Schlagwort-Archive: Verfahrensrüge

Revision I: Reicht die Begründung der Verfahrensrüge?, oder: Selbstleseverfahren, Observation, Protokoll

© Dan Race Fotolia .com

Heute stelle ich dann ein paar Revisionsentscheidungen vor. Zunächst einige Entscheidungen des BGH zum erforderlichen Revisionsvortrag bei (verschiedenen) Verfahrensrügen:

„Die von beiden Angeklagten erhobene Rüge der Verletzung des § 261 StPO infolge nicht ordnungsgemäßen Abschlusses des am 12. Mai 2021 begonnenen („dritten“) Selbstleseverfahrens erweist sich als unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), da nicht dargelegt wird, inwieweit welche Urkundeninhalte aus dem beanstandeten Selbstleseverfahren (Chats) anderweitig zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden sind (vgl. zu den Anforderungen BGH, Urteil vom 11. April 2001 – 3 StR 503/00, NStZ 2001, 425; BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2005 – 2 BvR 656/99, 657/99 und 683/99). Hier wäre insbesondere Vortrag dazu erforderlich gewesen, ob die Chats im Rahmen weiterer Selbstleseverfahren oder durch Verlesung nach § 249 Abs. 1 Satz 1 StPO ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind. Dieses Erfordernis erhellt dadurch, dass die Staatsanwaltschaft in ihrer Gegenerklärung detailliert unter Angabe der einzelnen Fundstellen dargelegt hat, welche Urkunden verlesen worden sind, wie etwa die am 3. April 2020 von „napprobra“ und „putinbra“ zwischen 13.53 Uhr bis 14.42 Uhr ausgetauschten Chats.“

Durch die protokollierte Formulierung „Die Vorschrift des § 257 StPO wurde stets beachtet“ ist die Einhaltung der Vorschrift des § 257 Abs. 1 StPO belegt und bewiesen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 257 Rn. 2, 4 und § 273 Rn. 7). Der entgegenstehende Vortrag der Beschwerdeführerin verfängt daher nicht.“

„Die Rügen betreffend die Verwertung von Observationsergebnissen scheitern zwar nicht daran, dass die Angeklagten in der Hauptverhandlung der Verwertung nicht rechtzeitig widersprochen hätten. Denn dies haben sie mehrfach ausdrücklich getan. Der Senat teilt jedoch die Zulässigkeitsbedenken des Generalbundesanwalts insoweit, als die Beschwerdeführer die näheren Umstände der im März 2019 durchgeführten Observation nicht ausreichend vorgetragen haben, aus deren Rechtsfehlerhaftigkeit sich nach Auffassung der Revisionen auch die Unverwertbarkeit der Anfang April 2019 richterlich genehmigten Observationsmaßnahmen ergeben soll. Für die Frage, ob die Angeklagten T., B. und K.  als mitbetroffene Dritte im Sinne von § 163f Abs. 2 Satz 1 StPO anzusehen sein könnten und ob der als „Zielfahrzeug“ benannte PKW Renault Clio auch in Beziehung zu den Zielpersonen der Ende Februar 2019 richterlich angeordneten Observationen (M.T. und H. E.) stand, wäre nicht nur Vortrag zu den Verwandtschaftsverhältnissen, sondern auch zu den weiteren Umständen der ursprünglich richterlich angeordneten Observation erforderlich gewesen (vgl. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die jeweiligen Rügen wären aus den in den Antragsschriften des Generalbundesanwalts genannten Erwägungen aber auch unbegründet.“

Soweit der Beschwerdeführer beanstandet, das Landgericht habe § 261 StPO verletzt, weil es im Urteil betreffend die Tat 1 der Urteilsgründe eine von ihm stammende schriftliche Erklärung gegenüber dem Handelsregister verwertet habe, die nicht prozessordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden sei, ist die Verfahrensrüge bereits unzulässig. Denn der Revisionsvortrag ist unvollständig und entspricht damit nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO.

Der Beschwerdeführer trägt vor, dass der Vorsitzende entgegen § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO nicht festgestellt habe, dass die Richter und Schöffen der Strafkammer von der betreffenden Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Verfahrensbeteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Er teilt zudem mit, dass die dritte Seite des Protokolls vom vierten Hauptverhandlungstag wie folgt ende: „Vom Vorsitzenden wird bekannt gegeben, dass die Kammermitglieder vom Wortlaut der Ur-“. Welches Verfahrensgeschehen diesem im Hauptverhandlungsprotokoll vermerkten unvollständigen Satz zugrunde liegt, teilt der Beschwerdeführer nicht mit, obgleich der Instanzverteidiger das Prozessgeschehen dem Revisionsverteidiger berichtet habe. Dies wäre aber notwendig gewesen, um dem Senat die Prüfung zu ermöglichen, ob der Vorsitzende den auf die Feststellungen im Sinn des § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO hindeutenden Satz abgebrochen hat oder ob es sich lediglich – wie nach dem ordnungsgemäß durchgeführten Protokollberichtigungsverfahren feststeht – um einen Protokollierungsfehler gehandelt hat. Ergeben sich – wie hier – aus dem von der Revision selbst vorgetragenen Protokoll zum Verfahrensablauf konkrete Anhaltspunkte für einen Sachverhalt, welcher der erhobenen Rüge die Grundlage entziehen kann, ist der Beschwerdeführer nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO verpflichtet, sich dazu zu verhalten (vgl. BGH, Beschluss vom 5. August 2021 ? 4 StR 143/21, NStZ 2022, 126 mwN).

Von seinen Vortragspflichten wird der Revisionsverteidiger auch nicht dadurch befreit, dass er selbst nicht in der Hauptverhandlung anwesend war. Denn er wäre angesichts der oben genannten Stelle des (fehlerhaften) Protokolls verpflichtet gewesen, konkrete Erkundigungen über den diesbezüglichen Ablauf der Hauptverhandlung einzuholen (vgl. etwa zum Instanzverteidiger BGH, Urteil vom 10. Juli 2013 – 2 StR 47/13, BGHSt 58, 315, 318).

Die Rüge wäre aber – worauf der Generalbundesanwalt zutreffend hingewiesen hat – auch unbegründet, weil das Protokoll nach den daran zu stellenden Anforderungen berichtigt wurde (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 23. April 2007 – GSSt 1/06, BGHSt 51, 298, 316 ff.) und damit feststeht, dass die betreffende Urkunde prozessordnungsgemäß nach § 249 Abs. 2 StGB zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden war.“

Dass alle Entscheidungen vom 5. Strafsenat des BGH stammen, ist Zufall 🙂 .

Rechtsmittel I: Abwesenheits-HV statt Verwerfung, oder: Beruhen und Besserstellung

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Und dann heute drei Entscheidungen zu Rechtsmitteln, und zwar dreimal OLG.

Ich starte mit dem OLG Köln, Urt. v. 08.11.2022 – 1 RVs 116/22. Da hatte das Berufungsgericht in Abwesenheit des Angeklagten zur Sache, anstatt die Berufung gemäß § 329 Abs. 1 StPO zu verwerfen. Das war mit der Revision gerügt worden. Das OLG sagt: Die erhobene Verfahrensrüge ist nicht ausreichend begründet:

„Das Zulässigkeitsbedenken nicht unterliegende Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.

1. Die Verfahrensrüge des § 338 Ziff. 5 StPO ist bereits nicht in zulässiger Weise ausgeführt.

a) Ihr liegt das folgende Verfahrensgeschehen zugrunde:

Für den Angeklagten hatte sich im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 29. Oktober 2021 Rechtsanwalt A als Verteidiger bestellt und angekündigt, in Kürze eine Vollmacht nachreichen zu wollen. Mit Beschluss vom 10. November 2021 ist er auf seinen Antrag zum Pflichtverteidiger des Angeklagten bestellt worden.

Im Termin zur Berufungshauptverhandlung vom 2. März 2022 war der Angeklagte nicht anwesend. Die Berufungshauptverhandlung ist durchgeführt worden, nachdem der Verteidiger eine Vollmacht vom 27. Oktober 2021 vorgelegt hatte.

b) Die Rüge genügt nicht den aus § 344 Abs. 2 S. 2 StPO sich ergebenden Begründungsanforderungen.

aa) Richtig ist zwar, dass ohne den Angeklagten eine Sachverhandlung nicht durchgeführt werden durfte. Mit der Beiordnung des bisherigen Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger endet nämlich – entsprechend § 168 BGB – das Mandat. Bei fortbestehendem Willen des Angeklagten, sich von dem nunmehrigen Pflichtverteidiger vertreten zu lassen, ist die Erteilung einer neuen, den Anforderungen des § 329 StPO genügenden Vollmacht vonnöten (SenE v. 15.04.2016 – III-1 RVs 55/16 -; SenE v. 08.07.2016 – III-1 RVs 129/16; SenE v. 27.08.2021 – III-1 RVs 124/21 -). An einer solchen, nach Pflichtverteidigerbestellung erfolgten Bevollmächtigung fehlt es hier. Der Pflichtverteidiger durfte daher den Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung nicht vertreten; seine Anwesenheit war nicht deswegen entbehrlich, weil er wirksam vertreten war.

bb) Dieser Umstand für sich genommen begründet freilich die erfolgreiche Rüge des § 338 Ziff. 5 StPO noch nicht.

(1) § 338 Ziff. 5 StPO sichert die Einhaltung derjenigen Vorschriften ab, die das Anwesenheitsrecht des Angeklagten, seine Teilnahme an der (Berufungs)Hauptverhandlung garantieren – namentlich hier die Vorschrift des § 230 Abs. 1 StPO (MüKo-StPO-Knauer/Kudlich, § 338 Rz. 84 m. N.). Die Vorschriften über die Anwesenheit des Angeklagten ihrerseits dienen der Wahrung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und gewährleisten seine allseitige und umfassende Verteidigung (Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 65. Auflage 2022, § 230 Rz. 3). Eine Verhandlung ohne den Angeklagten birgt die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils (vgl. SenE v. 05.10.2010 – III-1 RVs 179/10 -; SenE v. 21.06.2011 – III-1 RVs 145/11 -; SenE v. 22.11.2011 – III-1 RVs 275/11 -; SenE v. 12.03.2013 – III-1 RVs 21/13; SenE v. 06.03.2020 – III-1 RVs 38/20 -).

(2) Hätte die Berufungsstrafkammer aus dem Umstand, dass die Pflichtverteidigerbestellung nach Erteilung der Vollmacht erfolgt war, die zutreffenden prozessualen Konsequenzen gezogen, hätte sie die Berufung des Angeklagten gemäß § 329 Abs. 1 StPO ohne weitere Sachprüfung als unbegründet verwerfen müssen.

(3) Der oben skizzierte Zweck des § 338 Ziff. 5 StPO würde in sein Gegenteil verkehrt, wollte man annehmen, dass die Voraussetzungen dieser Vorschrift durch die Verfahrensweise der Berufungsstrafkammer erfüllt würden. Denn dadurch, dass die Berufungsstrafkammer in eine Sachverhandlung eingetreten ist, ist dem Angeklagten ein Mehr an rechtlichem Gehör zugewachsen, als dies im Falle der Berufungsverwerfung gemäß § 329 Abs. 1 StPO der Fall gewesen wäre. Der mit einer Vertretungsvollmacht ausgestattete Verteidiger gibt nämlich Erklärungen so ab, als rührten diese vom Angeklagten selbst her (s. nur OLG Hamm B. v. 24.11.2016 – 5 RVs 82/16 = BeckRS 2016, 111318 Tz. 19). Er kann damit – wie der Angeklagte selbst im Falle seiner Anwesenheit – Einfluss auf den Gang der Berufungshauptverhandlung und die Entscheidung des Gerichts nehmen.

Diese schon generell gegebene Möglichkeit der Einflussnahme aufgrund der Wahrnehmung des rechtlichen Gehörs durch den – so (also über die bloße Verteidigerstellung hinaus) hierzu freilich nicht ermächtigten – Verteidiger wird im vorliegenden Fall umso mehr sinnfällig, als die Berufungsstrafkammer eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung vorgenommen hat, die zugunsten des Angeklagten zu einer straffen Zusammenziehung der Einzelstrafen geführt hat und zu der es im Falle der Berufungsverwerfung gemäß § 329 Abs. 1 StPO nur im nachträglichen Beschlussverfahren gemäß § 460 StPO – mit ungewissem Ausgang – hätte kommen können.

Die prozessordnungswidrige Verfahrensweise der Berufungsstrafkammer hat hier also im Ergebnis dazu geführt, dass der Angeklagte nicht nur potentiell, sondern auch tatsächlich bessergestellt worden ist, als er gestanden hätte, hätte die Berufungsstrafkammer aus der zwischenzeitlichen Pflichtverteidigerbestellung die zutreffenden Konsequenzen gezogen.

(4) In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, dass die Reichweite der absoluten Revisionsgründe des § 338 StPO dann einzuschränken sein kann, wenn ein Beruhen des Urteils auf der Rechtsverletzung denkgesetzlich ausgeschlossen ist. Das wird für den Fall des § 338 Ziff. 5 StPO etwa dann angenommen, wenn die Abwesenheit einen nur unwesentlichen Teil der Hauptverhandlung betrifft (BGH NStZ 2011, 233).

Von einem im strengen Sinne denkgesetzlichen Ausschluss des Beruhens wird man im vorliegenden Fall nicht ausgehen können. Dass im Falle prozessordnungsgemäßen Vorgehens der Berufungsstrafkammer zu erlassende Verwerfungsurteil hätte nämlich dann nicht ergehen dürfen bzw. hätte mit der Revision oder dem Antrag auf Wiedereinsetzung dann erfolgreich angegriffen werden können, wenn – etwa – der Angeklagte genügend entschuldigt gewesen wäre. Das hätte ihm gegebenenfalls eine Sachverhandlung nunmehr in seiner Anwesenheit eröffnet. Wäre von einer solchen Sachlage auszugehen, würde das in Abwesenheit des Angeklagten ergangene Sachurteil auch zu seinem Nachteil auf dem Übergehen der nachträglichen Pflichtverteidigerbestellung beruhen können.

Zu der danach inmitten stehenden Frage, was geschehen wäre, hätte die Berufungsstrafkammer auf die zwischenzeitliche Pflichtverteidigerbestellung und die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen hingewiesen, schweigt die Revisionsbegründung indessen. Grundsätzlich ist der Revisionsführer zwar zu Ausführungen zur Beruhensfrage nicht gehalten (BGH NStZ 2013, 536). Hier verhält es sich jedoch anders: So wie sich das Verfahrensgeschehen nach dem Vortrag in der Revisionsbegründung darstellt, gelten die vorstehend dargestellten Überlegungen uneingeschränkt. Wollte man zu einer abweichenden Sichtweise gelangen, bedürfte es Vortrag, der nach Lage der Dinge ausschließlich aus der Sphäre des Angeklagten stammen könnte und dann eben – ausnahmsweise – die Frage beträfe, ob das angefochtene Urteil auf der prozessordnungswidrigen Verfahrensweise der Berufungsstrafkammer beruht.

 

Revision III: Hauptverhandlung ohne Dolmetscher, oder: Anforderungen an die Verfahrensrüge

Bild von Tessa Kavanagh auf Pixabay

Und im dritten Posting komme ich dann noch einmal auf den KG, Beschl. v. 17.03.2022 – 3 Ws (B) 33/22 – zurück. Über den hatte ich schon hier unter Rechtsmittel II. Beschränkung des Einspruchs in der HV, oder: Erinnerungslücke beim Verteidiger? berichtet.

Heute weise ich auf die Ausführungen des KG zur Rüge des Betroffenen, das AG habe die Hauptverhandlung ohne Hinzuziehung eines Dolmetschers durchgeführt, hin. Dazu das KG:

„a) Soweit der Betroffene rügt, die Hauptverhandlung vom 30. November 2021 sei ohne Hinzuziehung eines Dolmetschers durchgeführt worden, obwohl er über keine ausreichenden Deutschkenntnisse verfüge, ist die Rechtsbeschwerde bereits unzulässig, weil sein Vorbringen nicht den Darlegungsvoraussetzungen von §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt.

Will ein Betroffener – gestützt auf §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 338 Nr. 5 StPO, 187 Abs. 1 Satz 1 GVG – rügen, es sei ohne Dolmetscher verhandelt worden, obwohl dies zur Ausübung seiner prozessualen Rechte erforderlich gewesen sei, ist im Einzelnen darzulegen, aus welchen Gründen er der Hauptverhandlung wegen mangelnder Sprachkenntnisse nicht folgen konnte. Ist ein Betroffener nur teilweise des Deutschen mächtig, liegt die Entscheidung des Gerichts, ob es die Hinzuziehung eines Dolmetschers für geboten hält – anders als bei Verfahrensbeteiligten, die keinerlei Deutschkenntnisse haben – in seinem Ermessen (vgl. BGH NStZ 1984, 328). Damit das Rechtsbeschwerdegericht feststellen kann, ob die Rechtsfolge von § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG vom Tatgericht zwingend anzuwenden war oder in seinem Ermessen stand, bedarf es der Angabe, ob der Betroffene der deutschen Sprache nicht oder nur teilweise mächtig war. War ein Betroffener nur teilweise der deutschen Sprache mächtig, sind zudem genaue Angabe der einzelnen Umstände, die bei einem wesentlichen Verfahrensteil die Zuziehung eines Dolmetschers geboten (Franke in Löwe/Rosenberg StPO 26. Aufl. § 338 Rdn. 138), erforderlich. Insbesondere ist darzulegen, wie weit die sprachlichen Fertigkeiten des Betroffenen reichten und was Gegenstand des in Rede stehenden Verhandlungsteiles war, zu dem er der Mitwirkung eines Dolmetschers bedurft hätte (vgl. BGH StV 1992, 54; BayObLG, Beschluss vom 28. Juni 2001 – 5St RR 168/01 -, juris).

Diesen Anforderungen genügt das Rechtsbeschwerdevorbringen nicht, denn es wird schon nicht mit der gebotenen Klarheit mitgeteilt, bei welchem – wesentlichen – Teil der Hauptverhandlung der Betroffene eines Dolmetschers bedurft hätte. Zudem finden sich keine hinreichend genauen Angaben zu den sprachlichen Fähigkeiten des Betroffenen, denn dieser hat lediglich pauschal behauptet, er sei des Deutschen nur “sehr eingeschränkt” mächtig bzw. seine Deutschkenntnisse seien “rudimentär”, zugleich aber vorgetragen, er habe sich in der Hauptverhandlung vom 30. November 2021 zur Sache eingelassen. Auf der Grundlage dessen vermag der Senat die Entscheidung des Amtsgerichts, ohne Dolmetscher zu verhandeln, auf seine Ermessensfehlerhaftigkeit und dem folgend auch nicht darauf zu überprüfen, ob die Hauptverhandlung im Sinne von §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 338 Nr. 5 StPO, 187 Abs. 1 Satz 1 GVG in Abwesenheit einer Person stattgefunden hat, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt.“

OWi II: Zu Entbindungsantrag/Verwerfungsurteil, oder: Attest, Aufklärungspflicht, Rüge, Entbindungsverzicht

Bild von Arek Socha auf Pixabay

Und im zweiten Posting dann zwei Entscheidungen zum verfahrensrechtlichen Dauerbrenner: Entbindungsantrag und/oder Verwerfung des Einspruchs, also §3 73, 74 OWiG. Beide  vorgestellten Entscheidungen stammen vom KG aus Berlin. Im Einzelnen:

    1. Für eine formgerechte Begründung der Verfahrensrüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG müssen im Fall einer Erkrankung die Art der Erkrankung, die aktuell bestehende Symptomatik und die daraus zur Terminzeit resultierenden konkreten körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen dargelegt werden, die eine Beteiligung an der Hauptverhandlung unmöglich gemacht haben oder unzumutbar erscheinen lassen, und dass dies dem Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannt war oder im Rahmen seiner Aufklärungspflicht hätte bekannt sein müssen.
    2. Ein Betroffener ist nicht zur Glaubhaftmachung oder zum Nachweis der vorgebrachten Entschuldigungsgründe verpflichtet.
    3. Die bloße Mitteilung, der Betroffene sei (verhandlungsunfähig) erkrankt, bietet für sich genommen noch keinen Anhaltspunkt für eine genügende Entschuldigung und Anlass, im Freibeweis Feststellungen zur Verhandlungs(un)fähigkeit des Betroffenen zu treffen.
    4. Eine ärztliche Bescheinigung löst die gerichtliche Aufklärungspflicht aus, weil sich aus ihr in aller Regel hinreichende – wenn auch im Rahmen der gerichtlichen Nachforschungspflicht gegebenenfalls zu verifizierende – Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung ergeben.
    5. Soweit das Tatgericht trotz einer die „Verhandlungsunfähigkeit“ attestierenden ärztlichen Bescheinigung das Erscheinen des Betroffenen in der Hauptverhandlung für möglich und zumutbar hält, muss es im Urteil darlegen, warum es von der Unrichtigkeit der Bescheinigung überzeugt ist oder warum es die Krankheit in ihren Auswirkungen für so unbedeutend hält, dass sie einer Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht entgegensteht.

Ebenso wenig wie ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OVVIG bei entschuldigtem Ausbleiben ergehen darf, darf in Abwesenheit des Betroffenen eine Hauptverhandlung durchgeführt werden, wenn er teilnehmen will und ihm ein Erscheinen unmöglich oder unzumutbar ist und er deshalb Terminsverlegung beantragt hat. Das gilt selbst dann, wenn der Betroffene durch einen Verteidiger vertreten, ist, es sei denn, dass dieser sich gleichwohl mit einer Verhandlung in Abwesenheit des Betroffenen einverstanden erklärt.

Rechtsmittel I: Eigenmächtig abwesend und Revision, oder: Wenn der BGH eine Fortbildung macht

entnommen wikimedia.org
Urheber Photo: Andreas Praefcke

Und weiter geht es. Heute mit Entscheidungen zum Rechtsmittelrecht. Und da stelle ich als erstes den BGH, Beschl. v. 19.08.2021 – 4 StR 410/20. Der BGH nimmt mal wieder zur ausreichenden Begründung der Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) Stellung.

Er beginnt mit einem gerügten Verstoß gegen §§ 230, 231 Abs. 2 StPO – eigenmächtige Abwesenheit des Angeklagten. Da reicht dem BGH der Revisionsvortrag nicht:

„Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dem Angeklagten nachzuweisen, dass sein Ausbleiben auf Eigenmächtigkeit beruht. Dabei entscheidet das Revisionsgericht auf Grundlage der Tatsachen, die ihm zum Entscheidungszeitpunkt bekannt und die erforderlichenfalls im Wege des Freibeweises festzustellen sind. Dagegen spielt nach der Rechtsprechung keine Rolle, ob anhand der dem Tatrichter bekannten Tatsachen Eigenmächtigkeit anzunehmen war; eine Bindung an die vom Tatrichter festgestellten Tatsachen besteht nicht (BGH, Urteil vom 26. Juni 1957 ? 2 StR 182/57, BGHSt 10, 304; Urteil vom 26. Juli 1961 ? 2 StR 575/60, BGHSt 16, 178, 180; Beschluss vom 8. Januar 1997 ? 5 StR 625/96; Beschluss vom 6. Juni 2001 ? 2 StR 194/01 Rn. 7; Beschluss vom 27. Juni 2018 ? 1 StR 616/17 Rn. 14 ff.; offengelassen in BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2011 ? 3 StR 282/11; missverständlich BGH, Beschluss vom 12. Januar 2012 ? 1 StR 474/11; für Bindung des Revisionsgerichts an die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Tatrichters Becker in LR-StPO, 27. Aufl., § 231 Rn. 44; Maatz, DRiZ 1991, 200).

Von diesem Prüfungsmaßstab des Revisionsgerichts unberührt bleiben die Erfordernisse des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Denn der Frage, nach welchen Grundsätzen die der Rüge zugrunde liegenden Tatsachen zu ermitteln sind, geht stets die auf Grund der Rechtfertigungsschrift vorzunehmende Prüfung des Revisionsgerichts voraus, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn von den behaupteten Tatsachen ausgegangen wird. Um eine erste Nachprüfung aufgrund der Revisionsbegründung zu ermöglichen, gehört daher bei einer auf die Verletzung von §§ 230, 231 Abs. 2 StPO gestützten Verfahrensrüge zu den Darlegungspflichten die Behauptung, dass der Angeklagte der Hauptverhandlung nicht eigenmächtig ferngeblieben sei, und die Erläuterung dieser Behauptung (vgl. BGH, Urteil vom 25. Juli 1973 ? 2 StR 20/73; Beschluss vom 10. April 1981 ? 3 StR 236/80 Rn. 7; Urteil vom 6. März 1984 ? 5 StR 997/83 Rn. 4; Beschluss vom 29. April 2015 ? 1 StR 235/14 Rn. 25).

c) Daran gemessen genügt das Revisionsvorbringen im vorliegenden Fall nicht den Darlegungsanforderungen zur fehlenden Eigenmächtigkeit.

Zwar lässt sich der Verfahrensrüge noch entnehmen, der Angeklagte sei erkrankt und habe sich am geplanten Rückreisetag in stationäre Behandlung der neurologischen Abteilung einer Klinik in G. im Kosovo begeben.

Jedoch reicht dieses Revisionsvorbringen als Behauptung, der Angeklagte sei der Hauptverhandlung nicht eigenmächtig ferngeblieben, nicht aus. Das Vorbringen ist unsubstantiiert, da nicht mitgeteilt wird, dass der Krankenhausaufenthalt gerade zu dem betreffenden Zeitpunkt medizinisch geboten und der Angeklagte dadurch zwingend gehindert war, an diesem Tag die Rückreise nach Deutschland anzutreten. Die Revisionsbegründung hätte sich näher zum Anlass der Aufnahme in das Krankenhaus verhalten müssen, namentlich dazu, ob die Aufnahme einer unaufschiebbaren Untersuchung oder Behandlung diente, sowie darlegen müssen, wie sich der Gesundheitszustand des Angeklagten auf seine Reisefähigkeit auswirkte. Dies lässt sich weder dem Tatsachenvortrag noch der rechtlichen Wertung in den Revisionsbegründungsschriften entnehmen.“

Und auch im Übrigen hat es mit der Begründung gehapert:

„2. Auch die weiteren Verfahrensrügen greifen nicht durch.

a) Die Verfahrensrüge, mit der eine Verletzung von § 244 Abs. 2 StPO im Hinblick auf den Antrag gerügt wird, eine näher bezeichnete Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft beizuziehen und darin befindliche Unterlagen auswerten zu lassen, ist bereits unzulässig. Die Rüge enthält weder eine Tatsachenbehauptung noch gibt sie ein konkretes Beweismittel an, zu dessen Erhebung sich das Landgericht hätte gedrängt sehen müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2012 ? 1 StR 407/12 Rn. 27; Urteil vom 10. Dezember 1997 ? 3 StR 389/97; Urteil vom 25. April 1991 ? 4 StR 582/90).

b) Auch die Rüge, das Landgericht habe § 338 Nr. 8 StPO durch die Ablehnung eines Unterbrechungsantrags vom 24. April 2020 verletzt, ist nicht zulässig erhoben, weil eine Übersetzung des dem Antrag beigefügten Attests in albanischer Sprache nicht vorgelegt worden ist. Schriftliche Eingaben in fremder Sprache sind grundsätzlich unbeachtlich (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. Juli 1981 ? 1 StR 815/80; vom 13. September 2005 ? 3 StR 310/05; vom 9. Februar 2017 ? StB 2/17 Rn. 9; Beschluss vom 30. November 2017 ? 5 StR 455/17). Eine Pflicht zur Übersetzung von Amts wegen ergibt sich vorliegend auch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Artikel 3 Absatz 3 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (vgl. EuGH, Urteil vom 15. Oktober 2015 ? C-216/14 [Gavril Covaci], NJW 2016, 303) schon deshalb nicht, weil diese Entscheidung nur den nichtverteidigten Beschuldigten betrifft (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Februar 2017 ? StB 2/17 Rn. 10; vom 30. November 2017 ? 5 StR 455/17; Allgayer in BeckOK GVG, 12. Ed. Stand: 15. Februar 2021, § 184 Rn. 5).

c) Dasselbe gilt für die Rüge der Verletzung von § 338 Nr. 3 StPO durch die Ablehnung eines Befangenheitsantrags, der sich seinerseits auf die Zurückweisung des Unterbrechungsantrags stützt. Für die Beurteilung des Befangenheitsantrags ist wiederum das Attest von Bedeutung, so dass eine Übersetzung in die deutsche Sprache hätte vorgelegt werden müssen.

d) Den übrigen Verfahrensbeanstandungen bleibt aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts der Erfolg versagt.“

Es ist immer schlecht, wenn der BGH eine Fortbildung im Revisionsrecht macht.