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Nachträgliche Sicherungsverwahrung: Was sind neue Tatsachen? – Auswirkungen auf die Verständigung

Der 2. Strafsenat des BGH hat noch einmal/erneut zum Begriff der „neuen Tatsachen“ i.S. des § 66b Abs. 2 StGB Stellung genommen. Das sind – so der Senat – Tatsachen, die erst nach der Verurteilung erkennbar geworden sind. Zwar können nach Auffassung des BGH auch psychiatrische Befundtatsachen im Einzelfall „neue Tatsachen“ im Sinne des § 66 b Abs. 2 StGB darstellen. Maßgeblich sei aber nicht eine neue sachverständige Bewertung von Tatsachen. Entscheidend sei vielmehr, ob die dieser Bewertung zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen im Zeitpunkt der Aburteilung bereits vorlagen und bekannt oder erkennbar waren (vgl. auch BGHSt 50, 275, 278; jetzt Beschl. v. 12.05.2010 – 2 StR 171/10).

Die Frage, was eine neue Tatsache ist, kann auch bei einer Verständigung eine Rolle spielen, wenn es darum geht, ob sich das Gericht von der Verständigung lösen lann (§ 257c StPO StGB). Die bloß andere Bewertung von bereits bei der Abgabe der Zusage/Verständigung dem Gericht bekannter oder erkennbarer Umständen ist also kein „neuer“ Umstand.

JM lässt sich 2 Jahre mit der Entscheidung Zeit – Aussetzung der Sicherungsverwahrung dann ggf. auch ohne ausreichende Vollzugslockerungen

Der 4. Strafsenat des OLG Hamm hatte sich vor kurzem in seinem Beschl. v. 12.05.2010 – 4 Ws 114/10 mit der Aussetzung einer Sicherungsverwahrung zu befassen. Das LG hatte die Ausssetzung beschlossen. Dagegen die Beschwerde der StA, die damit begründet worden ist, dass der Verurteilte noch nicht ausreichend durch Vollzugslockerungen erprobt sei. Das OLG dazu: Der Umstand fehlender Erprobung könne bei der Entscheidung über die Aussetzung einer Strafe zwar grundsätzlich nicht unberücksichtigt bleiben. Dies gelte jedoch dann nicht, wenn die Versagung von Vollzugslockerungen ersichtlich rechtswidrig war. Davon ist das OLG m.E. zu Recht ausgegangen. Dem JM NRW war es nämlich über zwei Jahre nicht gelungen, eine Entscheidung über die Lockerungen zu treffen.

Im zweiten Teil der Entscheidung befasst sich das OLG dann mit den Auswirkungen der Entscheidung des EGMR v. 17.12.2009 und schließt daraus: Nach Rechtskraft der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17.12.2009 (Az.: 19359/04) am 11.05.2010 verstosse die Vollstreckung von Sicherungsverwahrung über den 10-Jahres-Zeitpunkt hinaus sowohl gegen Art. 5 EMRK als auch gegen Art. 7 EMRK.

OLG Koblenz: Keine Aufhebung der Sicherungsverwahrung aufgrund EGMR-Urteil

Nach einer Pressemitteilung des OLG Koblenz, über die LNCA berichtet, hat der 1. Strafsenat des OLG Koblenz jetzt zur Sicherungsverwahrung Stellung genommen. Es heißt dort:

„Das Kammerurteil des EGMR vom 17.12.2009 führt in gleich gelagerten Fällen nicht zwangsläufig zur Aufhebung der Sicherungsverwahrung. Darauf hat das OLG Koblenz mit einem Beschluss hingewiesen.

In seinem Beschluss vom 07.06.2010 hatte der 1. Strafsenat des OLG Koblenz über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung in einem Fall zu entscheiden, in dem die Sicherungsverwahrung bereits in einem Urteil aus dem Jahr 1984 angeordnet worden war. Zu dieser Zeit war die Sicherungsverwahrung selbst bei Fortbestehen der Gefährlichkeit des Untergebrachten auf 10 Jahre begrenzt (§ 67d Abs. 1 StGB alter Fassung). Die Zehnjahresgrenze ist erst mit der Neufassung des § 67d Abs. 3 StGB durch Gesetz vom 26.01.1998 weggefallen. Aus diesem Grund hatte der EGMR in einem gleich gelagerten Fall, in dem die Anordnung der Sicherungsverwahrung und die Anlasstat ebenfalls vor Inkrafttreten der Neufassung des § 67d Abs. 3 StGB lagen, die Fortdauer der Unterbringung über 10 Jahre hinaus als Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot und damit als unvereinbar mit Art. 5 Abs. 1 und 7 Abs. 1 EMRK angesehen.

Der zuständige Strafsenat des OLG Koblenz hat in seinem Beschluss festgestellt, dass das Urteil des EGMR keine Bindungswirkung über den konkret entschiedenen Fall hinaus entfaltet. Zwar folge aus Art. 1 EMRK eine Verpflichtung des verurteilten Mitgliedstaats, eine durch den Gerichtshof festgestellte Konventionsverletzung auch in parallelen Fällen zu beenden. Urteile des EGMR hätten jedoch keine Gesetzeskraft. Sie wirkten nicht unmittelbar in die nationale Rechtsordnung hinein und könnten damit eine konventionskonforme innerstaatliche Rechtslage nicht erzeugen. Die Gerichte als Träger der rechtsprechenden Gewalt hätten die Europäische Menschenrechtskonvention in der Auslegung durch den EGMR lediglich im Wege der Gesetzesauslegung zu beachten.

Schon der Wortlaut der §§ 67d Abs. 3, 2 Abs. 6 StGB, der die Grenze jeder Gesetzesauslegung bilde, lasse aber eine Ausnahme für Altfälle nicht zu. Es sei der erklärte Wille des Gesetzgebers gewesen, dass der Wegfall der Zehnjahresdauer gemäß § 67d Abs. 1 StGB alter Fassung nicht nur für künftige Anordnungen der Sicherungsverwahrung, sondern auch für „Altfälle“ gelte. Da die Gesetzesänderung nicht die Anordnung, sondern lediglich die Dauer der Sicherungsverwahrung betrifft, habe der Gesetzgeber darin keinen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot gesehen. Dessen Ziel sei es gewesen, mit der Neuregelung einen möglichst umfassenden Schutz der Allgemeinheit vor drohenden schwersten Rückfalltaten bereits als gefährlich bekannter, in der Sicherungsverwahrung untergebrachter Gewalt- und Sexualstraftäter zu gewährleisten. Auch das BVerfG habe in seinem Urteil vom 05.02.2004 (Az.: 2 BvR 2029/01) die Geltung des § 67d Abs. 3 StGB für Altfälle für verfassungsgemäß erklärt. Die Umsetzung des Urteils des EGMR in das innerstaatliche Recht sei letztlich dem Gesetzgeber vorbehalten.

Der Senat sah daher in dem Urteil des EGMR vom 17.12.2009 keinen Anlass, die angeordnete Sicherungsverwahrung im konkreten Fall zu beenden. Vor einer Entscheidung über eine Erledigung der Sicherungsverwahrung hielt er vielmehr die Hinzuziehung eines weiteren psychiatrischen Sachverständigen gem. § 463 Abs. 3 S. 4 StPO für erforderlich.

Beschluss des OLG Koblenz vom 07.06.2010

Az.: 1 Ws 108/10

Quelle: Pressemitteilung des OLG Koblenz vom 09.06.2010

Das wollen Rechtsanwälte…

Am vergangenen Samstag ist der 61. DAT in Aachen zu Ende gegangen. Dort sind auch straf(verfahrens)rechtliche Fragen, die auch in Blogs bereits eine Rolle gespielt haben, diskutiert worden. Wie die Rechtsanwälte dazu stehen, lässt sich den Pressemitteilungen des DAV entnehmen. Im Einzelnen:

  1. Zur geplanten Änderung des § 160a StPO heißt es: Anwälte fordern Stärkung des Anwaltsgeheimnisses; vgl. dazu auch hier, hier und hier.
  2. Die „Anwälte begrüßen Maßnahmen gegen überlange Gerichtsverfahren„, vgl dazu auch hier und hier.
  3. Die „Reform der Sicherungsverwahrung überfällig„, vgl. dazu auch hier.
  4. Gefordert wird (zu Recht): „Keine Erscheinens- und Aussagepflicht für Zeugen bei der Polizei„, vgl. dazu auch hier, und hier.

Mal sehen, was aus den Vorhaben wird und wann und wie sie Gesetze werden.

Die nachträgliche Sicherungsverwahrung dient nicht der Korrektur früherer, fehlerhafter Entscheidungen

Der BGH (3 StR 439/09, PM v. 17.02.2010). hat eine vom LG Hannover angeordnete nachträgliche Sicherungsverwahrung aufgehoben. Der 49 Jahre alte Verurteilte hatte 1984 seine erste Ehefrau getötet und war deswegen vom LG Hildesheim zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden. Nachdem er diese Strafe teilweise verbüßt hatte und 1989 auf Bewährung aus der Haft entlassen worden war, heiratete er erneut. Im Mai 1993 tötete er auch seine zweite Ehefrau sowie seinen Stiefsohn. Deswegen verurteilte ihn das LG Hannover 1994 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren. Hintergrund der Taten war jeweils die Persönlichkeitsstruktur des Verurteilten, eines auf die eigene Geltung bedachten Menschen mit einem ausgeprägten Bedarf an Anerkennung und Neigung zu impulsiv unbedachten Verhaltensmustern. Schon im Urteil von 1994 war vom Landgericht Hannover deshalb festgestellt worden, bei ihm bestehe ein hohes Risiko für weitere brutale Gewaltentfaltung gegenüber Menschen, die eine Partnerbeziehung zu ihm eingingen.

Zur Überzeugung des Landgerichts besteht bei dem Verurteilten eine solche Gefährlichkeit auch nach der vollständigen Vollstreckung der 15-jährigen Freiheitsstrafe fort. Es hat daher gegen ihn die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet. Da die Gefährlichkeit des Verurteilten schon bei seiner Verurteilung im Jahr 1994 bekannt war, hat es indes keine erst während des Strafvollzugs neu entstandenen oder erstmals erkennbaren Umstände in der Person des Verurteilten festgestellt, die dessen Beurteilung als gefährlich erst nachträglich rechtfertigen. Derartige neue Tatsachen sind aber für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nach § 66 b Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 StGB erforderlich. Das Landgericht hat seine Entscheidung deshalb auf Grundlage der seit dem Jahr 2007 geltende Ausnahmevorschrift des § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB getroffen. Nach dieser Bestimmung kann die nachträgliche Sicherungsverwahrung auch auf bereits bei der ursprünglichen Verurteilung erkennbare Tatsachen gestützt werden, wenn damals die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB aus Rechtsgründen noch nicht möglich war.

Hiervon ist das Landgericht Hannover im Jahr 1994 und im jetzigen Urteil ausgegangen. Diese Rechtsauffassung ist indes fehlerhaft, da gegen den Verurteilten schon im Jahr 1994 die Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2 StGB hätte angeordnet werden können.

Daher ist die Ausnahmeregelung des § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB nicht anwendbar, so dass die Revision des Verurteilten Erfolg haben musste. Da auszuschließen ist, dass das Landgericht in einer erneuten Verhandlung solche neuen Tatsachen im Sinne des § 66 b Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 StGB feststellen kann, hat der Bundesgerichtshof von einer Zurückverweisung der Sache abgesehen und selbst entschieden, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung entfällt. Der Verurteilte muss deshalb entlassen werden, sobald die Reststrafe aus dem Urteil des Landgerichts Hildesheim vollstreckt ist.

Der Bundesgerichtshof hatte bei dieser Konstellation nicht zu entscheiden, ob das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (AZ 19359/04) Anlass gibt, an der Vereinbarkeit der Ausnahmevorschrift des § 66 b Abs. 1 Satz 2 StGB mit dem Grundgesetz oder der Europäischen Menschenrechts-konvention zu zweifeln.