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OWi II: Mal wieder ein bisschen OWi-Verfahrensrecht, oder: Beweisinterlokut, SV-Gutachten, Urteilsgründe

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Im zweiten Posting dann drei Entscheidungen zum Owi-Verfahrensrecht, und zwar:

Der Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs verlangt vom Tatrichter   keine Erklärung, wie er die erhobenen Beweise würdigen will. Ein solches Interlokut ist dem Strafprozessrecht fremd. Es ist vielmehr Aufgabe des Verteidigers, seine Prozessanträge umsichtig auf die Verfahrenssituationen auszurichten.

Die Urteilsgründe bilden eine Einheit, deren tatsächliche Angaben das Rechtsbeschwerdegericht auch dann berücksichtigt, wenn sie sich in solchen Zusammenhängen befinden, in denen sie nach dem üblichen Urteilsaufbau nicht erwartet werden.

Hat der Verteidiger konkrete Zweifel an einer ordnungsgemäßen Messung und der Verwertbarkeit geäußert, können die Zweifel nicht durch den Verweis des Gerichtes auf ein Sachverständigengutachten beseitigt werden, wenn dieses nicht Gegenstand der Hauptverhandlung war.

Problem Auslagenerstattung im Bußgeldverfahren I, oder: Erstattung von Sachverständigenkosten

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Am „Gebührentag“ heute zwei Entscheidungen zur Auslagenerstattung im Bußgeldverfahren.

Zunächst stelle ich hier den LG Oldenburg, Beschl. v. 28.03.2022 – 5 Qs 108/20 – vor. Der Kollege Urbanzyk aus Coesfeld, der mir den Beschluss geschickt hat, hatte nach Einstellung des Verfahrens (§ 47 Abs. 2 OWiG) für den Betroffenen auch Ersatz der Kosten für ein Sachverständigengutachten der VUT und für ein anthropologisches Gutachten beantragt. Er hatte nur teilweise Erfolg:

„Grundsätzlich gehören auch Kosten für das von der Beschwerdeführerin eingeholte Gutachten des Sachverständigen Grün (VUT Sachverständigen GmbH & Co. KG) zu den nach § 464a Abs. 2 StPO zu erstattenden notwendigen Auslagen. Zwar sind private Ermittlungen in der Regel nicht notwendig, weil Bußgeldbehörde und Gericht bereits von Amts wegen zur Sachaufklärung verpflichtet sind. Die Möglichkeiten, gegebenenfalls Beweisanträge im Ermittlungsverfahren oder im gerichtlichen Verfahren zu stellen, muss der Betroffene bzw. Angeklagte daher grundsätzlich ausschöpfen, bevor private Sachverständigengutachten eingeholt werden (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 464a Rn. 16 m.w.N.). Eine Erstattungsfähigkeit kommt demgegenüber ausnahmsweise in Betracht, wenn sich die Prozesslage des Betroffenen aus seiner Sicht bei verständiger Betrachtung der Beweislage ohne solche eigenen Ermittlungen alsbald erheblich verschlechtert hätte oder wenn komplizierte technische Fragen betroffen sind, so dass insbesondere die Einholung eines Privatgutachtens im Interesse einer effektiven Verteidigung als angemessen und geboten erscheinen durfte (Gieg, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Aufl., § 464a Rn. 7 m.w.N.).

So ist es hier: Zu Recht weist der Verteidiger darauf hin, dass die Bußgeldrichterin bereits mit der Ladung zum Hauptverhandlungstermin darauf hingewiesen hatte, dass ihrer Auffassung nach keine Zweifel an der Richtigkeit der Messung und Zuordnung des Fahrzeuges der Beschwerdeführerin bestanden haben. Ohne die Anbringung konkreter Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Messung wäre daher damit zu rechnen gewesen, dass das Gericht in der Hauptverhandlung einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens unter den erleichterten Voraussetzungen des § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG sowie § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO ablehnen würde. Zur Überprüfung auf solche Zweifel war angesichts der technisch komplizierten Materie aber die Überprüfung durch einen Sachverständigen notwendig.

Die Sachverständigenkosten sind allerdings nicht in der geltend gemachten Höhe zu erstatten. Zwar sind die Kosten für ein privat eingeholtes Sachverständigengutachten nicht nach den Grundsätzen des JVEG zu erstatten. Diese können allerdings als Richtlinie herangezogen werden, auf deren Grundlage der privatrechtlich vereinbarte Stundensatz einer Plausibilitätsprüfung zu unterziehen ist (Beschl. der Kammer v. 17.01.2019 — 5 Qs 444/18, BeckRS 2019, 954 m.w.N.). Nach § 9 Abs. 1 i.V.m. Anlage 1 Nr. 38 JVEG in seiner bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung betrug der Stundensatz für Sachverständige im Bereich Verkehrsregelungs- und -überwachungstechnik 85 € und damit deutlich weniger als die vom Sachverständigen Grün geltend gemachten 140 E. Zwar ist nicht zwingend davon auszugehen, dass es einem Betroffenen möglich ist, einen geeigneten Sachverständigen zu den im JVEG vorgesehenen Vergütungssätzen zu gewinnen. Weicht der Stundensatz jedoch — wie hier — um 20 % oder mehr vom Stundensatz der entsprechenden Honorargruppe des JVEG ab, bedarf es für die Plausibilitätsprüfung-besonderer Darlegungen durch den Anspruchsteller (KG, Beschl. v. 20.02.2012 — 1 Ws 72/09, juris), die hier aber nicht erfolgt sind. Auch ist es nach Erfahrung der Kammer im hiesigen Bezirk durchaus möglich gewesen, geeignete Sachverständige, die auf Basis eines Stundensatzes von 100 EUR abrechnen, zu finden. Die erstattungsfähigen Gutachterkosten sind bei der abgerechneten Arbeitszeit von 5 Stunden entsprechend auf 500 € (netto) reduziert worden. Die übrigen insoweit geltend gemachten Kosten erscheinen demgegenüber grenzwertig, aber noch vertretbar.

Nicht erstattungsfähig sind hingegen die der Beschwerdeführerin angefallenen Kosten für ein anthropologisches Gutachten. Insoweit ist kein abgelegenes oder technisch schwieriges Sachgebiet betroffen (vgl. LG Essen, Beschl. v. 19.07.2021 — 27 Qs 35/21, 27 Qs – 95 Js 1037/19 – 35/21, juris). Angesichts der guten Bildqualität des Messfotos wäre im Rahmen der Hauptverhandlung zu klären gewesen, ob die Beschwerdeführerin hätte identifiziert werden können. Dies ist grundsätzlich ohne die Hilfe eines Sachverständigen möglich, der lediglich im Zweifelsfalle zu beauftragen gewesen wäre. Jedenfalls nach Aktenlage haben hierfür aber keine Anhaltspunkte bestanden. Bezeichnenderweise teilt der Verteidiger auch das Ergebnis des von ihm privat eingeholten Gutachtens nicht mit.“

Nicht erstattungsfähig sind hingegen die der Beschwerdeführerin angefallenen Kosten für ein anthropologisches Gutachten. Insoweit ist kein abgelegenes oder technisch schwieriges Sachgebiet“? Darüber kann man nur  lachen und man sieht es mal wieder: Es muss nur ein LG anfangen, so etwas zu vertreten – wie hier das LG Essen – dann beten es schnell andere Gerichte nach.

OWi I: 2-mal zu Messungen mit Provida 2000 modular, oder: Standardisierte Messung und anlassloses Filmen

entnommen Wikimedia.org
Urheber Federico Cantoni (Jollyroger)

Heute dann ein OWi-Tag mit einigen Entscheidungen zu Fragen des straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahrens.

Ich starte mit zwei AG-Entscheidungen, und zwar einmal zu einem Abstandsverstoß und dann noch einmal zur (Akten)Einsicht. In beiden Fällen geht es um eine Messung mit Provida 2000.

Zum Abstandsverstoß hat sich vor einiger Zeit das AG Landstuhl geäußert, und zwar im AG Landstuhl, Urt. v. 05.02.2022 – 2 OWi 4211 Js 8338/21. Gemessen worden war in dem Vrefahren mit Porvida 2000. Das AG äußert sich zur Frage des standardisierten Messverfahrens und zur Frage der Prüfung der Messung durch einen Sachverständigen, und zwar wie folgt:

1. Das Messsystem Provida 2000 modular gilt für Geschwindigkeitsmessungen als standardisiertes Messverfahren i.S.d. Rechtsprechung des BGH. Dies gilt nicht für eine Abstandsmessung. Eine mittels Provida 2000 modular durchgeführte Abstandsmessung ist durch das Gericht vollumfänglich nachzuprüfen.

2. Je nach Auswahl der Referenzpunkte für die Ermittlung des Abstands zum vorausfahrenden Fahrzeug kann es geboten sein, die Messung sachverständig überprüfen zu lassen, um der Gefahr optischer Verzerrung durch einen Aufschlag zusätzlicher Toleranzen zu begegnen. Es unterliegt dann der tatrichterlichen Würdigung, ob zu den geräteintern zu berücksichtigenden Toleranzen, die bei Geschwindigkeitswert und Abstandswert jeweils zum Tragen kommen, und den zugunsten des Betroffenen nicht berücksichtigten Fahrzeugüberhängen noch zusätzliche Toleranzen in Form von 1 der 2 Frames hinzuzufügen sind oder nicht.

In dem von AG Bergisch-Gladbach mit dem AG Bergisch-Gladbach, Beschl. v.24.11.2021 – 46 IW 411/21 (b) – entschiedenen Fall war bei einer Geschwindigkeitsmessung ein Messgerät Provida 2000 eingesetzt worden. Der Betroffene hatte erweiterte Akteneinsicht geltend gemacht, um überprüfen zu können, on ein sog. anlassloses Filmen vorgelegen hat und insoweit ggf. verfassungsrechtliche Bedenken bestehen könnten. Das AG hat die Herausgabe einer vollständige Liste der mit dem Messfahrzeug am Tattag durchgeführten Messungen sowie der  Videomitschnitte der fünf jeweils vor und nach der den Betroffenen betreffenden Messung durchgeführten Messungen angeordnet. Begründung: Es sei dem Betroffenen sonst nicht möglich, „Anhaltspunkte dafür darlegen zu können, dass trotz der Verwendung standardisierter Messgeräte bzw. der Einhaltung einschlägiger Vorschriften für die Durchführung der Messung im konkreten Falle Fehler aufgetreten sind, die die Richtigkeit der Messung beeinflusst haben können„.

OWi III: Schlechte Qualität des „Vorfallsfotos“, oder: Dann Einholung eines anthropologischen Gutachtens

In der letzten Entscheidung des Tages geht es dann mal wieder um das Lichtbild vom Vorfall und damit um die Identifizierung des Fahrers zum Vorfallszeitpunkt. Das AG hat den Betroffenen im Beschlussverfahren (§ 72 OWiG) wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Es hat sich dabei auf ein „Vorfallsfoto“ gestützt. Das genügte dem OLG hier nicht und es hat mit dem OLG Karlsruhe, Beschl. v. 02.02.2022 -3 Rb 33 Ss 854/21 – aufgehoben:

„1. Die auf die Sachrüge gebotene Überprüfung des angefochtenen Beschlusses führt zu dessen Aufhebung, weil die Beweiswürdigung zu der Feststellung, dass der Betroffene der Fahrer war, rechtlicher Überprüfung nicht standhält.

Das Amtsgericht stützte seine Überzeugung davon, dass der Betroffene der Fahrer des gemessenen Pkws war, auf eine vergleichende Betrachtung des auf dem Messfoto (AS 9) abgebildeten Fahrers, des Von der Verwaltungsbehörde zu den Akten gebrachten Porträtbildes des Betroffenen (AS 23) und des vom Betroffenen selbst eingesandten Lichtbildes (AS 89). Hierbei hätten sich deutliche Übereinstimmungen des Betroffenen mit dem auf dem Foto Abgebildeten gezeigt (junger Mann mit dunklem Backenbart, rundem, vollem Gesicht, einer geraden, eher breiten Nase, einem kräftigen Hals sowie einer charakteristischen Oberlippenpartie mit ausgeprägter vertikaler Mulde zwischen Mund und Nase).

Auch wenn dem Rechtsbeschwerdegericht im Beschlussverfahren nach § 72 OWiG – anders als im Urteilsverfahren – durch die erhobene Sachrüge der Zugang zu den Prozessakten eröffnet ist und ihm infolgedessen der gesamte Akteninhalt, insbesondere somit auch das Messfoto, zur Verfügung steht (vgl. OLG 8amberg, 8. v. 21.2.2018 – 2 Ss OWi 111/18), kann der Senat aufgrund der schlechten Qualität des Messfotos die vom Amtsgericht in diesem Fotobild festgestellten Identifizierungsmerkmale (u.a. rundes, volles Gesicht, ausgeprägte vertikale Mulde zwischen Nase und Mund) nicht zweifelsfrei erkennen.

Vor einer neuen Entscheidung wird deshalb ein Sachverständigengutachten einzuholen sein (zu den Anforderungen an ein anthropologisches Identitätsgutachten und dessen Darlegung im Urteil: OLG Zweibrücken, B. v. 29.1.2018 – 1 OWi 2 Ss8s 98/17 [auch zum Hinzutreten weiterer gewichtiger Indizien]; vgl. auch Huckenbeck/Krumm, NZV 2017, 453).“

Ladung des Vorstands der RAK im Gebührenprozess?, oder: Gebührengutachten ist kein SV-Gutachten

entnommen openclipart.org

Die zweite Entscheidung des Tages, der LG Düsseldorf, Beschl. v. 21.10.2021 – 20 S 97/20, kommt dann auch aus dem Dunstkreis des § 14 RVG. Es geht aber mal nicht um die richtige Gebührenbemessung, sondern um den Gebührenprozess. In dem war ein Gutachten der Rechtsanwaltskammer eingeholt worden und dann wurde die Ladung der Gutachterin der Rechtsanwaltskammer zum Termin beantragt. Das hat das LG abgelehnt:

„Die Voraussetzungen für die Ladung gemäß §§ 397, 402 ZPO liegen nicht vor. Gemäß diesen Vorschriften ist ein Sachverständiger zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens zu laden, wenn dies von einer Partei rechtzeitig beantragt worden ist (BGH, Beschl. vom 30.05.2017 – VI ZR 439/16 = BeckRS 2017, 121826).

Hierfür kann dahinstehen, ob der Antrag bereits deshalb zurückzuweisen war, weil er erst nach Ablauf der von der Kammer gemäß § 411 Abs. 4 S. 2 ZPO gesetzten Frist zur Stellungnahme zu dem Gutachten gestellt worden ist und damit verspätet war.

Ein Anspruch des Klägers auf Ladung der Gutachterin der Rechtsanwaltskammer besteht jedenfalls deshalb nicht, weil die Vorschriften der §§ 397, 402 ZPO nicht anwendbar sind. Diese beziehen sich auf Sachverständigengutachten bzw. auf Anträge der Parteien, einen gerichtlich bestellten Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens zu laden.

Gebührengutachten der Rechtsanwaltskammer, die gemäß § 3a Abs. 2 S. 2 RVG a.F. (nunmehr: § 3a Abs. 3 S. 2 RVG) erstattet werden, stellen aber keine Sachverständigengutachten dar (Schons, in: Hartung/Schons/Enders, RVG, 3. Aufl. 2017, § 3a, Rn. 142; Bölting/Heinz, in: Kroiß/Solomon Nachfolgerecht, 2. Aufl. 2019, § 3a RVG, Rn. 10). Vielmehr sollen die Gebührengutachten der Rechtsanwaltskammer die Kontrolle der Ausübung des anwaltlichen Billigkeitsermessens durch das Prozessgericht unterstützen und unterliegen als Rechtsgutachten der freien richterlichen Würdigung (BGH, Urt. vom 04.02.2010 – IX ZR 18/09 – juris-Rn. 42; BGH, Urt. vom 11.12.2003 – IX ZR 109/00 = NJW 2004, 1043).“