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Wie viel Marihuana passt in den Kofferraum eines Mercedes 350 CLS?

entnommen wikimedia.org Urheber nakhon100

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„Wie viel Marihuana passt in den Kofferraum eines Mercedes 350 CLS?“ So ähnlich hatte sich für das LG Dortmund die Frage in einem BTM-Verfahren gestellt. Da hatten die Angeklagten im Kofferraum eines Mercedes 350 CLS „zwei große schwarze Koffer vor [gefunden], die den Kofferraum fast gänzlich ausfüllten“. In denen befand sich Marihuana. Das LG hat dann zur Menge des Rauschgifts festgestellt:

„Da nicht festgestellt werden konnte, dass das später in Süddeutschland sichergestellte Marihuana auch das war, das sich in dem Fahrzeug der Angeklagten befunden hatte, hat die Kammer das Gewicht des in dem Fahrzeug des Angeklagten L gefundenen Marihuanas auf 5 kg geschätzt. Diese Schätzung beruht auf den Angaben der Angeklagten zur Größe der Koffer und deren Inhalt sowie auf den Erfahrungen der Kammer als Spezialkammer für Betäubungsmitteldelikte. Im Übrigen haben auch die Angeklagten selbst erklärt, dass es sich um mehrere Kilogramm Marihuana gehandelt habe.“

Dem OLG Hamm reicht das nicht. Es hebt im OLG Hamm, Beschl. v. 05.01.2016 – 1 RVs 96/15 – auf:

aa) Zunächst ist im vorliegenden Fall die Schätzung der Rauschgiftmenge des in den beiden Koffern im Kofferraum des Mercedes 350 CLS aufgefundenen Marihuanas durch das Landgericht zu beanstanden. Insoweit ist ausgeführt, diese beruhe auf den Angaben der beiden Angeklagten zur Größe der Koffer und deren Inhalt sowie auf den Erfahrungen der Kammer als Spezialkammer für Betäubungsmitteldelikte. Zu den konkreten Größenangaben findet sich in den Urteilsgründen hierzu lediglich die Feststellung, die beiden Koffer hätten den Kofferraum „fast gänzlich ausgefüllt“. Angaben zur tatsächlichen Größe des Kofferraums und der Koffer werden dagegen nicht gemacht. Zudem bleibt offen, ob sich diese Angabe neben Länge und Breite auch auf die Höhe der beiden Koffer bezogen hat. Insoweit ist anzumerken, dass in allgemein zugänglichen Quellen z.B. selbst für die Coupéversion des Mercedes 350 CLS die Kofferraumgröße mit 520 Litern angegeben ist (vgl. http://www.autobild.de/artikel/mercedes-cls-350-cdi-test-1288344.html), so dass unter Berücksichtigung selbst des Volumens großer Reisekoffer von bis zu 150 Litern die Feststellung, der Kofferraum sei durch zwei Koffer „fast gänzlich“ ausgefüllt gewesen, nicht ohne Weiteres schlüssig erscheint. Ferner ist auch nicht festgestellt, ob die in den Koffern aufgefundenen Plastikbeutel eher lockeres oder stark verdichtetes Pflanzenmaterial enthielten, so dass ggfls. nachvollziehbare Rückschlüsse auf ein zugrunde zu legendes spezifisches Gewicht des abgepackten Marihuana möglich wären. Die Schätzung, es habe sich im zu beurteilenden Fall um mindestens 5 kg Marihuana gehandelt, ist aber auch deshalb rechtsfehlerhaft erfolgt, weil die Kammer nicht mitteilt, worin ihre konkreten Erfahrungen hierzu als Spezialkammer begründet sind (BGH NStZ-RR 2015, 77).“

Tagessatzhöhe: Keine Schätzung „ins Blaue“, sondern „Butter bei die Fische“

© PhotoSG - Fotolia.com

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Zwar ist der BVerfG, Beschl. v. 01.06.2015 – 2 BvR 67/15 – in einem verkehrsstraflichen Verfahren ergangen, er hat aber eine Problematik zum Gegenstand, die darüber hinausgeht und ist daher von allgemeiner Bedeutung. Es geht nämlich in dem Beschluss um die Frage, die von allgemeinem Interesse im Strafverfahren ist: Wie verhält es sich mit bzw. was ist bei der Schätzung des Einkommens des Angeklagten in Zusammenhang mit der Festsetzung der Tagessatzhöhe (§ 40 StGB) zu beachten?

Die Angeklagte war vom AG zu einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen zu je 80 € verurteilt worden. Während im Hauptverhandlungsprotokoll, das vom Strafrichter und der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterzeichnet wurde, die Erklärung der Angeklagten vermerkt ist, sie habe kein Einkommen und sei arbeitssuchend als Verkehrspilotin, führte das Urteil im Hinblick auf die Festsetzung der Höhe des einzelnen Tagessatzes aus: „Nachdem die Angeklagte erklärt hat, dass sie Verkehrspilotin sei, diesen Beruf aber derzeit nicht ausübe, aber auch nicht arbeitslos sei, schätzt das Gericht das monatliche Einkommen auf mindestens 2.400,00 Euro netto und hat, da anrechenbare Schulden oder Unterhaltsverpflichtungen nicht bekannt sind, die Höhe des einzelnen Tagessatzes auf 80,00 Euro festgesetzt.“

Die Revision der Angeklagten blieb beim OLG Karlsruhe erfolglos, die Verfassungsbeschwerde hatte hingegen Erfolg. Das BVerfG legt die Grundsätze der Tagessatzbemessung dar und führt dann aus:

„Nach diesem Maßstab verletzen das Urteil des Amtsgerichts und der Beschluss des Oberlandesgerichts die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG. Die vom Oberlandesgericht bestätigten Ausführungen des Amtsgerichts zur Schätzung des monatlichen Einkommens der Beschwerdeführerin auf 2.400 Euro sind unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich haltbar. Sie verstoßen in unvertretbarer und damit objektiv willkürlicher Weise gegen die gesetzliche Regelung des § 40 Abs. 3 StGB.

a) Weil es nicht möglich ist, in allen Fällen – gerade auch der kleineren und der Verkehrskriminalität – sämtliche Umstände, die für die Festsetzung des Nettoeinkommens von Bedeutung sein können, abschließend aufzuklären und ins Einzelne gehende Ermittlungen regelmäßig unverhältnismäßig wären, kommt der in § 40 Abs. 3 StGB geregelten Schätzung der Bemessungsgrundlagen besondere Bedeutung zu (siehe – auch zum Folgenden – Häger, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2007, § 40 Rn. 68 ff.; H.-J. Albrecht, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 4. Aufl. 2013, § 40 Rn. 47 ff.). Eine Schätzung ist immer dann angezeigt, wenn ein Angeklagter – der zu Auskünften nicht verpflichtet ist – keine, unzureichende oder gar unzutreffende Angaben macht und eine Ausschöpfung der Beweismittel das Verfahren unangemessen verzögern würde oder der Ermittlungsaufwand zu der zu erwartenden Geldstrafe in einem unangemessenen Verhältnis stünde. Eine volle Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Beweismittel ist dabei nicht geboten. Jedoch setzt eine Schätzung die konkrete Feststellung der Schätzungsgrundlagen voraus; bloße Mutmaßungen genügen nicht. Die Grundlagen, auf welche sich die Schätzung stützt, müssen festgestellt und erwiesen sein sowie im Urteil überprüfbar mitgeteilt werden.

b) Eine solche Mitteilung der Schätzungsgrundlagen lässt das Urteil des Amtsgerichts in nicht mehr hinzunehmender Weise vermissen. Es beschränkt sich auf die Feststellung, die Angeklagte habe erklärt, dass sie Verkehrspilotin sei, diesen Beruf derzeit nicht ausübe, jedoch auch nicht arbeitslos sei. Daher werde das monatliche Nettoeinkommen auf 2.400 Euro geschätzt. Diese Vorgehensweise ist zwar nicht bereits deshalb zu beanstanden, weil im Hauptverhandlungsprotokoll die abweichende Erklärung der Beschwerdeführerin festgehalten ist, sie habe kein Einkommen und sei arbeitssuchend als Verkehrspilotin. Denn bei einem Widerspruch zwischen Protokollinhalten im Sinne des § 273 Abs. 2 Satz 1 StPO und den Urteilsgründen sind allein letztere maßgebend (Gemählich, in: Kleinknecht/Müller/Reitberger, StPO, § 273 Rn. 29 [Nov. 2009]). Jedoch kommt die Annahme eines monatlichen Nettoeinkommens von 2.400 Euro – wie sie bereits dem Strafbefehl zugrunde gelegen hatte – aufgrund der tatsächlich völlig ungeklärten Einkommensverhältnisse einer bloßen „Schätzung ins Blaue hinein“ gleich. Die Ausübung einer Beschäftigung, die mit einer festen Vergütung verbunden ist, oder eine sonstige Einkommensquelle wurden nicht im Ansatz festgestellt. Der Zeuge K… wurde zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Beschwerdeführerin nicht befragt, obwohl er offensichtlich in einer persönlichen Beziehung zu ihr stand. Denkbar wäre es auch gewesen, die Polizei mit Umfeldermittlungen zu betrauen; auch das ist durch das Amtsgericht unterblieben.“

Also: Butter bei die Fische 🙂 .

Polizisten können auch nicht alles – jedenfalls muss das AG sagen, warum sie es richtig gemacht haben

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Etwas sperrige Überschrift, aber sie trifft m.E. den Kern des OLG Köln, Beschl. v. 20.03.2012 – III-1 RBs 65/12 -, in dem es um einen sog. qualifizierten Rotlichtverstoß ging. Also um mehr als eine Sekunde Rotlichtzeit und damit nach Nr. 132.3 BKat um ein Fahrverbot. Die hatte das AG auf der Grundlage von Schätzungen eines Polizeibeamten ermittelt. Das OLG sagt: Grds. möglich, aber:

„Stützt das Tatgericht seine Überzeugung vom Vorliegen eines qualifizierten Rotlichtverstoßes (hier: länger als 1 Sekunde Rot) auf die Entfernungsschätzungen von Zeugen (hier: Polizeibeamte), bedarf es in der Regel einer wertenden Auseinandersetzung mit Grundlagen und Beweiswert dieser Schätzung.“

Also: Die Schätzung und ihre Grundlagen müssen überprüfbar sein. Kann ein Ansatz sein, um zumindest im ersten Anlauf ein solches Urteil „zu kippen“ und Zeit zu gewinnen.

Nacharbeiten erforderlich – Schadensschätzung in der Anklage – nicht immer erlaubt

Insbesondere in Steuerstrafverfahren und wenn es um das Vorenthalten von Arbeitsentgelten geht, ist die Ermittlung der „Schadenssumme“ häufig nicht einfach bzw. langwierig und/oder umständlich. Die Ermittlungsbehörden versuchen den erforderlichen Ermittlungsaufwand (Vernehmung von Zeugen) gern dadurch zu umgehen, dass sie die für eine Anklageerhebung erforderlichen Summen schätzen und die weitere Aufklärung bzw. genaue Ermittlung der Beträge der Hauptverhandlung überlassen.

Zu den damit zusammenhängenden Fragen hat vor einiger Zeit bereits der 1. Strafsenat des BGH in BGH, Beschl. v. 10.11.2009, 1 StR 283/09 Stellung genommen. Danach ist die Schätzung grds. erlaubt. Es müssen allerdings bestimmte Vorgaben erfüllt sein, und zwar dürfen keine anderweitig verlässlichen Beweismittel zur Verfügung stehen oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand und ohne nennenswerten zusätzlichen Erkenntnisgewinn zu beschaffen sein.

Diese Rechtsprechung hat das OLG Celle in OLG Celle, Beschl. v. 19.07.2011 – 1 Ws 271-274/11 angewendet und die dort vom LG beschlossene Nichteröffnung des Verfahrens im Ergebnis abgesegnet. Zur Begründung wird ausgeführt, dass an sich eine Schätzung zulässig gewesen wäre, aber:

Allerdings darf bei der Ermittlung der Schwarzlohnsumme „nicht vorschnell auf eine Schätzung ausgewichen werden, wenn eine tatsachenfundierte Berechnung anhand der bereits vorliegenden und der erhebbaren Beweismittel möglich erscheint“ (BGH NStZ 2010, 635). Die zuverlässige Klärung, ob eine für die Berechnung verlässliche Tatsachengrundlage beschafft werden kann, ist dabei auch und besonders Aufgabe der Ermittlungsbehörden. Deshalb wäre es verfehlt und würde die Hauptverhandlung mit unnötigem Aufklärungsaufwand belasten, wenn die Ermittlungsbehörden sich darauf beschränkten, die Lohnsumme zu schätzen, ohne zuvor ausermittelt zu haben, ob eine tatsachenfundierte Berechnung möglich ist.

So liegt es hier. Die vorliegenden Berechnungen sind zwar tatsachenfundiert, eine genauere Ermittlung erscheint nach derzeitigem Sachstand aber durch Vernehmung der bislang nicht vernommenen Arbeitnehmer möglich. Den damit verbundenen Aufwand sieht der Senat im Verhältnis zu dem zu erwartenden Nutzen nicht als unangemessen an. Die Zahl der zu vernehmenden Personen ist für ein Verfahren dieses Umfangs nicht ungewöhnlich hoch. Soweit die Staatsanwaltschaft die Glaubhaftigkeit der zu erwartenden Aussagen von vornherein anzweifelt, handelt es sich um eine Vermutung, die die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen nicht entfallen lässt. Inwieweit jetzt überhaupt noch Strafverfahren gegen Arbeitnehmer wegen ihrerseits begangener Straftaten im Zusammenhang mit der Tätigkeit für die Angeschuldigten offen sind und daraus Auskunftsverweigerungsrechte resultieren, vermag der Senat derzeit nicht festzustellen. Auch dies müssen die weiteren Ermittlungen erweisen.

Ergebnis: Die Staatsanwaltschaft muss nachermitteln.

Mal was ganz Anderes: Zur Amtspflicht der Finanzbehörden bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Vorauszahlung der Umsatzsteuer

Mal weg von Straf- und OWi-Recht, mal was ganz Anderes: Nämlich der Hinweis auf das Urt. des OLG Naumburg v. 12.05.2010 – 2 U 1/10, das sich mit den Amtspflichten der Finanzbehörden bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Vorauszahlung der Umsatzsteuer beschäftigt und zur Pflichtwidrigkeit der Hinzuschätzung verdeckter Inlandsumsätze Stellung nimmt. Und zwar in einem Amtshaftungsprozess.

Das Finanzamt hatte gegen den Kläger eine um 16.272,78 € höhere Vorauszahlung auf die Umsatzsteuer 2007 festgesetzt, als von diesem selbst errechnet und geleistet worden war. Die Erhöhung der Vorauszahlung beruhte maßgeblich darauf, dass das Finanzamt bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Umsatzsteuer neben dem aus der Buchhaltung des Einzelunternehmens des Klägers ermittelten Betrag des steuerpflichtigen Umsatzes im Inland in Höhe von 36.406,00 € einen verdeckten Umsatz im Inland in Höhe von weiteren 100.840,34 € hinzuschätzte. Der Kläger hatte einen Rechtsanwalt beauftragt und verlangte jetzt die bei diesem entstandenen Gebühren ersetzt.

Die Klage hatte keinen Erfolg. Das OLG meint, dass auf eine Pflichtwidrigkeit bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Vorauszahlung der Umsatzsteuer nicht allein aus dem Umstand geschlossen werden könne, dass diese von der späteren Bemessungsgrundlage für die endgültige, vorbehaltlose Festsetzung der Jahresumsatzsteuer abweicht. Im Übrigen hielt sich alles noch im Beurteilungsspielraum.

M.E. lesenswert.