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StPO III: Wirksamkeit der Strafbefehls-Zustellung, oder: Gambier kann nur Englisch, kaum Deutschkenntnisse

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Und als dritte Entscheidung des Tages habe ich dann noch den AG Singen, Beschl. v. 10.10.2025 – 5 Cs 50 Js 14422/22 jug. – zur wirksamen Zustellung – eines Strafbefehls – bei einem Angeklagten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist. Das ist eine Frage, die ja immer wieder eine Rolle spielt.

Das AG ist von einer nicht wirksam Zustellung ausgegangen. Der Angeklagte war gambischer Staatsangehöriger. Seine Muttersprache war Englisch. Gegen ihn hat das AG einen Strafbefehl erlassen, der ihm zugestellt wurde, ohne dass eine Übersetzung des Strafbefehls angefertigt und zugestellt worden war.

Der Angeklagte hatte im Jahr 2022 einen Sprachkurs der Stufe A 1 besucht . Diesen schloss er nicht erfolgreich ab. Bei der Testung am Ende des Sprachkurses erzielte der Angeklagte ein Ergebnis von 6 %, war also deutlich nicht in der Lage vertraute, alltägliche Ausdrücke und ganz einfache Sätze in deutscher Sprache zu verstehen und zu verwenden, die auf die Befriedigung konkrete Bedürfnisse abzielen. Unter wurde vermerkt, der Angeklagte sei Analphabet und der Meinung, dass er nicht schreiben und lesen lernen könne. Eine Legasthenie stand im Raum.

Die Verteidigerin des Angeklagten hat in dessen Namen Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Das AG hat die Unwirksamkeit der Zustellung festgestellt:

„Die Zustellung ist unwirksam. Die Vorgaben des § 37 Abs. 3 S. 1 StPO wurden nicht eingehalten. Diese gelten sowohl für Urteile als auch für Strafbefehle (BeckOK StPO/Larcher § 37 Rn. 45 ff. mwN). Die Vorschrift ist europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass die Zustellung von Strafbefehlen nur wirksam ist, wenn der des Deutschen nicht mächtige Angeklagte eine Übersetzung in seiner Landessprache erhält.

Nach dem Urteil des EuGH vom 12.10.2017 in der Rechtssache C 278/16 (Sleutjes) ist Artikel 3 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen im Strafverfahren dahin auszulegen, dass ein Rechtsakt wie ein im nationalen Recht vorgesehener Strafbefehl zur Sanktionierung von minder schweren Straftaten, der von einem Richter nach einem vereinfachten, nicht kontradiktorischen Verfahren erlassen wird, eine „wesentliche Unterlage“ im Sinne des Absatzes 1 dieses Artikels darstellt, von der verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des betreffenden Verfahrens nicht verstehen, gemäß den von dieser Bestimmung aufgestellten Formerfordernissen eine schriftliche Übersetzung erhalten müssen, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, um so ein faires Verfahren zu gewährleisten (AG Syke, Beschluss vom 20. Dezember 2018 – 7 Cs 408 Js 52322/17 (149/18) –, juris Rn. 2).

Ob der Angeklagte die deutsche Sprache spricht, ist im Freibeweisverfahren festzustellen, nachdem es sich um eine prozessuale Tatsache handelt. Der Angeklagte spricht kein Deutsch und ist nicht in der Lage, schriftlich in deutscher Sprache zu kommunizieren. Aus As. 63 f. im Verfahren 5 Cs 25 Js 8193/22 jug. wird ersichtlich, dass er sich jedes Mal dann, wenn der Angeklagte mit den Strafverfolgungsbehörden schriftlich kommunizierte, der Hilfe Dritter bedient hat. Er selbst hat die an die Strafvollzugsbehörde gerichteten Schreiben nicht verfasst. Dazu war er angesichts seiner nicht einmal dem Grad A1 entsprechenden Sprachkenntnisse nicht in der Lage. Dementsprechend hätte der Strafbefehl durch einen Dolmetscher gemäß § 187 Abs. 1 und 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes übersetzt werden müssen.

Dies führt nach zutreffender ganz herrschender Auffassung zur Unwirksamkeit der Zustellung. Gegenteilige Auffassung wurden durch die Landgerichte Ravensburg (BeckRS 2015, 10958) und Stuttgart (BeckRS 2016, 18857) bisher nur vor der Entscheidung des europäischen Gerichtshofs vertreten. Dementgegen erachtete das Oberlandesgericht Karlsruhe bereits vor Entscheidung des europäischen Gerichtshofs eine Zustellung ohne Beifügung der Übersetzung für unwirksam (BeckRS 2017, 102231). Dem haben sich nach Entscheidung des europäischen Gerichtshofs alle veröffentlichten Entscheidungen angeschlossen (LG Heilbronn BeckRS 2020, 56063; LG Stade BeckRS 2020, 36784; LG Nürnberg-Fürth BeckRS 2020, 17408; LG Aachen BeckRS 2017, 142962; vgl. auch BGH NJW 2020, 2041 Rn. 8). Auch in der Literatur wird soweit ersichtlich keine abweichende Auffassung (mehr) vertreten.“

Zustellung III: Wirksamkeit der Zustellung (im Vollzug), oder: Verhandlungsfähigkeit des Empfängers?

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Und dann noch zum Tagesschluss der BayObLG, Beschl. v. 17.10.2024 – 203 StObWs 441/24 – zur Wirksamkeit der Zustellung – im Strafvollzug -, wenn der Zustellungsempfänger unter Betreuung steht.

Dazu das BayObLG:

„Der Senat hat gegen die Wirksamkeit der Zustellung des Beschlusses vom 2. August 2024 an den Beschwerdeführer keine Bedenken. Für das Strafverfahren ist anerkannt, dass Voraussetzung für die Wirksamkeit der Zustellung alleine ist, dass der Empfänger verhandlungsfähig ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Oktober 2020 – 2 BvR 554/20-, juris Rn. 35 m.w.N.). Es besteht kein Anlass, für die Frage der Wirksamkeit der Zustellung im Strafvollzugsverfahren einen anderen Maßstab anzulegen. Dass der Antragsteller zur Zeit der Zustellung für den Aufgabenkreis „Umgang mit Behörden“ unter Betreuung stand, steht daher dem Fristenlauf für die Einlegung der Rechtsbeschwerde nicht entgegen.“

Zustellung II: Wirksamkeit einer Ersatzzustellung, oder: Verkleben der Briefkastenklappe mit Silikon

entnommen wikimedia.org Urheber: Sarang

Der zweite Beschluss zur Zustellung stammt mit dem OLG Karlsruhe, Beschl. v. 10.10.2024 – 19 U 87/23 – aus dem Zivilrecht. Die Ausführungen des OLG passen aber auch für andere Verfahrensarten.

Das OLG führt zur Wirksamkeit einer Ersatzzustellung durch Einlegung in den Briefkasten in dem nach § 522 Abs. 2 ZPO ergangenen Beschluss aus:

2. Der Vollstreckungsbescheid ist im Wege der Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten (§ 180 Satz 1 ZPO) wirksam zugestellt worden.

a) Nach den erstinstanzlich getroffenen Feststellungen, welche von der Berufung nicht in Zweifel gezogen werden, handelt es sich bei der Adresse M.-Str. 8 in O., unter welcher die Zustellung bewirkt wurde, nicht nur um den privaten Wohnsitz des Geschäftsführers der Beklagten, sondern auch um die – bei einer GmbH obligatorisch im Handelsregister einzutragende (vgl. BeckOGK/Bayer/J. Schmidt, 15.05.2024, GmbHG § 35 Rn. 186) – Geschäftsanschrift der Rechtsmittelführerin.

Wie sich aus § 35 Abs. 2 Satz 3 GmbHG ergibt, können an die Vertreter einer solchen Kapitalgesellschaft unter deren im Handelsregister eingetragenen Geschäftsanschrift Willenserklärungen abgegeben und Schriftstücke für die Gesellschaft zugestellt werden. Hierbei handelt es sich um eine unwiderlegliche gesetzliche Vermutung, dass die Vertreter der GmbH stets und jederzeit unter dieser Geschäftsadresse erreichbar sind (vgl. BeckOGK/Bayer/J. Schmidt, aaO, mwN).

Die abweichenden Ausführungen der Berufungsführerin sind ersichtlich von Rechtsirrtum beeinflusst. Entgegen deren Auffassung kommt es insbesondere nicht darauf an, dass kein besonderer mit dem Namen der Gesellschaft versehener Postbriefkasten angebracht war.

b) Dass der Vollstreckungsbescheid die Geschäftsadresse der Beklagten tatsächlich erreicht hat – darauf erstreckt sich die vorbezeichnete gesetzliche Vermutung nicht (vgl. BeckOGK/Bayer/J. Schmidt, aaO, § 35 Rn. 189 mwN) – wird auch vom Rechtsmittelführer nicht in Abrede gestellt; abgesehen davon wird dies durch den Inhalt der Zustellungsurkunde, der die Beweiskraft des § 418 ZPO zukommt, belegt.

c) Ferner muss von einer ordnungsgemäßen Ersatzzustellung des Vollstreckungsbescheids durch Einlegen in den – mit dem Nachnamen des Geschäftsführers der Beklagten beschrifteten – Briefkasten, der an der Geschäftsanschrift der Rechtsmittelführerin angebracht war, nach § 180 ZPO ausgegangen werden.

Zwar fehlt es an einem zur Wohnung oder zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten im Sinne der vorgenannten Bestimmung, wenn dieser überquillt, zugeklebt ist oder sich sonst in einem nicht ordnungsgemäßen Zustand befindet, aus dem erkennbar wird, dass er nicht benutzt wird (vgl. Zöller/Schultzky, ZPO, 35. Auflage 2024, § 180 Rn. 5 mwN). Eine derartige Feststellung lässt sich aber nicht treffen: Soweit die Beklagte geltend macht, ihr Geschäftsführer habe den Briefkasten mit Silikon verklebt (gehabt), steht dieser Darstellung gerade entgegen, dass ihrem eigenen Vorbringen zufolge gleichwohl das zugestellte Schriftstück in den Briefkasten hat eingelegt werden können.

Außerdem vermag sie keinen – nach § 418 Abs. 2 ZPO ihr obliegenden – Beweis dafür anzutreten, dass der Briefkasten zum Zeitpunkt der Zustellung unzugänglich oder zur sicheren Aufnahme von Schriftstücken ungeeignet gewesen wäre. Für die von der Berufung beantragte Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis dafür, dass der „extrem starke Verschluss … der Briefkastenklappe mit Silikon … nur mittels erheblichster Krafteinwirkung auf die Briefkasteneinwurfklappe“ habe überwunden werden können, bleibt kein Raum. Denn es fehlt an Anknüpfungstatsachen, welche den – angeblichen – Ausgangszustand, der auch nach Darstellung der Beklagten mittlerweile nicht mehr vorliegt, und die konkrete Ausführung der behaupteten Maßnahme belegen könnten.

3. Die Beklagte konnte auch nicht ohne Verschulden (§ 233 Satz 1 ZPO) annehmen, dass Zustellungen in den mit dem Namen ihres Geschäftsführers gekennzeichneten Postbriefkasten an ihrer Geschäftsanschrift nicht erfolgen werden. Dem Wiedereinsetzungsgesuch der Berufungsführerin kann – unabhängig von den zutreffenden Erwägungen, welche das Landgericht diesbezüglich angestellt hat – schon deshalb nicht entsprochen werden, weil ihre diesbezügliche Darstellung im Rahmen tatrichterlicher Würdigung nicht als wahrscheinlich im Sinne der §§ 294, 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO eingestuft werden kann, auch wenn die Beklagte eine entsprechende eidesstattliche Versicherung ihres Geschäftsführers vorgelegt hat. Insbesondere folgende Umstände wecken daran erhebliche Zweifel:

a) Gerade in Anbetracht der in der eidesstattlichen Versicherung ihres Geschäftsführers enthaltenen Angaben („Alle Briefe für die T. GmbH wurden und werden von den Postzustellern regelmäßig immer in das von T. GmbH angemietete Postfach Nummer 13 in O. eingelegt. Es hat sich auch eingespielt, daß private Post von A. W. in das Postfach Nummer 13 gelegt wurde und gelegt wird.“) leuchtet nicht ein, weshalb an dem – angeblich nicht mehr benötigten und daher gänzlich überflüssig gewordenen – Briefkasten, sieht man schon von einer Demontage desselben ab, im Zuge des behaupteten Verklebens der Einwurf-Klappe nicht auch das Namensschild entfernt worden war, was unter den behaupteten Umständen auf der Hand gelegen hätte und mit keinerlei Aufwand verbunden gewesen wäre.

b) Zu Recht hebt die Klägerin in ihrer Berufungsantwort hervor, hätte die Beklagte ein Postfach angemietet, wäre zu erwarten gewesen, dass sich wenigstens auf deren Homepage (www.pp.de) ein diesbezüglicher Hinweis finden lasse, was aber nicht der Fall ist.

4. Unabhängig davon wäre das Vorbringen der Berufungsführerin – auch wenn man ihm Glauben schenken würde – nicht geeignet, ihr Verschulden an der Versäumung der Einspruchsfrist entfallen zu lassen. Denn ihrem Geschäftsführer fällt, unterstellt man – was aus den oben aufgezeigten Gründen abzulehnen ist – ihr Vorbringen als wahr, insoweit zumindest eine Nachlässigkeit zur Last, die sie sich zurechnen lassen muss.

Dass der Briefkasten jedenfalls bis Mitte Dezember 2022 als Empfangsvorrichtung zumindest für private Post ihres Geschäftsführers genutzt worden war, steht außer Frage. Sollte dieser Mitte Dezember 2022 Bemühungen unternommen haben, die Einwurf-Klappe des Briefkastens mit Silikon zu verkleben, wäre er in Anbetracht dessen, dass das Namensschild nicht entfernt wurde – damit wurde Außenstehenden gegenüber zumindest der visuelle Anschein erzeugt, dass dieser, wie zuvor, weiterhin als Empfangsvorrichtung dienen sollte – gehalten gewesen, die Haltbarkeit und den Erfolg seiner diesbezüglichen Anstrengungen regelmäßig zu überprüfen, was die Beklagte aber selbst nicht einmal behauptet. Abgesehen davon, dass allein schon witterungsbedingte Einflüsse zu einer erheblichen Lockerung der behaupteten – von einem Fachmann nicht überprüften – Festigkeit der (ursprünglichen) Klebeverbindung beigetragen haben können, ist nicht auszuschließen, dass ein Zusteller unter Aufbietung einer gewissen Kraftentfaltung die Klappe öffnete, weil er eine bloße Schwergängigkeit derselben vermutete und für ihn – insbesondere wegen des angebrachten Namensschildes und in Ermangelung sonstiger Hinweise – auch nicht die unter diesen Umständen fernliegende Intention des Wohnungsinhabers erkennbar war, dass der Briefkasten auf diese Weise außer Betrieb gesetzt werden sollte.“

StPO III: Immer wieder Zustellungsproblematik, oder: Vollmacht, ZU-Bevollmächtigter, Ersatzzustellung

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Und dann zum Tagesschluss ein paar Entscheidungen, die sich bei mir zu Zustellungsfragen angesammelt haben. Die haben ja in der Praxis eine nicht unerhebliche Bedeutung. Hier sind dann – jeweils nur die Leitsätze – leider sind die Entscheidungen zum Teil schon etwas älter:

Die Heilung eines Zustellungsmangels durch den tatsächlichen Zugang des zuzustellenden Schriftstücks gemäß § 189 ZPO i.V.m. § 37 Abs. 1 StPO setzt voraus, dass eine Zustellung vom Gericht beabsichtigt war, diese muss folglich angeordnet worden sein.

Gemäß der Entscheidung des EuGH vom 22.04.2017, Az.C-124/16, C-188/16 und C-213/16, C-124/16, C-188/16, C-213/16, sind die Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aufgrund des Art. 6 der Richtlinie 2012/13 richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass in einem Fall, in dem ein Beschuldigter keinen festen Wohnsitz hat und daher einen Zustellungsbevollmächtigten benennt, und an diesen dann ein Strafbefehl zugestellt wird, in dem Moment, in dem der Beschuldigte vom Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erlangt, durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand über die volle Einspruchsfrist verfügen können muss.

1. Die nach § 43 StPO zu berechnende, zweiwöchige Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl beginnt ausweislich des § 410 Abs. 1 Satz 1 StPO mit dessen Zustellung. Für die Ausführung der Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde gelten nach § 37 Abs. 1 StPO Vorschriften der Zivilprozessordnung entsprechend.

2. Bei der Verpflichtung des Zustellers bei Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gemäß § 180 Satz 3 ZPO, das Datum der Zustellung auf dem Umschlag des zuzustellenden Schriftstücks zu vermerken, handelt es sich um eine zwingende Zustellungsvorschrift im Sinne des § 189 ZPO mit der Folge, dass das Schriftstück bei einer Verletzung dieser Vorschrift erst mit dem tatsächlichen Zugang als zugestellt gilt.

Die Zustellung an den Wahlverteidiger ist unwirksam, wenn dessen Bevollmächtigung nicht gemäß § 145a Abs. 1 StPO nachgewiesen ist. Die anwaltliche Versicherung ordnungsgemäßer Bevollmächtigung ist hierfür nicht ausreichend.

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Zustellung I: Hauptverhandlungsprotokoll fertig?, oder: Zustellung vor Fertigstellung?

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eute am Donnerstag gibt es dann drei Entscheidungen zu Zustellungsfragen, also StPO. Die Entscheidungen stammen aus dem Straf- und dem Bußgeldverfahren.

Den Opener macht der OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 18.10.2023 – 7 ORs 37/23. Es geht um die Auslegung eines Rechtsmittels und eben um die Frage der Wirksamkeit einer Zustellung.

Das AG hat einen Strafbefehl gegen den Angeklagten erlassen. Zu der auf Einspruch des Angeklagten anberaumten Hauptverhandlung erschien der Angeklagte nicht. Das AG hat den Einspruch gegen den Strafbefehl verworfen. Das Verwerfungsurteil vom 24.04.2023 wurde dem Angeklagten am 17.062023 zugestellt.

Hiergegen legte der Angeklagte mit am 22.06.2023 eingegangenen Schreiben „der Ordnung halber, um Ihre rechtlichen Voraussetzungen zu erfüllen und gleichsam keine Fristen zu versäumen […] Revision“ ein. Das AG hat das Rechtsmittel als Sprungrevision gemäß § 335 Abs. 1 StPO gewertet und nach Anhörung des Angeklagten die Revision nach Ablauf der in § 345 Abs. 1 StPO vorgesehenen Revisionsbegründungsfrist mit Beschluss vom 09.082023 als unzulässig verworfen. Gegen den Beschluss legte der Angeklagte nach Zustellung „Widerspruch/Einspruch oder dergleichen“ ein. Das Rechtsmittel hatte Erfolg.

Das OLG sieht den vom Angeklagten eingelegten „Widerspruch/Einspruch oder dergleichen“ gemäß § 300 StPO als Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 StPO an. Der sei zulässig und auch begründet.

Zu dem Rechtsmittel des Angeklagten führt das OLG aus, dass es nicht als Revision, sondern als Berufung anzusehen sei. Insoweit bitte im Volltext lesen. Dazu hier nur der Leitsatz:

Der Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 StPO ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Das gemäß § 346 Abs. 2 S. 1 StPO angerufene Revisionsgericht hat auch zu prüfen, ob das Rechtsmittel überhaupt als Revision anzusehen ist. Eine Auslegung der Rechtsmittelerklärung ist veranlasst, wenn mehrere Rechtsmittel zulässig sind und unklar bleibt, welches eingelegt werden soll. Das Rechtsmittel ist so zu deuten, dass der erstrebte Erfolg möglichst erreichbar ist; im Zweifel gilt das Rechtsmittel als eingelegt, das die umfassendere Nachprüfung erlaubt.

Und zur Wirksamkeit der Zustellung heißt es:

„2. Das als Berufung zu qualifizierende Rechtsmittel gegen das Verwerfungsurteil des Amtsgerichts Hanau vom 24. April 2023 ist auch bereits wirksam eingelegt, obschon dieses Urteil bislang nicht wirksam zugestellt und damit die Rechtsmittelfrist noch nicht in Gang gesetzt wurde.

Eine wirksame Zustellung eines Urteils setzt gemäß der zwingenden Verfahrensvorschrift des § 273 Abs. 4 StPO die vorherige Fertigstellung des Protokolls voraus (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Februar 2013 – 4 StR 246/12 = NStZ 2014, 420, 41; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 273 Rn 34). Die Fertigstellung des Protokolls erfolgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu dem Zeitpunkt, zu dem die letzte der für die Beurkundung des gesamten Protokollinhalts erforderlichen Unterschriften geleistet wurde (BGH Beschluss vom 13. Februar 2013 – 4 StR 246/12, a.a.O., m.w.N.). Der Tag der Fertigstellung muss nach § 271 Abs. 1 S. 2 StPO im Protokoll vermerkt oder auf sonstige Weise aktenkundig gemacht werden. Das in der Praxis übliche Vorgehen, den Fertigstellungstag unter dem Protokoll anzubringen, war ausweislich des in dem Protokoll enthaltenen Passus „Das Protokoll wurde fertiggestellt am:“, auch im vorliegenden Fall angelegt. Allerdings fehlt es an dieser Stelle an einer Eintragung des maßgeblichen Datums, das sich auch nicht aus anderen Umständen ergibt, wie etwa dem ausdrücklich in § 271 Abs. 1 S. 2 StPO vorgesehenen Vermerk oder auch der Übersendung des Protokolls an den Angeklagten (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 15. September 1969 – AnwSt (B) 2/69 = NJW 1970, 105 f.). Eine Anfertigung eines Vermerks betreffend den Zeitpunkt der Fertigstellung im Wege einer dienstlichen Stellungnahme der Vorsitzenden und der Protokollführerin ist aus Gründen der Rechtssicherheit nach der bereits tatsächlich erfolgten Zustellung nicht mehr möglich, um Unsicherheiten über die Wirksamkeit der Zustellung des Urteils und den hiervon abhängigen Fristenlauf zu verhindern; in diesem Fall muss die Zustellung – nachdem die Fertigstellung aktenkundig gemacht wurde – erneut veranlasst werden.

Die bislang fehlende Zustellung des Urteils steht der Zulässigkeit des Rechtsmittels indes nicht entgegen. Ein Rechtsmittel kann eingelegt werden, wenn und sobald die angefochtene Entscheidung ergangen ist; nicht erforderlich ist, dass der Rechtsmittelführer Kenntnis von dem Erlass der Entscheidung hatte (vgl. BeckOK-Cirener StPO, 49. Edition, Stand: 1. Oktober 2023, § 296 Rn 5). Allerdings steht es dem Angeklagten frei, nach der wirksamen Zustellung des Verwerfungsurteils vom 24. April 2023 und der damit (erstmals) in Gang gesetzten Rechtsmittelfrist, einen Wechsel von dem Rechtsmittel der Berufung hin zu dem Rechtsmittel der Revision zu erklären (vgl. LG Freiburg, Beschluss vom 3. März 2021 – 2/20 7 Ns 680 Js 39626/15). Hiervon wäre – aus den oben dargelegten Gründen – indes nur im Falle einer zweifelsfreien Erklärung auszugehen, wobei dem Angeklagten bewusst sein muss, dass – anders als im Falle der Berufung – eine Revision binnen Monatsfrist nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels zu begründen ist und dies nur durch eigene Erklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle bzw. einen von einem Rechtsanwalt einzureichenden Schriftsatz geschehen kann (vgl. § 345 Abs. 1 StPO).“