschuldigter nicht mit Erfolg auf abweichende Regelungen in seiner heimatlichen Rechtsordnung berufen.

bb) Die Wiedereinsetzung war aber zur Vermeidung einer europarechtlich unzulässigen Diskriminierung zu gewähren.

(1) Ein inländischer Beschuldigter darf für die Einlegung des Einspruchs auf die normalen Postlaufzeiten vertrauen (BVerfG, Beschluss vom 16. Dezember 1975 – 2 BvR 854/75, juris Rn. 9; OLG Koblenz Beschluss vom 25. März 1983 – 1 Ws 182/83, wistra 1983, 206; KG, Beschluss vom 30. August 2000 – 1 AR 1002/003 Ws 397/00, juris Rn. 3). Nach eigener Angabe der Deutschen Post ist sie in der Lage, 90 % aller nationalen Briefsendungen bereits einen Werktag nach der Einlieferung beim Empfänger auszuliefern (https://www.deutschepost.de/de/q/qualitaet_gelb.html). Hätte der Angeklagte seinen Einspruch daher am 17. März 2021 im Inland bei der Post aufgegeben, hätte er mit einem Eingang bei Gericht bis 19. März 2021 rechnen dürfen. Eine im Betriebsablauf der Post etwa aufgetretene Verzögerung wäre ihm nach der zitierten Rechtsprechung nicht im Sinne eines Verschuldens zuzurechnen.

(2) Dem Angeklagten gereicht es nicht zum Verschulden, dass er den Einspruch am 17. März 2021 im Ausland zur Post aufgegeben hat und er deshalb zu spät bei Gericht einging.

Es wird zwar vertreten, dass bei der Aufgabe der Post im (EU-)Ausland die längere Postlaufzeit vom Absender einkalkuliert werden müsste (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20. März 2008 – III-2 Ws 48/08, juris Rn. 1). Die Kammer teilt diese Auffassung für die gegebene Konstellation indes nicht, weil sie höherrangigen Wertungen widerspricht. Der Europäische Gerichtshof stützt nämlich die Notwendigkeit, einem im Ausland wohnenden Beschuldigten die volle Zweiwochenfrist für den Einspruch zu gewähren auch auf das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot (EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020 – C-615/18, NJW 2020, 1873 Rn. 50), wonach der im EU-Ausland Wohnende nicht schlechter stehen dürfe als ein Inländer. Legt man das zugrunde, so darf die Differenz der Zeiträume zwischen den Postlaufzeiten im Inland einerseits und vom EU-Ausland ins Inland andererseits dem Beschuldigten nicht schaden. Sähe man das anders und müsste ein Beschuldigter den Einspruch im EU-Ausland so rechtzeitig absenden, dass er noch binnen der Zweiwochenfrist beim deutschen Gericht ankommt, hätte er die vom Europäischen Gerichtshof geforderten vollen zwei Wochen Einspruchsfrist nicht zur Verfügung. Die möglichen Postlaufzeiten sind durchaus erheblich. So wird die gewöhnliche Postlaufzeit einer als prioritär eingestuften Briefsendung von Polen nach Deutschland bis zum dritten Werktag nach dem Tag ihrer Aufgabe angegeben (https://www.poczta-polska.pl/paczki-i-listy/przesylki-zagraniczne/listy/list-polecony/). Auch der Europäische Gerichtshof rechnet mit erheblichen Postlaufzeiten innerhalb der Union (zusätzliche pauschale Entfernungsfrist von zehn Tagen gem. Art. 51 VerfO EuGH). Das kann bei der Wiedereinsetzung nicht unberücksichtigt bleiben.“

Zustellung/Wiedereinsetzung I: Zustellung wirksam?, oder: Ein anderer unterschreibt für Pflichti das EB

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Urheber Fotografie: Frank C. Müller, Baden-Baden

Heute stelle ich dann drei Entscheidungen zur Zustellung bzw. zur Wiedereinsetzung vor.

Zunächst kommt hier der BGH, Beschl. v. 11.08.2021 – 3 StR 118/21. Das LG hat den sden Angeklagten mit Urteil vom 30.11.2020 freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Gegen das Urteil hat der Pflichtverteidiger binnen Wochenfrist Revision eingelegt. Jenem hat der Strafkammervorsitzende alsdann das schriftliche Urteil zustellen lassen. Anstelle des urlaubsabwesenden Verteidigers hat jedoch am 21.12.2020 einer seiner Kollegen das Empfangsbekenntnis unterschrieben.

Mit Beschluss vom 25.01.2021 hat das LG

die Revision des Angeklagten mangels fristgerechter Begründung verworfen. Diese Entscheidung hat den Verteidiger am 02.02.2021 erreicht. Erst dadurch hat er vom zuvor ergangenen Urteil – so im Original beim BGH – Kenntnis erlangt. Mit am 09.02.2021 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz hat er im Namen des Angeklagten  Wiedereinsetzung in den vorigen Stand betreffend die Frist zur Revisionsbegründung beantragt und die „allgemeine Sach- und Verfahrensrüge“ erhoben.

Der BGH hat den Wiedereinsetzungsantrag ist gemäß § 300 StPO in einen Antrag auf Aufhebung des Verwerfungsbeschlusses vom 25.01.2021 (§ 346 Abs. 2 Satz 1 StPO) umgedeutet, der Erfolg hatte:

„1. Der Verwerfungsbeschluss erweist sich als rechtsfehlerhaft. Mangels wirksamer Zustellung des Urteils hat die Revisionsbegründungsfrist des § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht am 21. Dezember 2020 zu laufen begonnen (§ 345 Abs. 1 Satz 2 StPO). Denn eine Zustellung ist grundsätzlich nicht ordnungsgemäß bewirkt, wenn anstelle des Pflichtverteidigers eine andere Person das Empfangsbekenntnis unterschreibt (BGH, Beschlüsse vom 12. April 1988 – 4 StR 105/88, BGHR StPO § 37 Abs. 1 Pflichtverteidiger 1; vom 28. April 2005 – 4 StR 21/05, BeckRS 2005, 6315; vom 12. Februar 2014 – 1 StR 601/13, NStZ-RR 2014, 149; OLG Köln, Beschluss vom 19. Juni 2018 – 1 RVs 129/18, juris Rn. 1; MüKoStPO/Knauer/Kudlich, § 345 Rn. 17 mwN; KK-StPO/Gericke, 8. Aufl., § 345 Rn. 5; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 37 Rn. 19).

Eine Ausnahme hiervon liegt nicht vor. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass der Unterzeichner des Empfangsbekenntnisses, ein Fachanwalt für Arbeitsrecht und wie der Verteidiger nur angestellter Rechtsanwalt in der Kanzlei, gemäß § 53 BRAO als Vertreter eingesetzt war und als solcher aufgetreten ist, sind nicht ersichtlich. Es kann deshalb dahinstehen, ob und unter welchen Voraussetzungen die Vertretung eines Pflichtverteidigers bei der Bewirkung von Zustellungen überhaupt möglich ist (zur Vertretung bei der Revisionseinlegung s. BGH, Beschlüsse vom 29. November 2018 – 5 StR 410/18, juris; vom 22. August 2001 – 1 StR 354/01, BGHR StPO § 346 Abs. 1 Form 2; vom 5. Februar 1992 – 5 StR 673/91, NStZ 1992, 248).“