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Absprache II: Haftbefehl als Gegenstand der Absprache, oder: Bindung an zugesagte Außervollzusetzung

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Und im zweiten Posting habe ich dann hier eine m.E. ganz interessante Entscheidung aus Saarbrücken zur Bedeutung/den Auswirkungen einer Absprache im Rahmen von Haftentscheidungen.

Dem OLG Saarbrücken, Beschl. v. 25.02.2025 – 1 Ws 26/25 – liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Das AG hat gegen den Angeklagten  einen auf die Haftgründe der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO), im Falle seiner Ergreifung der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO), der Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. Nr. 3 StPO) sowie subsidiär der Wiederholungsgefahr (§ 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO) gestützten Haftbefehl erlassen, in dem ihm zwei Fälle des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zur Last gelegt werden.

Aufgrund erfolgter SIS-Ausschreibung wurde der Angeklagte am 26.04.2024 auf Lesbos festgenommen, befand sich seitdem bis zu seiner am 25.07.2024 erfolgten Überstellung von Griechenland nach Deutschland in Auslieferungshaft und im Anschluss hieran aufgrund des Haftbefehls in Untersuchungshaft.

Nach Erhebung der Anklage wegen der haftbefehlsgegenständlichen Taten kam es im Hauptverhandlungstermin vor dem LG Saarbrücken am 17.01.2025 zu einer Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten gemäß § 257c StPO, wonach die Kammer im Falle eines Geständnisses im Sinne der Anklage keine geringere Strafe als drei Jahre und zwei Monate und keine höhere Strafe als drei Jahre und sechs Monate verhängen und den Haftbefehl „bei einer Meldeauflage 3 Mal wöchentlich“ außer Vollzug setzen wird. Nach geständiger Einlassung des Angeklagten und Durchführung der Beweisaufnahme beantragte der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft die Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten sowie die Außervollzugsetzung des Haftbefehls. Sodann wurde der Angeklagte wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt und die Anrechnung der Auslieferungshaft vom 26.04.2024 bis zum 25.07.2024 im Verhältnis 1:2 bestimmt. Im Anschluss hieran setzte die Kammer den Haftbefehl des AG vom 08.01.2024 außer Vollzug und wies den Angeklagten an, nach seiner Entlassung aus der Haft festen Wohnsitz an seiner Meldeanschrift zu nehmen sowie sich dreimal pro Woche, und zwar montags, mittwochs und freitags, bei der Polizeiinspektion Neunkirchen zu melden. Der Angeklagte wurde am selben Tag aus der Untersuchungshaft entlassen. Gegen das Urteil haben der Verteidiger des Angeklagten am 23.01.2025 und die Staatsanwaltschaft am 24.01.2025 Revision eingelegt.

Ebenfalls am 24.01.2025 hat die Staatsanwaltschaft durch den zuständigen Dezernenten gegen die Außervollzugsetzung des Haftbefehls Beschwerde eingelegt. Sie meint, die Außervollzugsetzung des Haftfehls sei auf dem Boden der Aussage eines Zeugen, aufgrund derer sich die Kammer zwingend von der Verständigung hätte lösen müssen, unverständlich, unvertretbar und willkürlich, weil die Meldeauflage nicht geeignet sei, die Haftgründe der Flucht- und Wiederholungsgefahr auszuräumen.

Die Haftbeschwerde hatte keinen Erfolg:

„1. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Außervollzugsetzung des Haftbefehls ist gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthaft (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 116 Rn. 31) und auch im Übrigen zulässig (§ 306 Abs. 1 StPO). Dass auch die Außervollzugsetzung eines Untersuchungshaftbefehls als zum Urteil dazugehöriger Beschluss im Sinne des § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO (vgl. § 268b StPO) grundsätzlich zulässiger Inhalt einer Verständigung im Strafverfahren sein kann (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2013 – 2 StR 410/13, juris Rn. 14; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 257c Rn. 15c) und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft selbst die Außervollzugsetzung des Haftbefehls vom 8. Januar 2024 beantragt hat, steht der Zulässigkeit der von der Staatsanwaltschaft gleichwohl gegen die Außervollzugsetzung des Haftbefehls eingelegten Beschwerde nicht entgegen. Vielmehr darf die Staatsanwaltschaft trotz vorangegangener Verständigung und auch dann, wenn die angefochtene Entscheidung ihrem ausdrücklichen Antrag entspricht, uneingeschränkt alle statthaften Rechtsmittel einlegen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 6. Oktober 2010 – III-4 RVs 60/10, juris Rn. 10 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 257c Rn. 32, Vor § 296 Rn. 16, Vor § 312 Rn. 1e).

2. Die Beschwerde ist aber bereits deshalb unbegründet, weil die durch den angefochtenen Beschluss erfolgte Außervollzugsetzung des Haftbefehls des Amtsgerichts Saarbrücken vom 8. Januar 2024 unter der Anweisung einer Meldepflicht von dreimal pro Woche zulässiger Gegenstand der Verständigung im Strafverfahren war und der Senat als Beschwerdegericht hieran gebunden ist. Maßgeblich hierfür sind folgende Erwägungen:

a) Gemäß § 257c Abs. 4 StPO ist das Tatgericht – abgesehen von den in § 257c Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO geregelten Ausnahmefällen – an eine Verständigung, die vor ihm stattgefunden hat, gebunden (vgl. BVerfG NStZ 2016, 422, 424; BGH NStZ 2017, 373, 374; OLG Nürnberg, Beschluss vom 29. Februar 2012 – 1 St OLG Ss 292/11, juris Rn. 12; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 257c Rn. 25, 63; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 257c Rn. 25a). Die dem Gericht eingeräumte Befugnis, sich unter den § 257c Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO geregelten Voraussetzungen von der Bindung durch die Verständigung zu lösen, tritt nicht kraft Gesetzes von selbst ein, sondern erfordert eine dahingehende gerichtliche Entscheidung (vgl. BGH, Urteil vom 21. Juni 2012 – 4 StR 463/11, juris Rn. 14). Die Entscheidung über das Abweichen von der Verständigung ist nach § 257c Abs. 4 Satz 4 StPO unverzüglich mitzuteilen, um dem Angeklagten und den weiteren Verfahrensbeteiligten – insbesondere mit Blick auf das mit dem Entfallen der Bindung des Gerichts an die Verständigung gemäß § 257c Abs. 4 Satz 3 verknüpfte Verwertungsverbot für ein im Zuge der Verständigung abgelegtes Geständnis des Angeklagten – die Möglichkeit zu geben, ihr Prozessverhalten auf die neue Verfahrenslage einzurichten (vgl. Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren, BT-Drucks. 16/12310 S. 15; BGH, a.a.O.).

b) Da das Landgericht sich im vorliegenden Fall nicht von der Bindung durch die Verständigung gelöst hat und die Außervollzugsetzung des Haftbefehls Teil und zulässiger Gegenstand der Verständigung war, war das Landgericht bereits aufgrund seiner Bindung an die Verständigung nicht befugt, im Rahmen der ihm nach § 306 Abs. 2 StPO obliegenden Entscheidung der Beschwerde der Staatsanwaltschaft abzuhelfen. Die Entscheidungsbefugnis des Senats, der als Beschwerdegericht im Umfang des Rechtsmittels grundsätzlich an Stelle des Erstgerichts selbst entscheidet (vgl. Löwe-Rosenberg/Matt, StPO, 26. Aufl., § 309 Rn. 7), geht nicht über diejenige des Landgerichts hinaus, so dass auch er an die Verständigung gebunden ist.

aa) Der Senat verkennt nicht, dass nach ganz überwiegender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur nur das Tatgericht, bei dem die Verständigung erfolgte, nicht aber die Rechtsmittelgerichte und das Gericht, an das die Sache nach § 354 Abs. 2, Abs. 3 StPO zurückverwiesen wurde, an die Verständigung gebunden sind (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 373; NStZ 2017, 373, 374; Löwe-Rosenberg/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 257cRn. 63 f.; MüKoStPO/Jahn, 2. Aufl., § 257c Rn. 148; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 257c Rn. 25a; a.A.: SK-StPO/Velten, 5. Aufl., § 257c Rn. 29: Bindung für das gesamte Erkenntnisverfahren bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss). In der Gesetzesbegründung zu § 257c Abs. 4 StPO heißt es insoweit lediglich, dass weder Berufungsgericht und Revisionsgericht noch das Gericht nach Zurückverweisung an die Verständigung gebunden sind (vgl. BT-Drucks. 16/12310 S. 15). Ebenso wie § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO in allen Fällen, in denen die Bindung des Tatgerichts entfällt, als Ausfluss des Rechts des Angeklagten auf ein faires Verfahren (Art. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) ein Verbot des vom Angeklagten in Vorleistung abgelegten Geständnisses zu Beweiszwecken anordnet (vgl. MüKoStPO/Jahn, a.a.O., § 257c Rn. 172), nehmen Rechtsprechung und Literatur als Kehrseite des Fehlens der Bindungswirkung des Rechtsmittelgerichts an die in der Vorinstanz erfolgte Verständigung allerdings hinsichtlich des Geständnisses des Angeklagten ein Beweisverwertungsverbot an. Dementsprechend hält es die überwiegende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur in den Fällen einer – jedenfalls auch – zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten Berufung oder Revision der Staatsanwaltschaft mit Blick auf den Grundsatz des fairen Verfahrens für geboten, hinsichtlich des Geständnisses des Angeklagten ein Verwertungsverbot jedenfalls dann anzunehmen, wenn das neue Tatgericht (Berufungsgericht oder nach Zurückverweisung zur Entscheidung berufenes Tatgericht) über die vom ersten Tatgericht, bei dem die Verständigung stattgefunden hat, zugesagte Strafrahmenobergrenze hinausgehen will (vgl. BGH NStZ 2017, 373, 375; NStZ 2023, 310, 312 f.; vgl. auch BGH StraFo 2024, 67, 68 für den Fall der Revision der Nebenklage; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 6. Oktober 2010 – III-4 RVs 60/10, juris Rn. 11 ff.; OLG Karlsruhe NStZ 2014, 294, 295; MüKoStPO/Jahn, a.a.O., § 257c Rn. 177 ff.; KK-StPO/Moldenhauer/Wenske, 9. Aufl., § 257c Rn. 41 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 257c Rn. 29b).

bb) Die Frage einer Bindungswirkung der Verständigung für das Beschwerdegericht findet hingegen weder in der Gesetzesbegründung Erwähnung noch haben sich – soweit ersichtlich – Rechtsprechung und Literatur mit dieser Frage bislang befasst. Insbesondere ist die vorliegende Fallgestaltung, in welcher die Außervollzugsetzung eines Haftbefehls in dem gemäß § 268b StPO ergangenen Beschluss Teil der vorausgegangenen Verständigung nach § 257c StPO gewesen ist und die Staatsanwaltschaft gegen diesen Beschluss Beschwerde eingelegt hat, bisher – soweit ersichtlich – nicht Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung gewesen. Diese Fallkonstellation unterscheidet sich von den vorstehend geschilderten Fallgestaltungen dadurch, dass sich der Angeklagte auch im Falle der Verneinung einer Bindungswirkung der Verständigung für das Beschwerdegericht an seinem im Vertrauen auf die Bindungswirkung der Verständigung (§ 257c Abs. 4 StPO) abgegebenen Geständnis festhalten lassen müsste. Denn der dringende Tatverdacht, der vom Beschwerdegericht auch im Falle einer von der Staatsanwaltschaft gegen die Außervollzugsetzung eines Haftbefehls eingelegten Beschwerde zu prüfen ist (vgl. KG, Beschluss vom 18. November 2022 – 3 Ws 300/22, juris Rn. 10 m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 116 Rn. 31), ist im Falle einer – wie hier – nach abgeschlossener Beweisaufnahme erfolgten erstinstanzlichen Verurteilung in aller Regel bereits durch das verurteilende Erkenntnis hinreichend belegt und die Nachprüfung durch das Beschwerdegericht hat sich darauf zu beschränken, ob die Entscheidung auf die in der Hauptverhandlung gewonnenen wesentlichen Tatsachen gestützt ist und auf einer vertretbaren Bewertung des Beweisergebnisses beruht (vgl. KG, a.a.O., juris Rn. 12; Senatsbeschluss vom 6. November 2024 – 1 Ws 216/24 –). Die Möglichkeit, den Bruch des Vertrauens des Angeklagten auf die Bindungswirkung der Verständigung durch die Annahme der Unverwertbarkeit seines auf der Verständigung beruhenden Geständnisses auszugleichen, hat der Senat als Beschwerdegericht daher nicht. Im Übrigen würde die Annahme der Unverwertbarkeit des Geständnisses des Angeklagten durch das Beschwerdegericht die Gefahr von Wertungswidersprüchen mit der noch ausstehenden Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofs begründen. Daher gebietet es der Grundsatz des fairen Verfahrens für den Fall, dass – wie hier – die Außervollzugsetzung eines Haftbefehls Bestandteil einer Verständigung zwischen dem erkennenden Gericht und den Verfahrensbeteiligten nach § 257c StPO ist und die Staatsanwaltschaft gegen die aufgrund der Verständigung erfolgte Außervollzugsetzung des Haftbefehls Beschwerde einlegt, eine Bindungswirkung nicht nur des erkennenden Gerichts, sondern auch des Beschwerdegerichts an die Verständigung und damit auch an die Außervollzugsetzung des Haftbefehls als Bestandteil der Verständigung anzunehmen.“

Fahrerlaubnisentziehung II: Betrunkener Radfahrer, oder: Bindung an den Strafbefehl

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Im zweiten Posting geht es mal wieder um die Entziehung der Fahrerlaubnis, und zwar nach einer mit einem Strafbefehl geahndete Trunkenheitsfahrt mit einem Fahrrad. Der Antragsteller hat dagegen Klage erhoben und Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung be-antragt (§ 80 Abs. 5 VwGO). Sein Antrag hatte keinen Erfolg.

Der VGH Baden-Württemberg führt im VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 18.2.2025 – 13 S 1513/24 – zunächst aus, dass auch betrunkene Radfahrer ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen im Sinn von §§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV sein können.  Daher sein die Gutachtenanforderung rechtmäßig gewesen. Denn habe ein Fahrerlaubnisinhaber ein Fahrzeug im Straßenverkehr bei einer BAK von 1,6 Promille oder mehr oder einer Atemalko-holkonzentration von 0,8 ng/l oder mehr geführt, könne die Fahrerlaubnisbehörde das auch bei einer erstmaligen Trunkenheitsfahrt mit einem Fahrrad anordnen.

Und dann führt er zu dem Vorbringen des Antragstellers im Hinblick auf den Strafbefehl aus:

„Nach den Feststellungen im rechtskräftigen Strafbefehl des Amtsgerichts K. vom 13.11.2023 – xx – hat der Antragssteller am 03.10.2023 gegen 22.20 Uhr ein Fahrrad geführt, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke fahruntüchtig war. Die am 03.10.2023 entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 2,08 Promille.

Mit seinem Vorbringen, der im Strafbefehl des Amtsgerichts K. festgestellte Sachverhalt treffe nicht zu, weil er mit dem Fahrrad nicht gefahren sei, sondern es geschoben habe, jedenfalls könne aber ein Beweis, dass er mit dem Fahrrad alkoholisiert gefahren sei, nicht sicher geführt werden, sodass der Beschluss des Verwaltungsgerichts unter Verletzung von Beweisregeln (Grundsatz „in dubio pro reo“) ergangen sei, vermag der Antragsteller nicht durchzudringen.

Zwar kennt das geltende Fahrerlaubnisrecht eine strikte, sich zu Ungunsten des Betroffenen auswirkende Bindung der Fahrerlaubnisbehörde an rechtskräftige straf- bzw. bußgeldrechtliche Entscheidungen lediglich in besonders geregelten, hier nicht einschlägigen Fällen (vgl. § 2a Abs. 2 Satz 2, § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG). Im Übrigen entfalten Strafurteile, Strafbefehle und Bußgeldbescheide nach § 3 Abs. 4 StVG Bindungswirkung ausschließlich zu Gunsten des Betroffenen. Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass es einem Fahrerlaubnisinhaber unbenommen bleibt, in fahrerlaubnisrechtlichen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren geltend zu machen, der Sachverhalt sei für ihn vorteilhafter, als dies das Strafgericht oder die Bußgeldbehörde angenommen habe. Dies übersieht der Antragsgegner, wenn er unter Berufung auf § 3 Abs. 4 StVG pauschal meint, es sei ihm nicht möglich, die Rechtmäßigkeit eines abgeschlossenen Strafverfahrens zu prüfen (Schriftsatz vom 20.08.2024 im erstinstanzlichen Verfahren, auf den die Beschwerdeerwiderung vom 25.10.2024 Bezug nimmt). Allerdings muss ein Fahrzeugführer in einem Fahrerlaubnisverfahren eine rechtskräftige strafgerichtliche Entscheidung mit dem darin festgestellten Sachverhalt dann gegen sich gelten lassen, wenn sich nicht gewichtige Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der darin getroffenen tatsächlichen Feststellungen ergeben (vgl. BVerwG, Beschluss vom 03.09.1992 – 11 B 22.92 – juris Rn. 3, Urteil vom 12.03.1985 – 7 C 26.83 – juris Rn. 14; Beschluss des Senats vom 22.02.2023 – 13 S 2569/22 – n. v.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 08.10.2015 – 10 S 1491/15 – juris Rn. 6, Urteil vom 27.07.2016 – 10 S 77/15 – juris Rn. 34). Mit diesem grundsätzlichen Vorrang der strafgerichtlichen vor verwaltungsbehördlichen Feststellungen sollen überflüssige, aufwändige und sich widersprechende Doppelprüfungen möglichst vermieden werden. Im Ergebnis begründet das Vorrangverhältnis eine Mitwirkungsobliegenheit des Betroffenen, substantiierte und gewichtige Hinweise für eine eventuelle Unrichtigkeit der strafgerichtlichen Feststellungen vorzubringen, wenn er diese im Verwaltungsverfahren nicht gegen sich gelten lassen will (vgl. Beschluss des Senats vom 22.02.2023 a. a. O; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 08.10.2015 a. a. O.; vgl. auch BayVGH, Beschluss vom 19.08.2019 – 11 ZB 19.1256 – juris Rn. 13).

Dem Antragsteller ist es nicht gelungen, substantiierte und gewichtige Hinweise auf eine eventuelle Unrichtigkeit der Feststellungen im Strafbefehl des Amtsgerichts K. vom 13.11.2023 zu geben.

Vom Ansatz her zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen (S. 13 des Beschlussabdrucks), dass der Vortrag des Antragstellers, es gebe keinen Beweis dafür, dass er entgegen seiner Darstellung mit dem Fahrrad gefahren sei, eine realistische Auseinandersetzung mit dem dargestellten Geschehensablauf im Polizeibericht des Polizeireviers K. vom 03.10.2023 vermissen lasse. Danach ist Anlass der Polizeikontrolle gewesen, dass die Polizei durch einen Taxifahrer (der Zeuge C. K., s. Strafanzeige vom 27.10.2023) verständigt wurde, weil dieser einen betrunkenen Fahrradfahrer gesehen hatte. Der Zeuge gab gegenüber der eingetroffenen Polizeibeamtin (EPHM`in C.) an, er habe beobachtet, wie der Antragsteller die S.straße in Richtung K.straße befahren habe. Der Antragsteller sei dabei auf dem Radweg gefahren, der auf der Höhe des Geldautomaten auf den Gehweg direkt neben dem Geldautomaten führe. Auf dem Gehweg sei der Antragsteller mit seinem Fahrrad mit einem dortigen Pfosten kollidiert, sodass er zum Stehen gekommen sei und von seinem Fahrrad habe absteigen müssen. Anschließend sei der Antragsteller mit seinem Fahrrad (schiebender Weise) zu dem Geldautomaten der Volksbank getaumelt, wo er – laut Polizeibericht – durch die hinzukommenden Polizeibeamten einer Kontrolle unterzogen wurde. Zwar wurden die mündlichen Angaben des Zeugen nicht (wörtlich) protokolliert und hat er seine – allerdings nicht in der Fahrerlaubnisakte befindliche – nachgereichte E-Mail trotz entsprechender Aufforderungen nicht weiter präzisiert. Jedoch hat der Antragsteller substantiierte Hinweise darauf, dass der Zeuge durch falsche Informationen einen Polizeieinsatz ausgelöst oder gegenüber der Polizeibeamtin unzutreffende (mündliche) Angaben gemacht haben sollte, nicht vorgebracht. Insbesondere ist nichts dafür ersichtlich oder vorgetragen, dass der Zeuge aus persönlichen Gründen den Antragsteller zu Unrecht belastet haben könnte. Ebenso wenig ist erkennbar oder dargelegt, dass der Polizeibericht den Inhalt der Befragung des Zeugen unzutreffend wiedergegeben haben könnte. Soweit der Antragsteller geltend macht, dass es auf Grund der Örtlichkeiten und Sichtverhältnisse nicht möglich gewesen sei, dass der Zeuge ihn an der behaupteten Stelle gesehen haben könne, wird dies nicht weiter nachvollziehbar dargelegt und entspricht auch nicht den aus Google-Street-View zu gewinnenden Erkenntnissen (zur Heranziehung solcher als allgemein bekannt bzw. zugänglich verwertbaren Erkenntnisse im gerichtlichen Verfahren vgl. FG Hamburg, Urteil vom 05.02.2015 – 3 K 45/14 – juris Rn. 33 m. w. N.). Entsprechendes gilt, soweit der Antragsteller mit seinem Vorbringen, es gebe auf dem ganzen Weg, den er am 03.10.2023 zurückgelegt habe, keinen Pfosten, die Ausführungen im Polizeibericht in Frage stellen möchte, dass er auf dem Gehweg direkt neben den Geldautomaten mit seinem Fahrrad mit einem dortigen Pfosten kollidiert sei. Der entsprechenden Google-Street-Ansicht lässt sich vielmehr entnehmen, dass in unmittelbarer Nähe des Geldautomaten der Volksbank vier Begrenzungspfosten zwischen Gehweg und dem angrenzenden E.-G.-Platz angebracht sind.

Daneben hält der Senat – ebenso wie das Verwaltungsgericht – das Vorbringen des Antragstellers, warum er das Fahrrad nur geschoben habe, damit aber nicht gefahren sei, für wenig plausibel. Es liegt zunächst fern, dass jemand, der – wie vom Antragsteller geltend gemacht – von seiner Wohnung aufbricht, um an einem Geldautomaten Bargeld abzuholen, den etwa 1 km langen Weg zu Fuß zurücklegt und dabei ohne nachvollziehbaren Grund für das Mitführen des Fahrrads dessen nutzloses Schieben in Kauf nimmt. Der Antragsteller, der zunächst mit Schreiben vom 16.03.2024 gegenüber dem Antragsgegner ohne nähere Begründung ausführte, er habe das Fahrrad geschoben, machte erstmals im Widerspruchsverfahren mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 12.08.2024 und dann im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht geltend, er habe bei der Ausfahrt der Tiefgarage seiner Wohnung bemerkt, dass das Licht am Fahrrad nicht gegangen sei, und es deswegen geschoben. Nachdem das Verwaltungsgericht diesbezüglich zutreffend davon ausgegangen ist, dass diese Sachverhaltsdarstellung des Antragstellers nicht erkläre, weshalb er nach Bemerken des defekten Lichts das Fahrrad nicht zurück in die Tiefgarage gebracht habe und sich von vornherein zu Fuß auf den Weg gemacht habe, macht der Antragsteller mit der Beschwerdebegründung geltend, dass das Licht „etwas flatterte“, sodass er nicht habe ganz einordnen können, ob die fehlende volle Funktionstauglichkeit des Fahrrads vorübergehender Natur gewesen sei, weswegen er es „in diesem Dilemma“ geschoben habe. Dieses wechselnde und jeweils angepasste Erklärungsverhalten des Antragstellers ist wenig glaubhaft und nicht geeignet, die tatsächlichen Feststellungen im Strafbefehl des Amtsgerichts K. in Frage zu stellen. Es kommt hinzu, dass es für den Senat wenig nachvollziehbar ist, dass der Antragsteller nach eigenem Vorbringen bereit war, mit über zwei Promille Fahrrad zu fahren, hiervon aber wegen des „etwas flatternden“ Lichts abgesehen haben will, weil er sich rechtstreu verhalten wollte.

Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Antragstellers bestehen auch deswegen, weil er durchgängig (etwa persönliches Schreiben vom 16.03.2024 und Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 12.08.2024 im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht) angegeben hat, er trinke selten Alkohol, weswegen er am Tattag die Wirkung seines Alkoholkonsums unterschätzt habe (persönliches Schreiben vom 16.03.2024) bzw. es für ihn umso ärgerlicher gewesen sei, ausgerechnet mit einer solchen Situation konfrontiert gewesen zu sein (Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom 12.08.2024 im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht). Denn die bei dem Antragsteller festgestellte (hohe) Blutalkoholkonzentration von 2,08 Promille deutet auf deutlich normabweichende Trinkgewohnheiten, eine ungewöhnliche Giftfestigkeit und eine dauerhafte, ausgeprägte Alkoholproblematik hin (vgl. BVerwG, Urteile vom 17.03.2021 – 3 C 3.20 – juris Rn. 312 und vom 21.05.2008 – 3 C 32.07 – juris Rn. 14; Beschlüsse des Senats vom 07.02.2024 – 13 S 1495/23 – juris Rn. 7 und vom 06.11.2023 a. a. O.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 14.10.2022 – 1 M 148/22 – juris Rn. 42; BayVGH, Beschluss vom 25.06.2019 – 11 ZB 19.187 – juris Rn. 14; vgl. auch Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung Kommentar, 3. Aufl., S. 248 ff.), mit denen sich die Angaben des Antragstellers, er trinke selten Alkohol, schwerlich in Einklang bringen lassen.

Der Senat nimmt schließlich in den Blick, dass der Antragsteller gegen den Strafbefehl des Amtsgerichts K. vom 13.11.2023 keinen Einspruch eingelegt hat. Die hierfür von dem Antragsteller auch im Beschwerdeverfahren vorgetragene Begründung, er habe „wegen Rechtsirrtum“ keinen Einspruch eingelegt, weil er angenommen habe, dass „sich die Angelegenheit durch die Zahlung erledige“, und er sei nicht davon ausgegangen, dass „seine Fahrerlaubnis durch den rechtskräftigen Strafbefehl gefährdet sein könnte“, vermag – auch vor dem Hintergrund der im Strafbefehl verhängten Gesamtgeldstrafe von 1.000,– EUR – den Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsbehelfs für den Fall, dass der Antragsteller das Fahrrad tatsächlich nur geschoben, aber nicht gefahren haben sollte, nicht plausibel zu erklären. Wenn die im Strafbefehl getroffenen Feststellungen für den Antragsteller ohne weiteres erkennbar unzutreffend gewesen wären, wäre es – auch wegen des im Strafprozess geltenden Grundsatzes „in dubio pro reo“ – naheliegend gewesen, sich gegen einen solchen ungerechtfertigten Vorwurf zu wehren.

In Zusammenschau all der aufgezeigten Umstände enthält das Vorbringen des Antragstellers keine hinreichend gewichtigen und substantiierten Hinweise auf eine eventuelle Unrichtigkeit der strafgerichtlichen Feststellungen im Strafbefehl. Der Antragsgegner konnte damit den Strafbefehl des Amtsgerichts K. vom 13.11.2023 der Gutachtensanordnung nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe c FeV zu Grunde legen.

 

Beweisantrag III: Widerspruch zur Wahrunterstellung?, oder: Was als „wahr zugesagt“ ist, muss „wahr bleiben“.

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Und dann hier im letzten Posting des Tages noch ein weiterer BGH-Beschluss, und zwar noch der BGH, Beschl. v. 30.04.2024 – 3 StR 90/23 – zur „richtigen Wahrunterstellung“.

Das LG hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt und Einziehungsentscheidungen getroffen. Dagegen die Revision, die mit der auf einen Verstoß gegen § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 6 StPO gestützten Verfahrensrüge Erfolg hatte:

„Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen suchte der Angeklagte die Nebenklägerin am Tattag in dem festen Entschluss auf, sie zu töten. Nachdem er die Tür zu ihrer Wohnung eingetreten hatte, wo sie gerade den gemeinsamen Sohn im Badezimmer versorgte, lief er zügig auf sie zu und hielt dabei die mitgeführte Schusswaffe samt Schalldämpfer mit ausgestrecktem Arm in der rechten Hand. Etwa eine Armlänge von ihr entfernt blieb der Angeklagte stehen, zielte mit der Waffe auf „Kopf-/Brusthöhe“ der Nebenklägerin und drückte unvermittelt ab, um sie zu töten. Der Schuss verfehlte die Nebenklägerin knapp. Im Anschluss an die Schussabgabe wirkte der Angeklagte in fortbestehender Tötungsabsicht durch Schläge mit der Waffe auf den Kopf der Nebenklägerin ein, bis ein hinzueilender Nachbar ihn von der Fortsetzung der Tat abhielt.

Die Strafkammer hat ihre Überzeugung von einer gezielten Schussabgabe des Angeklagten auf Kopf-/Brusthöhe der Nebenklägerin maßgeblich auf deren Angaben und ein waffentechnisches Gutachten gestützt. Die Nebenklägerin habe bekundet, der Angeklagte habe die Waffe auf Höhe ihrer Brust oder ihres Kopfes gerichtet und sodann geschossen. Auf Grundlage der waffengutachterlichen Feststellungen ist das Landgericht zu der Annahme gelangt, das Fehlgehen des Schusses sei auf die ungenaue Anvisierungsmöglichkeit der verwendeten Waffe und die Instabilität der Fluglage des Geschosses zurückzuführen, welches mit der in dem verwendeten Schalldämpfer verbauten Gummi-Lochscheibe in Kontakt gekommen sei.

II.

1. Die Revision beanstandet mit Recht, das Landgericht habe sich im Rahmen der Beweiswürdigung zu einer gemäß § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 6 StPO als wahr unterstellten Beweistatsache in Widerspruch gesetzt.

a) Dieser Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

In der Hauptverhandlung vom 16. September 2022 beantragte die Verteidigung die Vernehmung der Zeugin KOK’in K. zum Beweis der Tatsache, dass die Nebenklägerin im Rahmen ihrer Vernehmung vom 12. Januar 2022 befragt dazu, wie der Angeklagte die Waffe zum Zeitpunkt der Schussabgabe gehalten habe, antwortete: „Er stand tatsächlich dann mit der Waffe vor mir, hatte dann geschossen, aber ich weiß nicht, wohin er geschossen hat. Ob es jetzt an meinem Kopf war, daneben oder in die Richtung, ich kann es nicht sagen.“ Die Schwurgerichtskammer wies den Antrag in der Hauptverhandlung vom 30. September 2022 zurück, da die behauptete Beweistatsache so behandelt werden könne, als wäre sie wahr.

In den Urteilsgründen hat das Landgericht im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt, die Angaben der Nebenklägerin stünden einem bewussten Danebenhalten und Zielen in Richtung des Badezimmers entgegen. Sie habe in der Hauptverhandlung als Zeugin bekundet, der Angeklagte sei bis auf Armeslänge schnell an sie herangelaufen. Zu dieser Zeit habe er die Schusswaffe in der rechten Hand etwa in Brust-/Bauchhöhe gehalten. Dann habe er die Waffe mit ausgestrecktem Arm „auf Höhe ihrer Brust oder ihres Kopfes gerichtet und sogleich abgedrückt“. Aus welchem Grund die Kugel sie nicht getroffen habe, könne sie nicht sagen. „Diese Angaben stimmten mit ihrer Aussage im Rahmen der polizeilichen Vernehmung überein.“

b) Im Falle der Ablehnung eines Beweisantrags wegen Wahrunterstellung gilt Folgendes:

Das Tatgericht muss bei der Urteilsfindung die Zusage einlösen, eine bestimmte Behauptung zugunsten des Angeklagten als wahr zu behandeln. Die Urteilsgründe dürfen sich mit einer – bis zum Schluss der Hauptverhandlung unwiderrufen gebliebenen – Wahrunterstellung nicht in Widerspruch setzen. Denn der Angeklagte kann grundsätzlich auf die Einhaltung einer solchen Zusage vertrauen und danach seine Verteidigung einrichten. In diesem berechtigten Vertrauen wird er enttäuscht, wenn das Gericht von der Wahrunterstellung abrückt (BGH, Beschluss vom 4. Februar 2020 – 3 StR 313/19, NStZ 2020, 690 Rn. 6 mwN; Urteil vom 6. Juli 1983 – 2 StR 222/83, BGHSt 32, 44, 46 f.; s. zum Ganzen auch LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 288 ff., zu den Urteilsgründen Rn. 315 ff.). Die als wahr unterstellte Beweistatsache ist in ihrer Bedeutung, wie sie sich nach dem Sinn und Zweck des Beweisantrags ergibt, ohne Verkürzung, Umdeutung oder sonstige inhaltliche Änderung als wahr – d.h. als erwiesen (so schon BGH, Urteile vom 14. Juli 1961 – 4 StR 191/61, NJW 1961, 2069; vom 4. Mai 1951 – 4 StR 216/51, BGHSt 1, 137, 139) – zu behandeln und dem Urteil zugrunde zu legen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 28. August 2002 – 1 StR 277/02, NStZ 2003, 101 Rn. 3; vom 13. Oktober 2021 – 2 StR 477/19, NStZ 2022, 501 Rn. 10 mwN; Urteile vom 8. November 1999 – 5 StR 632/98, NJW 2000, 443, 445; vom 13. Dezember 1967 – 2 StR 619/67, NJW 1968, 1293; s. hierzu auch MüKoStPO/Trüg/Habetha, 2. Aufl., § 244 Rn. 344 mwN).

c) Gemessen an diesen Maßstäben liegt ein Verstoß gegen das Kongruenzgebot des § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 6 StPO vor.

Die Strafkammer hat sich mit ihren die Konstanz der Angaben der Nebenklägerin betreffenden Ausführungen in den Urteilsgründen zu der von ihr als wahr unterstellten Beweistatsache in Widerspruch gesetzt.

Der als wahr unterstellten Beweisbehauptung zufolge hat die Nebenklägerin im Ermittlungsverfahren angegeben, nicht sagen zu können, wohin der Angeklagte geschossen habe, und hierbei auch die Variante, er habe „daneben“ geschossen, ausdrücklich genannt. Demgegenüber besteht bei den in den Urteilsgründen genannten Angaben der Nebenklägerin zu der Schussabgabe die Varianz lediglich in Bezug auf die Körperregion (Brust oder Kopf). Die explizite Nennung der Variante „daneben“ stellt sich vorliegend als erhebliche Abweichung zu den in den Urteilsgründen genannten Angaben der Nebenklägerin dar, so dass entgegen den Ausführungen der Strafkammer diese gerade nicht mit ihrer als wahr unterstellten Aussage im Rahmen der polizeilichen Vernehmung übereinstimmen.

Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts sind die divergierenden Angaben insoweit auch nicht lediglich als unterschiedliche Formulierungen einer Unsicherheit der Nebenklägerin in Bezug auf die Frage zu verstehen, wohin der Angeklagte die Waffe vor der Schussabgabe richtete. Bei einer Schussabgabe in Höhe der Brust oder des Kopfes der Nebenklägerin oder aber eines „daneben“ Schießens handelt es sich nach dem maßgeblichen Sinngehalt der Angaben um zwei unterschiedliche Sachverhaltsvarianten, da einzig die letztgenannte Alternative die Möglichkeit einer das Tatopfer intentional verfehlenden Schussabgabe eröffnet.

d) Das Urteil beruht auch auf dem dargelegten Verfahrensfehler, § 337 Abs. 1 StPO. Es ist nicht auszuschließen, dass die Strafkammer hinsichtlich der für die Annahme des Tötungsvorsatzes des Angeklagten relevanten Beurteilung der gezielten Schussabgabe auf Kopf-/Brusthöhe der Nebenklägerin zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn die als wahr unterstellte Tatsache widerspruchsfrei Berücksichtigung gefunden hätte.“11, NStZ 2012, 49).

Bindung an die gerichtliche Auslagenentscheidung, oder: Der Rechtspfleger kann nicht machen, was er will

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Und heute dann – bevor wir in das 2. Adventswochenende überleiten – noch ein wenig Gebührenrecht. Und da stelle ich zunächst den LG Aachen, Beschl. v. 20.09.2021 – 60 Qs 46/21 – vor.

Ergangen ist er in einem Verfahren, in dem der Angeklagten gemeinschaftlicher versuchter Diebstahl vorgeworfen worden ist. Die Angeklagte ist vom AG freigesprochen worden. Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Freispruch der drei Angeklagten Berufung eingelegt.

Das LG hat daraufhin zunächst Berufungshauptverhandlungstermin auf den 28.11.2019 bestimmt worden. In diesem Hauptverhandlungstermin erschien einer der Mitangeklagten nicht. Die Berufungshauptverhandlung am 28.11.2019 dauerte von 9:00 Uhr bis 9:16 Uhr. Neuer Termin zur Berufungshauptverhandlung wurde dann bestimmt auf den 29.01.2020, nachdem das Verfahren gegen einen der Mitangeklagten abgetrennt worden war. Im Termin zur Berufungshauptverhandlung am 29.01.2020 erschienen beide verbliebenen Angeklagten trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt nicht. Das Landgericht hat sodann neuen Termin zur Berufungshauptverhandlung bestimmt auf den 23.11.2020. In der am 23.11.2020 von 13:00 Uhr bis 14:42 Uhr durchgeführten Berufungshauptverhandlung hat die Staatsanwaltschaft nach durchgeführter Beweisaufnahme die Berufung gegen die ehemaligen Angeklagte zurückgenommen. Das LG hat der Staatskasse die Kosten der von der Staatsanwaltschaft gegen die (ehemalige) Angeklagte eingelegten und wieder zurückgenommenen Berufung, sowie insoweit auch die notwendigen Auslagen der (ehemaligen) Angeklagten auferlegt.

Der Verteidiger der Angeklagten hat Auslagenerstattung für den Angeklagten beantragt. Er hat beantragt, für das Berufungsverfahren einen Betrag in Höhe von insgesamt 2.319,85 EUR gegen die Staatskasse festzusetzen. Geltend gemacht worden sind u.a.:  Verfahrensgebühr für das Berufungsverfahren gem. Nr. 4124 RVG 560,00 EUR, Terminsgebühr für den HVT am 28.11.2019 und 29.01.2020 – 2 x 320,00 EUR gem. Nr. 4126 RVG 640,00 EURm Terminsgebühr für den HVT 23.11.2020 gem. Nr. 4126 RVG 384,00 EUR sowie Terminsauslagen für die Hauptverhandlungstermine, Abwesenheitsgelder und weitere Auslagen.

Nachdem der Vertreter der Staatskasse teilweise ablehnend Stellung genommen hat, hat das AG nach einem längeren Schriftwechsel die Gebühren für das Berufungsverfahren nur teilweise festgesetzt. Zum Teil hat es die Gebühren als unbillig i.S. des § 14 Abs. 1 RVG angesehen. Für den Hauptverhandlungstermin vom 29.01.2020 hat es die Festsetzung einer Terminsgebühr insgesamt abgelehnt. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Verteidigers hatte zum Teil Erfolg. Soweit sich die frühere Angeklagte gegen die Reduzierung der Verfahrensgebühr und der Terminsgebühren für die Hauptverhandlungstermine am 28.11.2019 und am 30.11.2020 gewendet hat, ist das Rechtsmittel erfolglos geblieben. Es hatte hingegen Erfolg, soweit das AG die Terminsgebühr für den Hauptverhandlungstermin am 29.1.2020 gänzlich abgesetzt hatte. Dazu führt das LG aus:

„bb) Soweit das Amtsgericht die Terminsgebühr für den Hauptverhandlungstermin am 29.01.2020 vollständig abgesetzt hat, ist dies zu Unrecht erfolgt.

(1) Zwar ist es zutreffend, dass die ehemalige Angeklagte dem Hauptverhandlungstermin unentschuldigt ferngeblieben ist. Dies führt jedoch nach Auffassung der Kammer in der aktuellen Besetzung nicht dazu, dass die für diesen Termin angefallene Terminsgebühr nicht erstattungsfähig, da nicht notwendig im Sinne von § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO i.V.m. § 91 ZPO zu betrachten wäre.

Die Kammer hält somit an ihrer vormaligen, u.a. der Rechtsprechung des Amtsgerichts Tiergarten (Beschluss vom 11.01.2016 – 232b Ds 10/15 -, juris) folgenden Rechtsauffassung (LG Aachen, vom 26.05.2021-60 Qs 18/21 -, juris) nicht mehr fest. Vielmehr folgt die Kammer nunmehr der auch zuvor bereits von einer anderen Kammer des Landgerichts Aachen vertretenen, vom Verteidiger der ehemaligen Angeklagten zitierten Entscheidung (LG Aachen, Beschluss vom 9. März 2020 – 99 Qs 2/20, nicht veröffentlicht). Danach ist von maßgeblicher Relevanz, dass das Gesetz die Möglichkeit, auf die schuldhafte Verursachung von Kosten durch den Angeklagten zu reagieren, ausschließlich dem Erkenntnisverfahren vorbehält und in § 467 Abs. 2 StPO vorgeschrieben ist, dass von einer Überbürdung von Auslagen auf die Staatskasse abzusehen ist, wenn der Angeklagte diese durch eine schuldhafte Säumnis verursacht hat. Ein solcher Anspruch erfolgt in der Kostenentscheidung des Urteils bzw. eines entsprechenden Beschlusses. Das erkennende Gericht hat hier aber eine dementsprechende Kostenentscheidung nicht getroffen, sondern die notwendigen Auslagen uneingeschränkt der Staatskasse auferlegt. Für das Kostenfestsetzungsverfahren existiert eine dem § 467 Abs. 2 StPO entsprechende Vorschrift dagegen nicht. Vielmehr stellen die Gebühren und Auslagen, die der Verteidiger berechtigterweise von dem Mandanten verlangen kann, kraft gesetzlicher Bestimmung in Gänze dessen notwendige Auslagen dar (LG Mühlhausen, Beschluss vom 11.12.2003 – 3 Qs 366/02, StraFo 2003, 435). Das Festsetzungsverfahren nach § 464b StPO hat allein die Aufgabe, ziffernmäßig die Höhe der notwendigen Auslagen festzusetzen, bezüglich deren eine rechtskräftige gerichtliche Grundentscheidung vorliegt (Hilger in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, § 464 Rn 29). Deshalb ist es ausgeschlossen, unvollständige oder fehlerhafte Grundentscheidungen des erkennenden Gerichts in diesem Verfahren zu korrigieren (Hilger, a.a.O. m.w.Nachw.). Deshalb ist es auch nicht zulässig, bei – wie hier – uneingeschränkter Auslagenüberbürdung auf die Staatskasse die Erstattung – dennoch – mit der Begründung abzulehnen, das erkennende Gericht habe Umstände im Sinne des § 467 Abs. 2 oder Abs. 3 Satz 1, 2 oder die in § 464 Abs. 2 bis 4 eingeräumten Entscheidungsmöglichkeiten übersehen oder verkannt (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 02.10.1989 – 2 Ws 475/89 -, NStZ 1990, 204; Hilger, a.a.O. m.w.Nachw.; vgl. auch Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Beschluss vom 18.06.1999 – 1 Ws 65/99 -, juris Rn 9).

Demnach ist die Terminsgebühr für den Hauptverhandlungstermin am 29.01.2020 grundsätzlich erstattungsfähig.

(2) Was die Höhe der Terminsgebühr betrifft, kann weitgehend auf die vorstehenden Ausführungen unter 3. b) aa) Bezug genommen werden. …..“

Wegen der Bemessung der Gebühren: Selbstleseverfahren 🙂 .

OWI I: Das OLG Karlsruhe und das VerfG Saarland-Urteil, oder: Wir halten (natürlich) an unserer Rechtsprechung fest

entnommen wikimedia.org
Author Hubi47

Heute dann drei OWi-Entscheidungen.

Ich hatte gestern über den OLG Stuttgart, Beschl. v. 18.07.2019 – 6 Rb 28 Ss 618/19 – berichtet (vgl. dazu:  Das OLG Stuttgart und das VerfG Saarland-Urteil, oder: Man hört die Felsbrocken vom Herzen fallen….). 

Dazu passt dann ganz gut der OLG Karlsruhe, Beschl. v. 23.7.2019 – 2 Rb 9 Ss 355/19. Der befasst sich nämlich ebenfalls mit der Umsetzung des VerfG Saarland-Urteil, und zwar wie folgt:

„Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass nach gefestigter, vom Senat geteilter obergerichtlicher Rechtsprechung die Zulassung bzw. Erteilung einer Konformitätserklärung durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt die Einstufung eines Messgerätes als standardisiertes Messverfahren  rechtfertigt (OLG Karlsruhe – Senat – ZfS 2017, 532 m.w.N.), so dass sich der Tatrichter, nachdem er sich von dem vorschriftsgemäßen Einsatz des Geräts überzeugt hat, im Urteil auf die Wiedergabe des verwendeten Gerätes, des Messergebnisses und des Toleranzabzugs beschränken kann (BGHSt 39, 291; 43, 277), und dem nicht entgegensteht, dass die Bildung des konkreten Messergebnisses im Nachhinein nicht im Einzelnen nachvollzögen werden kann (OLG Karlsruhe – Senat – a.a.O. m.w.N.). Daran hält der Senat auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes vom 5.7.2019 (Lv 7/17) fest. Soweit dabei in der fehlenden Speicherung der Rohmessdaten eine Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren mit der Folge eines Verwertungsverbots angenommen wurde, kann dies dem Antrag schon deshalb nicht zum Erfolg verhelfen, weil die Verwertbarkeit von Beweisergebnissen eine Frage des prozessualen Rechts ist, die durch § 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG der Nachprüfung durch den Senat entzogen ist. Zudem bedarf die Behauptung der Verletzung formellen Rechts einer Verfahrensrüge, die – soweit es um die vom Verfassungsgerichtshof des Saarlandes aufgegriffene Frage geht – innerhalb der Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde nicht erhoben wurde.“

Auch bei der Entscheidung hört man die Felsbrocken plumpsen. 🙂

Im Übrigen: Mich überrascht die Entscheidung in der Sache nicht. Mich hätte es eher überrascht, wenn das OLG (Karlsruhe) sich dem VerfG Saarland angeschlossen hätte. Was mich allerdings erstaunt ist die Art und Weise, wie man mit dem Urteil der VerfG Saarland umgeht. Man gönnt dem Urteil gerade einen Satz und den Hinweis auf eigene Rechtsprechung, so nach dem Motto: Wir können es besser und haben es immer schon besser gewusst. Schon erstaunlich, wie man mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts eines anderen Bundeslandes umgeht, obwohl wir diese Art und Weise ja schon vom OLG Bamberg kennen.

Und das Ganze dann natürlich durch den Einzelrichter (bitte nicht irritieren lassen durch die Formulierung: „durch die unterzeichnenden Richter“ – unterzeichnet ist nur von einem Richter). Auch das ist bemerkenswert. Na ja, vielleicht inzwischen auch nicht mehr.

Das Verkehrsministerium Baden-Württemberg wird solche Beschlüsse freuen. Ihm und seinem Aufruf „Kein Freibrief für Temposünder im Land” (dazu: Kein Freibrief für Temposünder im Land, oder: Einfach frech die Baden-Württemberger) folgen nicht nur die Verwaltungsbehörden, sondern offenbar auch die Gerichte. Man kann nur hoffen, dass da möglichst bald aus Karlsruhe ein Verdikt kommt.