Schlagwort-Archive: OLG Saarbrücken

OWi II: Nochmals Verhängung der Regelgeldbuße, oder: Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen?

© alfexe – Fotolia.com

Die zweite Entscheidung kommt heute vom OLG Saarbrücken. Das hat im OLG Saarbrücken, Beschl. v. 08.05.2023 – 1 Ss (OWi) 8/23 – u.a. zur Frage der Erforderlichkeit von näheren Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen bei Verhängung einer Regelgeldbuße Stellung genommen.

Vom AG war wegen eines Verstoßes gegen § 24a Abs. 2 StVG eine Geldbuße in Höhe von 600,- EUR festgesetzt und ein Fahrverbot von drei Monaten verhängt worden, ohne Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen zu treffen.

Das hat das OLG nicht – mehr – beanstandet. Es hat abweichende frühere Rechtsprechung aufgegeben:

„Soweit der Senat in früheren Entscheidungen verlangt hat, dass der Tatrichter bei der Bemessung der Geldbuße grundsätzlich die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen aufzuklären und zu diesen im Urteil in nachprüfbarer Weise Feststellungen zu treffen hat, soweit es sich nicht um geringfügige Ordnungswidrigkeiten im Sinne des § 17 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 OWiG handelt – eine solche geringfügige Ordnungswidrigkeit lag – auch im Bereich der Verkehrsordnungswidrigkeiten – nach der Rechtsprechung des Senats nur in den Fällen vor, in denen das Tatgericht eine Geldbuße von nicht mehr als 250,- Euro verhängt hatte – (vgl. Senatsbeschlüsse vom 18. Juni 2013 – Ss (B) 58/2013 (51/13 OWi) –, 24. Oktober 2013 – Ss (B) 101/2013 (83/13 OWi) –, 30. Juni 2014 – Ss (B) 44/2014 (34/14 OWi) –, 16. Oktober 2014 – Ss (B) 69/2014 (54/14 OWi) –, 21. März 2017 – Ss BS 11/2017 (6/17 OWi) – und 25. Oktober 2018 – Ss (BS) 77/2018 (54/18 OWi) – jew. m.w.N.), hält der Senat daran nicht länger fest. Dies jedenfalls für die Fälle, in denen – wie hier – keine die Regelgeldbuße nach dem Bußgeldkatalog übersteigende Geldbuße festgesetzt wird und weder aufgrund der Angaben des Betroffenen selbst noch sonst Anhaltspunkte für vom Regelfall abweichende finanzielle Verhältnisse vorliegen, die ausnahmsweise Anlass zu weiterer Sachaufklärung geben.

a) Nach § 17 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 OWiG kommen für die Bemessung der Geldbuße – neben der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und dem Vorwurf, der den Täter trifft (§ 17 Abs. 3 Satz 1 OWiG) – auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen in Betracht. Diese gesetzgeberische Wertentscheidung macht deutlich, dass den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen für die Bemessung der Geldbuße nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Dies findet in den Bußgeldregelsätzen, die der Verordnungsgeber aus Gründen der Vereinfachung und Anwendungsgleichheit im Bußgeldkatalog festgelegt hat, dadurch Ausdruck, dass sich ihre Höhe in Übereinstimmung mit § 17 Abs. 3 Satz 1 OWiG an der Bedeutung des Verkehrsverstoßes und dem Tatvorwurf orientiert. Die Regelsätze gehen von gewöhnlichen Tatumständen und durchschnittlichen wirtschaftlichen Verhältnissen aus. Systematisch stellen sie Zumessungsrichtlinien dar, die der Tatrichter bei der Ausübung seines Rechtsfolgeermessens nicht unbeachtet lassen darf. Andernfalls wird er dem Prinzip des Bußgeldkatalogs mit dem Ziel der größtmöglichen Gleichbehandlung gleichartiger Fälle nicht gerecht. Besondere Umstände, die zum Abweichen vom Regelsatz nach oben oder unten führen und die auch in der Person des Betroffenen liegen können, hat der Tatrichter im Einzelfall erst zu erwägen, wenn sich konkrete Anhaltspunkte dafür ergeben. Dies gilt auch für die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen. Die tatrichterliche Aufklärungspflicht setzt demnach erst ein, wenn der Betroffene konkrete Tatsachen vorträgt, die ein Abweichen von der Regel nahelegen, oder solche Anhaltspunkte sonst vorliegen. Andernfalls sind die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen aufgrund der Regel-Ausnahme-Systematik der Bußgeldkatalogverordnung nicht von vornherein Gegenstand der Amtsaufklärung. Demnach obliegt es dem Betroffenen unter der Geltung der Bußgeldkatalogverordnung durch eigenen Sachvortrag die Aufklärungspflicht des Tatrichters auszulösen. Erst dann hat das Tatgericht im Rahmen der Einzelfallabwägung getroffene Feststellungen zum Abweichen vom Regelfall in den Urteilsgründen nachvollziehbar darzustellen, so dass dem Rechtsbeschwerdegericht die Prüfung ermöglicht wird, ob das Tatgericht rechtsfehlerfrei von dem Regelsatz des Bußgeldkatalogs abgewichen ist. Dies bedeutet indes nicht, dass das Tatgericht einseitige und wenig aussagekräftige Angaben des Betroffenen zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen ungeprüft hinzunehmen hat (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 27. April 2020 – 3 Ws (B) 49/20 –, juris mit zahlreichen weiteren Nachweisen; OLG Bremen, Beschluss vom 27. Oktober 2020 – 1 SsBs 43/20 –; OLG Braunschweig, Beschluss vom 13. April 2021 – 1 Ss (OWi) 103/20 –, BeckRS 2021, 7676; OLG Köln, Beschluss vom 15. Juli 2022 – III-1 RBs 198/22 –, juris; Krenberger/Krumm, OWiG, 7. Aufl., § 17 Rn. 22b, m.w.N.).

Hierfür spricht auch, dass eine unbedingte Aufklärungspflicht das Tatgericht bei einem zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen schweigenden Betroffenen zu – ggf. mit schwerwiegenden Grundrechtseingriffen einhergehenden – Maßnahmen wie der Durchsuchung der Wohn- oder Geschäftsräume nach Einkommensnachweisen des Betroffenen anhalten dürfte, die zur Bedeutung des Vorwurfs und der Höhe der Geldbuße außer Verhältnis stünden (vgl. OLG Braunschweig, a.a.O.; KG Berlin, Beschluss vom 12. März 2019 – 3 Ws (B) 53/19 –, Rn. 14, juris).

Eine über die bloße Darlegungslast hinausgehende Beweislast wird dem Betroffenen hierdurch nicht auferlegt. Denn bei Vorliegen eines hinreichend konkreten Vortrages des Betroffenen zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen hat der Tatrichter diesem wiederum von Amts wegen nachzugehen und sich von dessen Richtigkeit zu überzeugen (vgl. OLG Braunschweig, a.a.O., m.w.N.).

b) Ob diese Grundsätze auch dann gelten, wenn der Tatrichter eine den Regelsatz des Bußgeldkatalogs übersteigende Geldbuße festlegt (vgl. OLG Braunschweig, a.a.O.), braucht der Senat vorliegend nicht zu entscheiden. Ein Fall der Erhöhung einer Regelgeldbuße liegt nicht vor. Zwar legen die Ausführungen in dem angegriffenen Urteil nahe, dass das Amtsgericht wegen der einschlägigen Voreintragung im Fahreignungsregister lediglich die für einen (erstmaligen) Verstoß gegen § 24 a StVG vorgesehene Regelgeldbuße nach Nr. 242 BKat von 500,- EUR angemessen auf 600,- EUR erhöhen wollte. Tatsächlich hat es die nach der Bußgeldkatalogverordnung vorgesehene Regelgeldbuße indes verringert. Nr. 242.1 BKat normiert – sowohl in der im Tatzeitpunkt als auch in der heute geltenden Fassung – für den hier vorliegenden Fall der Eintragung einer – gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2b i.V.m. Nr. 2.2.2 der Anlage 13 zu § 40 FeV bislang weder getilgten noch tilgungsreifen – Entscheidung nach § 24a StVG im Fahreignungsregister, deren Vorliegen das Amtsgericht rechtsfehlerfrei festgestellt hat, eine Regelsanktion von 1000,- EUR Geldbuße und drei Monaten Fahrverbot. Da sich dieser Fehler nicht zu Lasten des Betroffenen auswirkt, berührt er den Bestand der ausschließlich vom Betroffenen angefochtenen Entscheidung auch im Übrigen nicht.

c) Gemessen an den vorstehend dargestellten Maßstäben bestand im vorliegenden Fall keine Pflicht des Amtsgerichts, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen von Amts wegen weiter aufzuklären. Der Senat vermag den Urteilsgründen noch hinreichend zu entnehmen, dass der auf eigenen Antrag vom persönlichen Erscheinen entbundene Betroffene weder im Vorfeld noch in der Hauptverhandlung durch seinen Verteidiger Angaben zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen gemacht hatte, die Anlass zu weiterer Sachaufklärung gaben.“

StPO III: Berufungsverwerfung wegen Ausbleibens, oder: Begründung des Wiedereinsetzungsantrags

© sharpi1980 – Fotolia.com

Und zum Tagesschluss dann noch etwas aus dem Rechtsmittelverfahren, und zwar zur Berufungsverwerfung wegen Ausbleiben des Angeklagten. Der OLG Saarbrücken, Beschl. v. 08.03.2023 – 1 Ws 51/23 – nimmt Stellung zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrages und zur genügenden Entschuldigung. Nichts Neues, aber man muss darauf achten.

Hier die Leitsätze:

    1. Ein Wiedereinsetzungsantrag nach § 329 Abs.7 StPO kann nicht auf Tatsachen gestützt werden, die das Berufungsgericht in seinem Verwerfungsurteil bereits als zur Entschuldigung nicht geeignet gewürdigt hat.
    2. Ein Wiedereinsetzungsantrag nach § 329 Abs. 7 StPO kann nicht auf neue Beweismittel für Tatsachen gestützt werden, die das Berufungsgericht in seinem Verwerfungsurteil bereits als zur Entschuldigung nicht geeignet gewürdigt hat.
    3. Die Vorlage eines Attestes entschuldigt die Säumnis des Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung nur dann in ausreichender Weise, wenn sich aus dem Attest körperliche oder geistige Beeinträchtigungen ergeben, die eine Teilnahme an der Verhandlung unzumutbar machen.

Das Überholverbot an unübersichtlichen Stellen, oder: Verbot dient auch dem Schutz des Überholten

Bild von WikimediaImages auf Pixabay

Im samstäglichen „Kessel Buntes“ gibt es heute dann mal wieder zwei zivilverkehrsrechtliche Entscheidungen. Beide betreffen die Haftung nach Verkehrsunfällen.

Ich beginne mit dem OLG Saarbrücken, Beschl. v. 15.12.2022 – 4 U 136/21 – mit folgendem Sachverhalt:

Der Kläger begehrt von den Beklagten die Zahlung eines Schmerzensgeldes und die Feststellung der umfänglichen Einstandspflicht für die ihm entstandenen und noch entstehenden Schäden aus einem Verkehrsunfall, der sich am 31.08.2019 in Nonnweiler-Primstal ereignete. Der Kläger befuhr mit seinem Rennrad in einer Gruppe von insgesamt 5 Radfahrern die Hauptstraße in Richtung Wadern. Die Teilnehmer der Gruppe fuhren zum Unfallzeitpunkt mit einer Geschwindigkeit von etwa 30 km/h und untereinander dicht auf; der Kläger war der vorletzte Fahrer des Pulks. Dahinter fuhr der Beklagte zu 1 in gleicher Fahrtrichtung mit dem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Fahrzeug VW Golf, amtliches Kennzeichen MZG, an dem ein Anhänger angebracht war. Der Beklagte zu 1 versuchte, die Radfahrerkolonne zu überholen. Wegen eines entgegenkommenden Fahrzeugs, welches einen Pferdeanhänger zog, brach er den Überholvorgang jedoch wieder ab. Hierbei kamen der Kläger sowie zwei weitere seiner Mitfahrer – der vor ihm fahrende Zeuge F. und der hinter ihm fahrende Zeuge R. – zu Fall.

Der Kläger zog sich bei dem Sturz eine Schultereckgelenkssprengung Typ Rockwood IV an der rechten Schulter, eine Beckenprellung rechts sowie Schürfwunden am linken Unterschenkel zu. Er wurde am 03.09.2019 an der Schulter operiert und vom 03.09.2019 bis 05.09.2019 stationär behandelt Die Schulter wurde im Anschluss mit einem Schulterabduktionskissen versorgt, das der Kläger für 6 Wochen tragen musste. Er war für eine Dauer von 3 Wochen arbeitsunfähig und durfte vom 31.08.2019 bis 31.10.2019 kein Kfz führen. Für einen Zeitraum von 4 Wochen litt er unter erheblichen Schmerzen und infolge der Abduktionsschiene unter körperlichen Einschränkungen.

Die Ausführungen des OLG sind etwas länger. Ich beschränke mich hier auf die Leitsätze:

    1. Das Verbot, an unübersichtlicher Stelle zu überholen (§ 5 Abs. 2 Satz 1 StVO), dient nicht nur dem Schutz des Gegenverkehrs, sondern auch des zu überholenden Verkehrsteilnehmers, der ebenfalls durch ein gegen § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO verstoßendes Überholen gefährdet werden kann.
    2. Zur Haftungsabwägung bei einem (berührungslosen) Verkehrsunfall zwischen einem im Pulk fahrenden Radfahrer und einem Pkw, der die Radfahrergruppe an unübersichtlicher Stelle überholt.

Im Übrigen verweise ich auf den verlinkten Volltext. Das OLG ist in seinem Urteil von einer Haftungverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des Beklagten ausgegangen. 

StPO III: HVT mit dem Verteidiger abgestimmt, oder: Verlegung scheidet aus

Bild von Demiahl auf Pixabay

Und als letzte Entscheidung des Jahres, die nichts mit Gebühren zu tun hat – die kommen morgen noch, hier dann noch der OLG Saarbrücken, Beschl. v.14.12.2022 – 4 Ws 379/22. Es geht noch einmal um die Frage der Anfechtung einer Terminierungsentscheidung.

Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren wegen verschiedener Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz erhoben. Der Angeklagte selbst ist wegen Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge angeklagt. Zwei seiner Mitangeklagten befinden sich seit dem 01.07.2022 in Untersuchungshaft. Mit Verfügung vom 31.10.2022 hat der Vorsitzende der Strafkammer sämtliche Verteidiger über das elektronische Anwaltspostfach über die in Betracht kommenden Hauptverhandlungstermine informiert und um Mitteilung etwaiger Terminsverhinderungen binnen zwei Tagen gebeten. Der Verteidiger des Angeklagten hat die ihm möglichen Hauptverhandlungstermine – darunter den 20.01.2023 – mit Schreiben vom 08.11.2022 mitgeteilt. Mit Verfügung vom selben Tag hat der Vorsitzende der 4. Großen Strafkammer Hauptverhandlungstermine für den 04.01. 2023, 05.01.2023, 20.01.2023, 01.02.2023 und 07.02.2023 festgelegt und die Verteidiger hierüber noch am selben Tag in Kenntnis gesetzt.

Nach der am 30.11.2022 erfolgten Eröffnung des Hauptverfahrens und Ladung der Verfahrensbeteiligten zu den Hauptverhandlungsterminen hat der Verteidiger des Angeklagten die Aufhebung des für den 20.01.2023 bestimmten Hauptverhandlungstermins beantragt. Zur Begründung hat er mitgeteilt, zwischenzeitlich sei in anderer Sache mit dem zuständigen Richter des Amtsgerichts Saarbrücken ein Hauptverhandlungstermin für diesen Tag abgesprochen worden. Die Ladung zu diesem Termin habe er am 21.11.2022 erhalten.  Der Kammervorsitzende hat eine Aufhebung des Verhandlungstermins unter Hinweis darauf abgelehnt, dass in dem umfangreichen Verfahren mit insgesamt sechs Verteidigern die Hauptverhandlungstermine im Vorfeld abgesprochen worden seien.

Gegen die Ablehnung der Verlegung des Termins hat der Verteidiger des Angeklagten ein unbenanntes Rechtsmittel eingelegt. Das OLG sagt dazu: zar zulässig – insoweit verweise ich auf den verlinkten Volltext – aber leider erfolglos:

„2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet.

a) Nach § 213 Abs. 1 StPO wird der Termin zur Hauptverhandlung von dem Vorsitzenden des erkennenden Gerichts anberaumt. Für wann Termin bestimmt wird, entscheidet er nach pflichtgemäßem Ermessen (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.; § 213 Rdnr. 6; KK-StPO/Schneider/Gmel, StPO, 8. Aufl., § 213 Rdnr. 1; Löwe-Rosenberg/Jäger, StPO, § 213 Rdnr. 10). Im Falle der Verhinderung des Verteidigers kann die Terminbestimmung ermessensfehlerhaft sein, wenn das Recht des Angeklagten auf freie Wahl des Verteidigers dadurch eingeschränkt wird, dass der Verteidiger das Mandat wegen terminlicher Verhinderung nicht wahrnehmen kann, weil er keinen Einfluss auf die Terminwahl nehmen konnte (Löwe-Rosenberg/Jäger a.a.O.). Umgekehrt kann und darf die Terminlage von Verteidigern in Haftsachen nur insoweit Berücksichtigung finden, wie dies nicht zu einer erheblichen Verzögerung des Verfahrens führt (BGH StV 2006, 680; KG Berlin, Beschluss vom 25. November 2016 – (4) 161 HEs 31/16 (30 – 34/16) –, juris; Löwe-Rosenberg/Jäger, a.a.O., § 213 Rdnr. 18 m.w.N.). Die Terminbestimmung erfolgt im Regelfall alsbald nach Eröffnung des Hauptverfahrens; Terminabsprachen können jedoch auch bereits vorher vorbehaltlich der Anklagezulassung erfolgen (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 213 Rdnr. 6). Über Terminverlegungsanträge entscheidet der Vorsitzende unter Berücksichtigung der eigenen Terminplanung, der Gesamtbelastung des Spruchkörpers, des Gebots der Verfahrensbeschleunigung, welchem in Haftsachen besonderes Gewicht zukommt, und der berechtigten Interessen aller Prozessbeteiligten, zu denen auch das Interesse eines Angeklagten gehört, als Ausfluss des Rechts auf ein faires Verfahren und auf eine wirksame Verteidigung durch einen Verteidiger seiner Wahl vertreten zu werden (vgl. BGH, Beschluss vom 21. März 2018 – 1 StR 415/17 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 02. Februar 2015 – III-5 Ws 36/15 –, juris; vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 213 Rdnr. 7 m.w.N.; Löwe-Rosenberg/Jäger, a.a.O., § 213 Rdnr. 17 m.w.N.).

b) Die Terminierung überprüft das Beschwerdegericht nur darauf, ob die Verteidigung im Vorfeld ausreichend beteiligt wurde und ob der Vorsitzende sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat (OLG Frankfurt a.a.O.; Löwe-Rosenberg/Jäger, a.a.O., § 213 Rdnr. 18). Die Zweckmäßigkeit der Terminsbestimmung einschließlich der Möglichkeit einer anderen Terminsplanung und Terminierung ist der Nachprüfung des Beschwerdegerichts entzogen (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 213 Rdnr. 8 m.w.N.; Löwe-Rosen-berg/StPO, a.a.O., § 213 Rdnr. 8 m.w.N.).

c) Unter Anwendung dieser Grundsätze erweist sich die Beschwerde als unbegründet.

(1) Der Kammervorsitzende hat den Hauptverhandlungstermin vom 20. Januar 2023 erst anberaumt, nachdem der Verteidiger des Angeklagten ausdrücklich erklärt hatte, an diesem Tag zur Verfügung zu stehen. Die verbindliche Festlegung der Hauptverhandlungstermine erfolgte in zulässiger Weise bereits vor der Eröffnung des Hauptverfahrens durch Schreiben des Vorsitzenden vom 08. November 2022, und nicht – wie der Verteidiger meint – erst mit der Zustellung der Terminladungen.

(2) Die Entscheidung über die Ablehnung des Antrags des Verteidigers, den Termin vom 20. Januar 2023 zu verlegen, weist keine Ermessensfehler auf. Gegenstand der Prüfung des Beschwerdegerichts ist diesbezüglich die Verfügung des Vorsitzenden vom 01. Dezember 2022 in Gestalt der Nichtabhilfeentscheidung der Kammer vom 02. Dezember 2022, da diese mit der Ausgangsentscheidung verfahrensrechtlich eine Einheit bildet und sie ergänzend begründen kann (vgl. OLG Stuttgart NStZ-RR 2016, 383; OLG Hamm, Beschluss vom 21. Dezember 2017 – III-5 Ws 578/17 –, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 306 Rdnr. 8). Die Strafkammer hat im Rahmen ihrer Entscheidung insbesondere nicht verkannt, dass ihr hinsichtlich der Frage einer etwaigen Verlegung des Termins vom 20. Januar 2023 ein Ermessensspielraum zustand, sondern ausdrücklich noch im Nichtabhilfeverfahren ein mögliches Abrücken von der Entscheidung des Vorsitzenden erwogen. Das Interesse des Angeklagten, auch im Termin vom 20. Januar 2023 von einem Verteidiger seiner Wahl vertreten zu werden, hat der Vorsitzende bereits in der Abstimmung des Termins mit dem Verteidiger in der gebotenen Weise berücksichtigt, also erkennbar nicht aus dem Blick verloren, jedoch in der gebotenen Weise zugleich die – hier angesichts der sich bereits über einen Zeitraum von nahezu sechs Monaten erstreckenden Inhaftierung gewichtigen (vgl. BVerfG NJW 2006, 672, 676; BGH NStZ 2007, 163; OLG Hamm, Beschluss vom 6. November 2012 – III-5 Ws 333/12 –, juris) – Interessen zweier Mitangeklagter an einer beschleunigten Verfahrensgestaltung in seine Erwägungen eingestellt. Soweit der Verteidiger meint, im Rahmen der getroffenen Entscheidung sei nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt worden, dass eine Ladung zu dem kollidierenden amtsgerichtlichen Termin bereits vor der in vorliegendem Verfahren erfolgt sei, vermag der Senat dem bereits deshalb nicht zu folgen, weil die Bestimmung der Hauptverhandlungstermine durch den Vorsitzenden der 4. Strafkammer bereits durch Schreiben vom 08. November 2022 erfolgt war, also bevor den Verteidiger am 21. November 2022 die amtsgerichtliche Ladung erreicht hat. Soweit der Verteidiger geltend macht, ihm sei nicht zuzumuten, Termine vorsorglich zu blockieren, liegt ein solcher Fall angesichts der verbindlichen Terminabsprache nicht vor.“

OWi II: Messunterlagen sind nicht bei den Akten, oder: Beschilderungsplan/verkehrsrechtliche Anordnung

In der zweiten OWi-Entscheidung des Tages geht es auch um Einsicht in bzw. Herausgabe von Unterlagen. Der Verteidiger hatte den B

© lassedesignen Fotolia.com

eschilderungsplan und die diesem zugrunde liegende verkehrsrechtliche Anordnung herausverlangt – und nicht bekommen. Der OLG Saarbrücken, Beschl. v. 14.07.2022 – SsRs 30/21 – sagt: Diese Unterlagen müssen herausgegeben werden:

„3. Jedenfalls darin, dass dem Verteidiger der Beschilderungsplan und die verkehrsrechtliche Anordnung nicht zur Verfügung gestellt worden sind, liegt eine unzulässige Versagung rechtlichen Gehörs.

a) Nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, juris; vgl. auch VerfGH des Saarlandes, Beschluss vom 27. April 2018 — Lv 1/18) gibt es auch im Bußgeldverfahren ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht des Einzelnen, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbst wahrzunehmen und Übergriffe der rechtsstaatlich begrenzten Rechtsausübung staatlicher Stellen angemessen abzuwehren. Der Betroffene darf nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, vielmehr muss ihm die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (BVerfG a.a.O.; BVerfGE 65, 171, 174; VerfGH des Saarlandes a.a.O.). Ein rechtsstaatliches und faires Verfahren fordert eine „Waffengleichheit“ zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Betroffenen andererseits (BVerfG a.a.O.; VerfGH des Saarlandes a.a.O.). Der Betroffene hat deshalb ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen und auf die Vermittlung der erforderlichen materiell- und prozessrechtlichen Informationen, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen kann (BVerfG a.a.O.; vgl. auch BVerfGE 110, 226, 253). Ihm muss Zugang zu den Quellen der Sachverhaltsfeststellung gewährt werden (BVerfG NJW 2007, 204, 205; VerfGH des Saarlandes a.a.O.). Dabei sind ihm grundsätzlich auch solche Messunterlagen zur Verfügung zu stellen, die sich nicht bei der Akte befinden, jedoch für seine Verteidigung von Bedeutung sein können (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 juris; VerfGH des Saarlandes a.a.O.; Senatsbeschlüsse vom 06. Januar 2022 – 1 Ss (OWi) 2/22 -, 15. Mai 2019 – SsRS 37/2018 — und 24. Februar 2016 – Ss (BS) 6/2016 (4/16 OWi)), und zwar unabhängig davon, ob konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen oder von dem Betroffenen vorgetragen worden sind (BVerfG a.a.O.; Senatsbeschlüsse vom 15. Mai 2019 — SsRS 37/2018 — und 24. Februar 2016 — Ss (BS) 6/2016 (4/16 OWi), vgl. auch Cierniak DAR 2018, 541 ff). Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen unbegrenzt gilt, da gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten ist (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. November 2020 — 2 BvR 1616/18 -, juris; vgl. auch Senatsbeschlüsse vom 06. Januar 2022 — 1 Ss (OWi) 2/22 — und vom 07. Januar 2022 — 1 Ss (OWi) 1/22). Andernfalls bestünde die Gefahr der uferlosen Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs (BVerfG a.a.O.; vgl. auch Senatsbeschlüsse a.a.O.). Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einem in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen (BVerfG a.a.O.; vgl. auch Senatsbeschlüsse a.a.O.). Für die Frage einer solchen Relevanz ist dabei maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers abzustellen (BVerfG a.a.O.; vgl. auch Senatsbeschlüsse a.a.O.). Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, ohne dass es darauf ankommt, ob die Bußgeld-behörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Geschwindigkeitsverstoß für erforderlich erachtet (BVerfG a.a.O.). Umgekehrt gilt jedoch auch kein rein subjektiver Maßstab, sondern entscheidend ist, ob der Betroffene bzw. sein Verteidiger eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf (BVerfG a.a.O.).

b) Das genannte Recht hat das Amtsgericht in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem es dem Betroffenen in Hauptverhandlung keine Gelegenheit gegeben hat, seinen gegenüber der Verwaltungsbehörde geltend gemachten Herausgabeanspruch weiterzuverfolgen.

Der von dem Verteidiger herausverlangte Beschilderungsplan und die diesem zu Grunde liegende verkehrsrechtliche Anordnung stehen in einem ersichtlichen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang zu dem dem Betroffenen zur Last gelegten Geschwindigkeitsverstoß. Dass durch die Überlassung dieser Unterlagen die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege gefährdet oder schutzwürdige Interessen Dritter in unzulässiger Weise berührt sein könnten, ist nicht ersichtlich. Eine Relevanz für die Verteidigung ist jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen. Zwar handelt es sich bei einer verkehrsrechtlichen Anordnung nach ihrer Bekanntgabe durch das Aufstellen der entsprechenden Beschilderung um einen Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung (BVerwG, Urteil vom 09. Juni 1967 – VII C 18/66 -, juris; BVerwG NJW 1997, 1021; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25. April 2022 – 8 E 120/22 -, juris; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 41 StVO Rdnr. 247), der grundsätzlich auch im Falle seiner Rechtswidrigkeit zu beachten ist, solange er nicht nichtig ist oder wirksam angefochten oder zurückgenommen wurde (BVerwG NJW 1967, 1627; OLG Koblenz, Beschluss vom 17. November 2020 – 1 OWi 6 SsRs 271/20, juris; KG Berlin VRS 107, 217; OLG Hamm, Beschluss vom 03. März 2016 – 3 RBs 55/16 -, juris; Hentschel/König/Dauer a.a.O. m.w.N.). Dem Verteidiger muss jedoch nach den dargelegten Grundsätzen auf seinen Antrag hin die Möglichkeit eröffnet werden, eine mögliche Nichtigkeit des dem Geschwindigkeitsverstoß zu Grunde liegenden Verwaltungsaktes zu prüfen- Soweit das Amtsgericht in den Urteilsgründen darauf verweist, dass der Verteidiger keine konkreten Anhaltspunkte für eine solche Nichtigkeit der verkehrsrechtlichen Anordnung dargelegt habe, verkennt es, dass ein entsprechender Vortrag eine Einsichtnahme in die Anordnung und den Beschilderungsplan gerade voraussetzt.

Soweit das Gericht in seinem Schreiben vom 20. April 2021 eine Überlassung der verkehrsrechtlichen Anordnung (und konkludent auch des Beschilderungsplans) vor der zu treffenden Sachentscheidung mit der Begründung abgelehnt hat, die Messörtlichkeit einschließlich der Beschilderung sei durch das in der Akte befindliche Messprotokoll ausreichend dokumentiert, verkennt es, dass nicht entscheidend ist, ob es selbst die Beiziehung der Unterlagen unter Aufklärungsgesichtspunkten für erforderlich hält, sondern allein, ob dem Betroffenen Gelegenheit gegeben werden muss, die erbetenen Unterlagen darauf zu prüfen, ob sich aus ihnen Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit der Messung ergeben. Das Recht des Betroffenen auf Einsicht in die Messunterlagen ist strikt von der Frage des Umfangs der Aufklärungspflicht des Gerichts nach § 244 Abs. 2 StPO zu trennen (Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541 ff, vgl. auch KG Berlin, Beschluss vom 06. August 2018 – 3 Ws (B) 168/18 -, juris; Senatsbeschlüsse vom 06. Januar 2022 – 1 Ss (OWi) 2/22 -, juris – und vom 07. Januar 2022 – 1 Ss (OWi) 1/22 -, juris). Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, wohingegen die Bußgeldbehörden und die Gerichte von einer weitergehenden Aufklärung in Fällen standardisierter Messverfahren grundsätzlich entbunden sind (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. November 2020 — 2 BvR 1616/18 -, juris). Es kommt deshalb gerade nicht darauf an, ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich halten (BVerfG a.a.O.). Soweit das Amtsgericht seine Rechtsauffassung auf die Entscheidungen des OLG Zweibrücken vom 05. Mai 2020 (Az.: 1 OWi SsBs 94/19 -) und des OLG Koblenz vom 17. November 2020 (Az.: 1 OWi 6 SsRs 271/20) stützt, übersieht es, dass diese durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 — überholt sind.

c) Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes (VerfGH des Saarlandes, Beschluss vom 27. April 2018 — Lv 1/18 -) ist das Recht des Betroffenen auf Zugang auch zu nicht bei den Akten befindlichen potentielle verteidigungsrelevanten Unterlagen nicht nur Ausfluss des Rechts auf ein faires Verfahren, sondern auch Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 60 Abs. 1 SVerf Art. 1 Abs. 1 SVerf), so dass seine Verletzung zur Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG führt.

d) Da eine Verletzung rechtlichen Gehörs bereits durch die unterbliebene Überlassung der verkehrsrechtlichen Anordnung und des Beschilderungsplans erfolgt ist, ist es für die Zulassung der Rechtsbeschwerde ohne Bedeutung, ob der Betroffene auch ein Recht darauf hatte. dass ihm die Falldaten der gesamten Messreihe zur Verfügung gestellt werden. ….“