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Pflichti I: Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers, oder: Voraussetzungen und Ermessen des Vorsitzenden

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Und heute dann drei „Pflichti-Entscheidungen, also weniger als sonst 🙂 .

Zunächst kommt hier der OLG Naumburg, Beschl. v. 04.10.2024 – 1 Ws 424/24 – in dem das OLG noch einmal zu den Voraussetzungen für die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers Stellung nimmt.

Der Angeklagte ist im ersten Rechtsgang durch das Urteil des LG Magdeburg vom 12.12.2022 vom Vorwurf der gemeinschaftlich mit einem Mitangeklagten  begangenen versuchten Anstiftung zu einem Mord freigesprochen worden. Der BGH hat das das Urteil mit den Feststellungen aufgehoben und zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LG zurückverwiesen.

Bereits am 02.12.2021 war dem Angeklagten Rechtsanwalt G. als Pflichtverteidiger bestellt worden. Im April 2024 bestimmte die Vorsitzende der nunmehr zuständigen Schwurgerichtskammer – zehn Hauptverhandlungstermine vom 10.09.2024 bis zum 26.11.2024. Weitere drei Hauptverhandlungstermine bis zum 20.12.2024 blieben vorbehalten.

Mit Schreiben seines Verteidigers Rechtsanwalt G. vom 26.07.2024 beantragte der Angeklagte, ihm Rechtsanwalt S. als weiteren Pflichtverteidiger zu bestellen. Der wurde mit Beschluss vom 03.09.2024 bestellt. Dagegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer sofortigen Beschwerde, die keinen Erfolg hatte.

Das OLG referiert zunächst noch einmal die Grundsätze der obergerichtlichen Rechtsprechung zu Bestellung eines weiteren Verteidigers gem. § 144 Abs. 1 StPO. Es stellt sowohl die Voraussetzungen für die Bestellung als auch den im Beschwerdeverfahren nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum des entscheidenden Vorsitzenden vor. Das ist nichts Neues, so dass ich auf den verlinkten Volltext verweisen kann.

Zur konkreten Sache heißt es dann:

„3. Daran gemessen ist der angefochtene Beschluss nicht zu beanstanden.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO liegt vor. Auch ist weder ersichtlich, dass die Kammervorsitzende von einem falschen Sachverhalt als Entscheidungsgrundlage ausgegangen ist, noch dass sie die maßgeblichen Tatbestandsmerkmale des § 144 Abs. 1 StPO fehlerhaft angewendet hat oder sich von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen.

Die Vorsitzende hat bei ihrer Entscheidung auf die Ankündigung des bisherigen alleinigen Pflichtverteidigers in den Schriftsätzen vom 26. Juli 2024 und vom 13. August 2024 abgestellt, es seien Beweisanträge in einem solchen Umfang zu erwarten, dass zu befürchten sei, dass die bisher anberaumten und vorbehaltenen Hauptverhandlungstermine nicht ausreichend seien. Zudem hat sie zugrunde gelegt, dass der Pflichtverteidiger gerichtsbekannt in einer Vielzahl weiterer Verfahren tätig ist. Dies hatte dieser in den genannten Schriftsätzen ebenfalls mitgeteilt, verbunden mit der Ankündigung, dass es wegen seiner Einbindung in anderweitigen Strafverfahren bei der Bestimmung weiterer Hauptverhandlungstermine zu erheblichen Schwierigkeiten kommen könne.

Damit ist die Kammervorsitzende ersichtlich von der konkreten Gefahr ausgegangen, dass aus der laufenden Hauptverhandlung heraus nach dem 20. Dezember 2024 weitere Hauptverhandlungstermine anberaumt werden müssen, an denen der bisher alleinige Pflichtverteidiger jedoch aufgrund umfangreicher Terminskollisionen nicht teilnehmen kann. Da bereits jetzt Zeugen bis zum neunten Hauptverhandlungstag geladen sind und der Pflichtverteidiger umfangreiche Beweisanträge angekündigt und zudem eingeschätzt hat, dass aufgrund seiner – gerichtsbekannten – Einbindung in eine Vielzahl von Strafverfahren seine Teilnahme an weiteren anzuberaumenden Hauptverhandlungsterminen fraglich ist, vermag der Senat in der Bewertung der Kammervorsitzenden, der spätere Ausfall des Pflichtverteidigers sei über eine abstrakt-theoretische Möglichkeit hinaus hinreichend wahrscheinlich, keinen Beurteilungsfehler zu erkennen.

Auch die – sich schlüssig aus der Begründung des angefochtenen Beschlusses ergebende – Bewertung der Kammervorsitzenden, die sachgerechte Verteidigung könne im Fall einer Verhinderung des Pflichtverteidigers nicht durch andere Maßnahmen gewährleistet werden, lässt einen durchgreifenden Beurteilungsfehler nicht erkennen. Angesichts der nach der Einschätzung der Kammervorsitzenden drohenden weitgreifenden Verhinderung des Pflichtverteidigers erschiene der Verweis auf die Bestellung eines Vertreters für einzelne Hauptverhandlungstage nicht sachgerecht. Der Umfang und die Schwierigkeit der Sache – wenn sie auch für sich genommen die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nach § 144 Abs. 1 StPO nicht rechtfertigt – lassen angesichts des damit verbundenen Einarbeitungsaufwandes auch die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erst im Zeitpunkt der tatsächlichen Verhinderung des bisherigen Pflichtverteidigers nicht ohne Weiteres ausreichend erscheinen.

Die Beurteilung der Kammervorsitzenden, es bestehe hier angesichts der Mitteilungen des Pflichtverteidigers vom 26. Juli 2024 und vom 13. August 2024 eine konkrete Gefahr für die zügige Durchführung eines ordnungsgemäß betriebenen Verfahrens, die die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers erfordert, ist damit vertretbar. Darauf, ob der Senat bei eigener Abwägung zu dem gleichen Ergebnis gekommen wäre, kommt es wegen der – wie dargelegt – eingeschränkten Prüfungskompetenz im Beschwerdeverfahren nicht an.

Auf der Grundlage dessen vermag der Senat im Rahmen der zu prüfenden Rechtsfolgeentscheidung – dies betrifft insbesondere den Umfang der Verteidigerbestellung – ebenfalls keinen Rechtsfehler bei der tatgerichtlichen Ermessensausübung zu erkennen. Auch insoweit kommt es nicht darauf an, ob der Senat eine gleichlautende Entscheidung getroffen hätte.“

StPO II: Einiges Neues zu Pflichtverteidigerfragen, oder: Zweiter Verteidiger, Entpflichtung, Wechselfrist, Grund

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Im zweiten Posting dann einige Entscheidungen zur Pflichtverteidigung (§§ 140 ff. StPO). Es hat sich aber seit dem letzten Posting zu der Porblematik nicht so viel angesammelt, dass es für einen ganzen Tag reicht. Also gibt es ein Sammelposting, allerdings nur mit den Leitsätzen:

1. Das Rechtsmittelgericht nimmt bei der Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers durch das erkennende Gericht keine eigenständige Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO vor und übt kein eigenes Ermessen auf der Rechtsfolgenseite aus, sondern kontrolliert die angefochtene Entscheidung lediglich im Rahmen einer Vertretbarkeitsprüfung dahin, ob der Vorsitzende seinen Beurteilungsspielraum und die Grenzen seines Entscheidungsermessens überschritten hat.

2. Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers (§ 144 StPO) ist lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall ist nur anzunehmen, wenn hierfür – etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache – ein unabweisbares Bedürfnis besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten sowie einen ordnungsgemäßen und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechenden Verfahrensverlauf zu gewährleisten.

    1. Einem bereits verteidigten Angeklagten ist auch bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung kein Pflichtverteidiger beizuordnen.
    2. Abweichend von dem Grundsatz, dass das Beschwerdegericht an die Stelle des Erstgerichts tritt und eine eigene Sachentscheidung trifft, gilt für die Prüfung der Bestellung eines weiteren Verteidigers nach § 144 StPO, dass dem Vorsitzenden des Gerichts ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum zusteht.
    3. Zur Ausübung des Ermessens durch den Vorsitzenden des bzw. das Erstgericht.
    1. Die Voraussetzung, unter denen wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Bestellung eines Verteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO notwendig ist, kann bei sprachbedingten Verständigungsschwierigkeiten eher als erfüllt angesehen werden, als dies sonst der Fall ist.
    2. Zur Komplexität der Rechtslage bezüglich des Vorwurfs eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit dem Vorwurf des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§§ 113 Abs. 1, 114 Abs. 1 StGB) im Zusammenhang mit einem polizeilichen Einschreiten aufgrund des Filmens des Polizeieinsatzes.

Der Beginn der Frist für den Antrag auf einen Pflichtverteidigerwechsel nach § 143a Abs. 2 Nr. 1 StPO setzt voraus, dass der Beschuldigte auf die Frist bzw. die Möglichkeit der Auswechslung des Verteidigers hingewiesen worden ist.

 

Pflichti III: Störung des Vertrauensverhältnisses, oder: Anhörungspflicht bei Pflichtverteidigerbestellung

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Und zum Tagesschluss dann noch zwei Entscheidungen, und zwar einmal Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung wegen Störung des Vertrauensverhältnisses und zum Verfahen bei der Bestellung eines (weiteren) Pflichtverteidiger, nämlich.

Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist nach § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO aufzuheben, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört ist oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist. Voraussetzung für die Aufhebung einer Beiordnung ist, dass konkrete Umstände vorgetragen werden, aus denen sich der endgültige Fortfall der für ein Zusammenwirken zu Verteidigungszwecken notwendigen Grundlage ergibt. Eine ernsthafte Störung des Vertrauensverhältnisses muss der Angeklagte substantiiert darlegen. Pauschale, nicht näher belegte Vorwürfe rechtfertigen eine Entpflichtung nicht.

Bei § 142 Abs. 5 Satz 1 StPO, wonach dem Beschuldigten vor der Bestellung eines (weiteren) Pflichtverteidigers rechtliches Gehör zu gewähren ist, handelt es sich um eine zwingende Vorschrift.

Pflichti II: Aufhebung der „Pflichti-Zweitbestellung“, oder: Auswahlrecht des Beschuldigten

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Die zweite Entscheidung des Tages, der OLG Saarbrücken, Beschl. v. 01.09.2022 – 4 Ws 268/22, passt ganz gut zu dem vorhin vorgestellten BGH, Beschl. v. 25.08.2022 – StB 35/22 (vgl. dazu Pflichti I: BGH zu Aufhebung der Zweitbestellung, oder: Zweitbestellung nicht zur „Verhinderungsentlastung“). Denn das OLG hat Stellung genommen zum Verfahren bei der Aufhebung der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers. Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Gegen den Angeklagten ist bei einer Wirtschaftsstrafkammer des LG ein umfangreiches Verfahren wegen vorsätzlichen gemeinschaftlichen unerlaubten Handeltreibens mit Dopingmitteln in über 1.000 Fällen, jeweils in Tateinheit mit Inverkehrbringen von bedenklichen verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, anhängig. Mit Beschluss vom 13.7.2022 bestellte der Vorsitzende der Wirtschaftsstrafkammer Rechtsanwalt M. zusätzlich zu dem bereits bestellten Pflichtverteidiger Rechtsanwalt S. als weiteren Pflichtverteidiger, da dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens erforderlich sei, nachdem der bisherige Pflichtverteidiger mitgeteilt hatte, an zwei der anberaumten Hauptbehandlungstermine verhindert zu sein.

Nach Durchführung mehrerer Hauptverhandlungstermine teilte der Vorsitzende der Staatsanwaltschaft, den beiden Pflichtverteidigern und dem inhaftierten Angeklagten mit, dass das Gericht beabsichtige, die Bestellung von Rechtsanwalt M. als zusätzlichem Verteidiger gemäß § 144 Abs. 2 StPO aufzuheben und räumte eine Frist zur Stellungnahme bis zum 08.08.2022, 12 Uhr ein. Nachdem beide Pflichtverteidiger jeweils mit am 08.08.2022 eingegangenem Schriftsatz Stellung genommen und sich gegen die Entpflichtung ausgesprochen hatten, hob der Vorsitzende die Bestellung von Rechtsanwalt M. als zusätzlichem Pflichtverteidiger mit Beschluss vom 09.08.2022 gemäß § 144 Abs. 2 StPO auf. In dem Beschluss wird insbesondere ausgeführt, dass bei Aufhebung der Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers der zuletzt bestellte Rechtsanwalt zu entpflichten sei. Die Stellungnahme des Angeklagten vom 08.08.2022 ging am 09.08.2022 – laut Vermerk des Vorsitzenden erst nach der Entscheidung über die Aufhebung der Bestellung – bei Gericht ein. In der Stellungnahme machte der Angeklagte geltend, dass er von Rechtsanwalt M. erfahren habe, dass dieser entpflichtet werden solle, das Anhörungsschreiben des Gerichts sei ihm selbst erst am Abend des 08.08.2022 zugegangen. Er widersprach der Entpflichtung und begründete dies im Wesentlichen damit, dass Rechtsanwalt S. im Gegensatz zu Rechtsanwalt M. nicht an allen Verhandlungstagen anwesend gewesen sei und dass zwischen ihm und Rechtsanwalt M. ein starkes Vertrauensverhältnis bestünde. Es sei ihm völlig unverständlich, warum er seinen Pflichtverteidiger nicht aussuchen könne. Wenn das Gericht einen der beiden Pflichtverteidiger entpflichten wolle, bitte er um Entpflichtung von Rechtsanwalt S.

Gegen den dem Aufhebungsbeschluss legte der Angeklagte sofortige Beschwerde ein. Das Rechtsmittel hatte Erfolg:

„Die zulässige sofortige Beschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses des Vorsitzenden.

Gemäß § 144 Abs. 2 S. 1 StPO ist die Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers aufzuheben, sobald seine Mitwirkung zur zügigen Durchführung des Verfahrens nicht mehr erforderlich ist. Gemäß § 144 Abs. 2 S. 2 StPO gilt § 142 Abs. 5 bis 7 S.1 StPO entsprechend.

Nach § 142 Abs. 5 S. 1 StPO ist dem Beschuldigten vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers Gelegenheit zu geben, innerhalb einer zu bestimmenden Frist einen Verteidiger zu bezeichnen. Nach Abs. 5 S. 3 ist der von dem Beschuldigten innerhalb der Frist bezeichnete Verteidiger zu bestellen, wenn dem kein wichtiger Grund entgegensteht, wobei ein wichtiger Grund auch vorliegt, wenn der Verteidiger nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung steht.

Im Fall der Aufhebung der Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers nach § 144 Abs. 2 S. 1 StPO kann dies bei entsprechender Anwendung des § 142 Abs. 5 StPO nur bedeuten, dass der Beschuldigte im Hinblick darauf anzuhören ist, welcher der Pflichtverteidiger ihn fortan verteidigen soll, und dass der durch den Beschuldigten bezeichnete Verteidiger gerade nicht entpflichtet werden kann, sofern kein wichtiger Grund dies ausnahmeweise gebietet.

Nach Auffassung des Senats gilt die Verweisungsregelung wegen ihrer eindeutigen systematischen Stellung – jedenfalls auch – für die Fälle des Absatzes 2. Etwas anderes folgt weder aus den Gesetzesmaterialen (BT-Drs. 19/13829, 49 f.) noch aus der durch die Generalstaatsanwaltschaft zitierten Kommentierung (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage, § 144 Rn. 10), da beide Quellen sich zu der Frage der in Absatz 2 geregelten Aufhebung der Bestellung nicht verhalten. Soweit der Vorsitzende der Wirtschaftsstrafkammer II ausweislich der Beschlussbegründung aus dem Wortlaut des § 144 Abs. 2 S. 1 StPO schlussfolgert, dass der zuletzt bestellte Pflichtverteidiger zu entpflichten ist, steht dies im Widerspruch zu der Regelung der §§ 144 Abs. 2 S. 2, 142 Abs. 5 S. 1 StPO, die dem Angeklagten ein Bezeichnungsrecht einräumt. Auch in der Sache ist kein Grund ersichtlich, weshalb zwingend der zuletzt bestellte Pflichtverteidiger entpflichtet werden muss, wenn das besondere Bedürfnis für die Mitwirkung eines weiteren Verteidigers zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens nachträglich weggefallen ist, insbesondere ist die Aufgabe eines zweiten Pflichtverteidigers nicht allein auf die Verfahrenssicherung beschränkt. Vielmehr muss er in gleicher Weise die sachgerechte Verteidigung des Angeklagten gewährleisten, wie der zuerst bestellte Pflichtverteidiger (OLG Hamm, NStZ 2011, 235, m. w. N.).

Die Entscheidung des Vorsitzenden entspricht daher nicht den Vorgaben der §§ 144 Abs. 2 S. 2, 142 Abs. 5 S. 1 und S. 3 StPO hinsichtlich des vor der Entscheidung einzuhaltenden Verfahrens. Zwar hat der Vorsitzende veranlasst, dass sich der Angeklagte zur beabsichtigten Entpflichtung von Rechtsanwalt M. äußern kann, faktisch hatte der Angeklagte jedoch keine Möglichkeit hierzu, da ihn das Schreiben des Gerichts erst am Abend des 08. August 2022 – also nach Fristablauf – erreicht hatte und seine Stellungahme dem Vorsitzenden nicht im Zeitpunkt der Entscheidung über die Entpflichtung vorlag. Darüber hinaus wurde dem Angeklagten auch nicht die Gelegenheit gegeben, von seinem Bezeichnungsrecht nach §§ 144 Abs. 2 S. 2, 142 Abs. 5 S. 1 StPO Gebrauch zu machen und den Pflichtverteidiger zu benennen, von dem er weiterhin verteidigt werden möchte. Anders als nach früherer Rechtslage hat die Anhörung zur Bezeichnung des Verteidigers grundsätzlich zwingend zu erfolgen (Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., § 142 Rn. 32; BeckOK-StPO, 44. Edition, Stand: 01. Juli 2022, § 142 Rn. 17)….. „

Pflichti I: BGH zu Aufhebung der Zweitbestellung, oder: Zweitbestellung nicht zur „Verhinderungsentlastung“

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Es haben sich mal wieder Entscheidungen zu Pflichtverteidigungsfragen (§§ 140 ff. StPO) angesammelt. Also gibt es heute einen Pflichti-Tag.

In den starte ich mit dem BGH, Beschl. v. 25.08.2022 – StB 35/22 – zur Aufhebung der Bestellung des zweiten Pflichtverteidigers und Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers.

Folgender Sachverhalt: Beim OLG Düsseldorf ist gegen den Angeklagten ein Verfahren wegen des Vorwurfs der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland und der Begehung weiterer Delikte anhängig. Zum Pflichtverteidiger des seit dem 12.04.2022 in Untersuchungshaft befindlichen Angeklagten hatte der Ermittlungsrichter des BGH Rechtsanwalt K. bestimmt. Nachdem sich im Rahmen der Terminierung herausgestellt hatte, dass Rechtsanwalt K. lediglich an sieben der vom OLG vorgesehenen fünfzehn Hauptverhandlungstermine verfügbar ist, hat der Vorsitzende Rechtsanwalt K. entpflichtet und Rechtsanwalt Ka. zum Pflichtverteidiger bestellt. Zugleich hat er es abgelehnt, dem Angeklagten einen weiteren Pflichtverteidiger beizuordnen. Gegen diese Entscheidungen richtet sich die sofortige Beschwerde des Angeklagten. Sie hatte keinen Erfolg:

„1. Der Vorsitzende des Strafsenats hat Rechtsanwalt K. zu Recht entpflichtet.

a) Nach § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alternative 2 StPO ist die Bestellung des Pflichtverteidigers unter anderem dann aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist. Der Gesetzgeber hat damit einen in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannten Fall des Verteidigerwechsels normiert, der auf dem Gedanken der Sicherung einer sachgerechten Verteidigung beruht und bei dem es auf den Willen des Beschuldigten nicht ankommt (vgl. BT-Drucks. 19/13829 S. 48; LR/Jahn, StPO, 27. Aufl., § 143a Rn. 38 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 143a Rn. 24; krit. BeckOK StPO/Krawczyk, 44. Ed., § 143a Rn. 34; abl. Böhm, StV 2021, 196, 198 ff.). Insofern kann für die Frage, wann im Einzelnen das Fehlen einer angemessenen Verteidigung zu besorgen ist, auf die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Februar 2020 – StB 4/20, BGHR StPO § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Aufhebung 2 Rn. 6, 7 unter Verweis auf BT-Drucks. 19/13829 S. 48). Danach kommt nicht nur bei groben Pflichtverletzungen die Auswechslung eines beigeordneten Pflichtverteidigers in Betracht, sondern auch, wenn dieser aufgrund äußerlich veranlasster, von seinem Willen unabhängigen Umständen außerstande ist, eine angemessene Verteidigung des Angeklagten zu gewährleisten (vgl. HansOLG Hamburg, Beschluss vom 29. April 2021 – 2 Ws 36/21, juris Rn. 23). Denn der Zweck der Pflichtverteidigung besteht sowohl darin, dem Angeklagten (soweit gemäß § 140 StPO notwendig) rechtskundigen Beistand zu gewährleisten, als auch den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu sichern (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. April 1975 – 2 BvR 207/75, BVerfGE 39, 238, 242).

In diesem Sinne steht die Verhinderung des Verteidigers an einem erheblichen Teil der (anberaumten oder anvisierten) Hauptverhandlungstermine einem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf entgegen, wobei das Interesse des Angeklagten an einer Beibehaltung des bisherigen Pflichtverteidigers gegenüber dem insbesondere in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebot unter Umständen zurücktreten muss, sodass eine Auswechslung eines bestellten, terminlich verhinderten Pflichtverteidigers im Einzelfall geboten sein kann. Auch wenn der Angeklagte in bestimmten Grenzen auf eine Verfahrensbeschleunigung verzichten können mag, darf der Fortgang einer Haftsache jedenfalls nicht erheblich verzögert werden (vgl. HansOLG Hamburg, Beschluss vom 29. April 2021 – 2 Ws 36/21, juris Rn. 25; OLG Hamm, Beschluss vom 2. März 2006 – 2 Ws 56/06, juris Rn. 10; OLG Koblenz, Beschluss vom 25. November 2014 – 2 Ws 614/14, juris Rn. 2 ff.; PfOLG Zweibrücken, Beschluss vom 31. Mai 2021 – 1 Ws 132/21, juris Rn. 16 ff.).

Dem zur Entscheidung berufenen Vorsitzenden des zuständigen Spruchkörpers kommt insoweit ein Beurteilungsspielraum zu. Die Auswechslung eines Pflichtverteidigers aufgrund terminlicher Verhinderung setzt allerdings stets voraus, dass der Vorsitzende sich mit diesem in Verbindung setzt und ernsthaft versucht, dem Anspruch des jeweiligen Angeklagten, sich von dem Verteidiger seines Vertrauens verteidigen zu lassen, Rechnung zu tragen. Überdies darf kein gegenüber der Entpflichtung des Verteidigers milderes Mittel zur Verfügung stehen (vgl. HansOLG Hamburg, Beschluss vom 29. April 2021 – 2 Ws 36/21, juris Rn. 26 ff.).

b) Nach diesen Grundsätzen ist die Entpflichtung von Rechtsanwalt K. nicht zu beanstanden.

Diesem wäre eine Teilnahme lediglich an sieben der fünfzehn vom Oberlandesgericht in Aussicht genommenen Hauptverhandlungstermine zwischen August und November 2022 möglich. Auch die von Rechtsanwalt K.  angebotenen 37 Ausweichtermine in diesem Zeitraum eignen sich nicht, seine Verhinderung an einem wesentlichen Teil der Hauptverhandlung zu beseitigen. Denn zum einen ist er bereits an sechs dieser Termine in anderer Sache als Pflichtverteidiger geladen. Zum anderen sind in einer weiteren laufenden Sache, in der Rechtsanwalt K.  ebenfalls zum Pflichtverteidiger bestellt ist, zusätzliche Terminierungen im in Rede stehenden Zeitraum zu erwarten. Schließlich steht der Durchführung der Hauptverhandlung an einer Vielzahl der angebotenen Ausweichtermine eine Verhinderung des mit der Sache befassten Strafsenats, etwa durch notwendige Vorbereitungszeiten, langfristig vorgeplante Erholungsurlaube, Fortbildungsteilnahmen oder ein anderweitiges Staatsschutzverfahren entgegen.

c) Keine abweichende Beurteilung gebietet § 144 Abs. 1 StPO nF, demzufolge zur Verfahrenssicherung bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger bestellt werden können (aA KMR/Staudinger, StPO, 98. EL, § 143a Rn. 17). Denn eine Beiordnung nach § 144 StPO hat eigenständige, in den Umständen des Falles (Schwierigkeit oder Umfang des Prozessstoffes; außergewöhnlich lange Hauptverhandlungsdauer) selbst liegende, sachliche Voraussetzungen (vgl. HansOLG Hamburg, Beschluss vom 29. April 2021 – 2 Ws 36/21, juris Rn. 36); sie dient nicht der Entlastung des weitgehend verhinderten Pflichtverteidigers, zumal – von eng begrenzten Ausnahmen abgesehen – grundsätzlich jeder Pflichtverteidiger in der Hauptverhandlung anwesend zu sein hat (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 14. Dezember 2015 – 2 Ws 203/15, NStZ 2016, 436, 437).

2. Der Vorsitzende des Strafsenats hat es auch zu Recht abgelehnt, gemäß § 144 Abs. 1 StPO einen weiteren Pflichtverteidiger zu bestellen.

Auf die sofortige Beschwerde gegen diese Ablehnung prüft das Beschwerdegericht, ob der Vorsitzende die Grenzen seines Beurteilungsspielraums hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm eingehalten und sein Entscheidungsermessen („können“) fehlerfrei ausgeübt hat (BGH, Beschlüsse vom 31. August 2020 – StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 15; vom 13. April 2021 – StB 12/21, NStZ-RR 2021, 179).

Daran gemessen ist der angefochtene Beschluss nicht zu beanstanden. Der Vorsitzende des Oberlandesgerichts hat unter Beachtung der gesetzlichen Voraussetzungen angenommen, dass zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Hinzuziehung eines weiteren Verteidigers nicht erforderlich sei. Es handele sich um einen überschaubaren Verfahrensgegenstand, dessen Bearbeitung durch einen Pflichtverteidiger gewährleistet werden könne (vgl. BGH, Beschluss vom 13. April 2021 – StB 12/21, NStZ-RR 2021, 179). Dieser Einschätzung schließt sich der Senat an.

Dies gilt auch eingedenk des Umstandes, dass das Oberlandesgericht bei Verfahrenseröffnung seine Besetzung mit fünf Richtern gemäß § 122 Abs. 2 Satz 2 GVG beschlossen hat. Denn während die genannte Vorschrift für das Erfordernis der Mitwirkung zweier weiterer Richter allein auf „Umfang oder Schwierigkeit der Sache“ abstellt, setzt § 144 Abs. 1 StPO für die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers zusätzlich voraus, dass „Umfang oder Schwierigkeit“ die „zügige Durchführung des Verfahrens“ zu beeinträchtigen drohen.“