Schlagwort-Archive: OLG Braunschweig

Rechtsmittel I: Rechtsmitteleinlegung per beA, oder: falsches Dateiformat, „fremdes“ beA, Ersatzeinreichung

Bild von Clker-Free-Vector-Images auf Pixabay

Und in die 47 KW. geht es dann mal wieder mit einigen Entscheidungen zur Rechtsmitteleinlegung. Drei von den vier Entscheidungen, die ich heute vorstelle, befassen sich mit dem beA/elektronischen Dokument, eine hat nichts damit zu tun. Daher würde die „Themen-Überschrift“ „beA“ nicht bei allen Postings passen. Ich habe deshalb „Rechtsmittel“ genommen.

Hier dann zuerst die drei „beA_Entscheidungen“:

Allein der Umstand, dass Schriftsätze entgegen § 32a Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 2 Abs. 1 Satz 1, § 14 ERVV nicht im Dateiformat pdf, sondern im Dateiformat docx eingereicht worden, führt nicht zur Formungültigkeit der darin enthaltenen Prozesserklärungen. Formunwirksamkeit tritt nur nur dann eintreten, wenn der Verstoß dazu führt, dass im konkreten Fall eine Bearbeitung durch das Gericht nicht möglich ist. Demgegenüber führen rein formale Verstöße gegen die ERVV dann nicht zur Formunwirksamkeit des Eingangs, wenn das Gericht das elektronische Dokument gleichwohl bearbeiten kann.

Eine vom Verteidiger maschinenschriftlich signierte Revisionseinlegungsschrift, die aus einem besonderen elektronischen Anwaltspostfach eines nicht am Verfahren beteiligten anderen Rechtsanwalts übersandt und durch diesen qualifiziert elektronisch signiert worden ist, genügt nicht den Anforderungen der §§ 341 Abs. 1, 32d Satz 2, 32a Abs. 3 StPO.

    1. Für eine wirksame Ersatzeinreichung gemäß § 130d Satz 2 und Satz 3 ZPO muss der Rechtsanwalt darlegen und glaubhaft machen, dass die elektronische Übermittlung im Zeitpunkt der beabsichtigten Einreichung aus technischen Gründen unmöglich war. Gleiches gilt für die vorübergehende Natur des technischen Defektes. Es genügt eine (laienverständliche) Darstellung des Defektes und der zu seiner Behebung getroffenen Maßnahmen.
    2. Bezüglich des Zeitpunktes der erforderlichen Darlegung und Glaubhaftmachung kommt nach dem Wortlaut von § 130d Satz 3 ZPO („oder“) dem Zeitpunkt der Ersatzeinreichung selbst kein Vorrang gegenüber der – dann jedoch „unverzüglichen“ – Nachholung zu.
    3. Im Anwendungsbereich des § 130d Satz 3 ZPO genügt für die Glaubhaftmachung eine (formgerechte) anwaltliche Versicherung über das Scheitern der Übermittlung. Fehlt diese bzw. wird sie nicht ohne schuldhaftes Zögern beigebracht, ist die Ersatzeinreichung unwirksam.

StGB II: Unverändertes Hakenkreuz bei Facebook, oder: Ist das strafbar oder von der Meinungsfreiheit gedeckt?

entnommen wikimedia.org
Urheber Munhuu94 – Own work

Bei der zweiten Entscheidung zu der heutigen Thematik handelt es sich um das OLG Braunschweig, Urt. v. 05.10.2022 – 1 Ss 34/22. Auch in der Entscheidung geht es um das Vorliegen des (objektiven) Tatbestandes des § 86a StGB bei öffentlicher Verwendung des Hakenkreuzes durch Posten auf einer sozialen Internetplattform, in diesem Fall bei Facebook.

Das AG hatte die Angeklagte vom Vorwurf des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB) freigesprochen. Die dagegen eingelegte Berufung der Staatsanwaltschaft hatte das LG verworfen. Dagegen dann jetzt die Revision der Staatsanwaltschaft, die zur Aufhebung geführt hat.

Das LG hatte folgenden Feststellungen getroffen:

„Die Angeklagte ist Nutzer des sozialen Netzwerks „Facebook“ und unterhält dort unter dem Namen „B. W.“ ein privates Profil, auf dem sie diverse Beiträge postet. Da die Angeklagte beruflich in der Altenpflege tätig ist, aus gesundheitlichen Gründen sich jedoch nicht gegen „Corona“, also das SARS-Cov-2-Virus, impfen lassen kann oder will und deshalb um den Verlust ihres Arbeitsplatzes fürchtete, hat sie die politische Debatte und Entscheidungsfindung über die Einführung einer allgemeinen oder der sogenannten einrichtungsbezogenen Impfpflicht intensiv verfolgt und mit diversen kritischen, eine Impfpflicht ablehnenden Beiträgen auch in ihrem Facebook-Profil kommentiert.

Insoweit postete sie unter anderem am 14.5.2021 um 16:19 Uhr die nachfolgende Abbildung:

Die Angeklagte, die sich durch eine ihre Berufsgruppe betreffende Impfpflicht diskriminiert sieht, weil ihr hierdurch „Türen verschlossen“ werden, hatte diese Abbildung zuvor an anderer Stelle im Internet gefunden und auf ihr Facebook-Profil übernommen. Mit ihrem Post bezweckte sie, anderen im Sinne einer „Warnung“ ihre Meinung kundzutun, dass Geschichte sich wiederhole, nämlich ihrer Auffassung nach der bundesdeutsche Staat mit Blick auf die Corona-Impfung seine Macht ähnlich rücksichtslos einsetze und die Rechte seiner Bürger missachte wie seinerzeit die nationalsozialistische Diktatur.

Beiträge, die sich inhaltlich an ideologisches Gedankengut der NS-Diktatur anlehnten oder dieses gar ausdrücklich befürworteten oder sonst den Eindruck erwecken konnten, die Angeklagte sympathisiere mit der nationalsozialistischen Ideologie oder deren Protagonisten, hatte die Angeklagte auf ihrem genannten Facebook-Profil nicht eingestellt. Vielmehr lehnt die Angeklagte, die bislang in keiner Weise polizeilich oder gar staatsschutzpolizeilich aufgefallen ist, rechtsradikales Gedankengut nachdrücklich ab.“

Im Rahmen der rechtlichen Würdigung hat die Kammer sodann unter Ziff. IV. des Urteils ausgeführt, dass diese Feststellungen einen Schuldspruch der Angeklagten wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gem. § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht trügen.

Zwar bestünde zunächst kein Zweifel daran, dass das auf dem unteren Gesundheitspass abgebildete Hakenkreuz ein Kennzeichen im Sinne des § 86a Abs. 1 StGB sei, da dieses das Parteiabzeichen der NSDAP und damit einer nationalsozialistischen Organisation im Sinne von § 86 Abs. 1 Nr. 4 StGB sei, auf welchen § 86a Abs. 1 StGB verweise. Auch sei der von der Angeklagten gepostete Beitrag ein Inhalt, der dieses Kennzeichen enthalte, und die Angeklagte habe das Kennzeichen in einem von ihr verbreiteten Inhalt verwendet, da das Facebook-Profil der Angeklagten, das diesen Inhalt umfasse, für eine unbestimmte größere Anzahl von Facebook-Nutzern einsehbar gewesen sei, so dass die festgestellte Handlung zumindest objektiv dem Wortlaut des Tatbestandes des § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB unterfalle.

Gleichwohl sei die festgestellte Handlung keine tatbestandsmäßige Verletzung der genannten Strafnorm. Denn es sei in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass der (zu) weit gefasste Tatbestand einer aus Sinn und Zweck der Norm erwachsenden Begrenzung bedürfe, da die Strafnorm grundsätzlich weder einer inhaltlichen Zustimmung des Täters zu dem von dem Kennzeichen verkörperten Gedankengut noch die konkrete Gefahr einer identifizierenden Wirkung der Verwendung des Kennzeichens voraussetze. Als tatbestandsmäßig würden daher nur Handlungen angesehen, die im Einzelfall geeignet seien, bei objektiven Beobachtern den Eindruck einer Identifikation des Handelnden mit den Zielen der verbotenen Organisation, deren Kennzeichen er verwende, zu erwecken; nicht tatbestandsmäßig seien demgegenüber solche Handlungen, die dem Schutzzweck der Norm erkennbar nicht zuwiderliefen. Im vorliegenden Fall erscheine es geradezu ausgeschlossen, dass ein Betrachter des festgestellten Posts annehmen könne, die Angeklagte sympathisiere mit den Parteizielen der NSDAP, der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik oder dem Nationalsozialismus im Allgemeinen. Die Nebeneinanderstellung des Musters eines modernen Gesundheitspasses, der ausschließlich bezwecke, den Inhaber als „Corona-negativ“ auszuweisen, und des Gesundheitspasses aus der NS-Zeit mit dem Textzusatz „Die Geschichte wiederholt sich. Das Drehbuch wird immer billiger“ könne niemand als Befürwortung des mit dem Hakenkreuz verbundenen Symbolgehalts ansehen, schon gar nicht vor dem Hintergrund der aus dem Facebook-Profil im Übrigen eindeutig erkennbaren Gegnerschaft der Angeklagten zu der gegenwärtigen Corona- bzw. Impfpolitik. Vielmehr werde eindeutig der NS-Gesundheitspass als abschreckende, negative Parallele dargestellt, um die vermeintliche Verwerflichkeit der gegenwärtigen Gesundheitspolitik zu brandmarken. Diese Meinung möge weit überzogen und geradezu geschichtsvergessen sein, dies ändere aber nichts daran, dass für einen neutralen Betrachter das mit dem Hakenkreuz versehene Dokument in der hiesigen Veröffentlichung klar für diejenige Haltung bzw. Politik stehe, gegen die sich die Angeklagte wenden wolle. Nach Auffassung der Kammer könne selbst nur ein flüchtiger Betrachter nicht zu dem Eindruck gelangen, der Verfasser des Posts solidarisiere sich in irgendeiner Weise mit nationalsozialistischer Ideologie; warum demgegenüber die Staatsanwaltschaft meine, dass nicht erkennbar sei, ob der Beitrag eine Distanzierung von Methoden der NS-Zeit enthalte, sei für die Kammer rätselhaft. Die vorliegende Fallgestaltung – Impfgegnerin, die öffentlich ein Dokument mit Hakenkreuz abbildet, um gegen vermeintlich „nazi-ähnliches“ Vorgehen der aktuellen (Gesundheits-) Politik zu protestieren – unterscheide sich in keinem wesentlichen Punkt von derjenigen – Linksdemonstrant, der in der Öffentlichkeit einem Polizeibeamten den Hitlergruß zeige und „Sieg Heil!“ rufe, um gegen „nazistische Methoden“ der Polizei zu protestieren –, der der Entscheidung BGHSt 25, 30 zugrunde gelegen habe und in der der BGH es für zumindest naheliegend erachtet habe, dass kein Verstoß gegen § 86a StGB gegeben sei.“

Diese Auffassung teilt das OLG nicht. Es führt zur „Restriktion“ aus – Rest bitte im verlinkten Volltext lesen:

„….

Die obergerichtliche Rechtsprechung differenziert vor dem Hintergrund des oben genannten dritten Schutzzweckes (Verhinderung der Wiedereinbürgerung) danach, ob das Kennzeichen nur kurz in das äußere Erscheinungsbild getreten ist und keine Nachwirkung anzunehmen ist (BGH, Urteil vom 18. Oktober 1972, a.a.O.; OLG Oldenburg, Beschluss vom 28. November 1985, Ss 575/18, NJW 1986, 1275).

Im vorliegenden Fall steht der Schutzzweck, das Kennzeichen aus dem politischen Leben zu verbannen, einer teleologischen Reduktion entgegen.

Denn es handelt sich keineswegs um eine nur flüchtige Verwendung des Kennzeichens. Nach den Feststellungen der Kammer hat die Angeklagte den Gesundheitspass mit dem aufgedruckten – und unveränderten – Hakenkreuz in ihr Facebook-Profil eingestellt. Zwar fehlt es an einer Feststellung, wie lange der Post dort sichtbar gewesen ist; jedoch kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass er zumindest einige Zeit dort – jedenfalls für die Facebook-„Freunde“ oder sonstige Personen oder Gruppen, die der Angeklagten auf Facebook folgen – sichtbar gewesen ist. Darüber hinaus besteht bei der Veröffentlichung des Hakenkreuzes im Internet auf der sozialen Plattform Facebook die Gefahr einer zahlenmäßig nicht zu kontrollierenden Verbreitung der Abbildung. So hatten die „Freunde“ bzw. „Follower“ der Angeklagten die Möglichkeit, ihren Post zu „liken“ bzw. ihrerseits wiederum zu posten, mit der Folge, dass das Hakenkreuz dann für deren „Freunde“ und „Follower“ sichtbar gewesen wäre. Schon darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu der Entscheidung des Bundesgerichtshofes, auf die sich die Kammer gestützt hat (Urteil vom 18. Oktober 1972, 3 StR 1/71 I, BGHSt 25, 30 – 35). In jenem Fall hatte der Angeklagte die Kennzeichen (Zeigen des sogenannten „Hitlergrußes“ und „Sieg Heil“-Ruf) nur einmalig verwendet, so dass die Kennzeichen nur kurz in das äußere Erscheinungsbild traten und damit eine Nachwirkung auf Dritte in einer dem Symbolgehalt dieser Kennzeichen entsprechenden Richtung von vorneherein ausgeschlossen war.

Dass der Post – mag dies auch ohne Zutun der Angeklagten geschehen sein – tatsächlich Breitenwirkung erzielt hat, lässt sich im Übrigen allgemein zugänglichen Quellen entnehmen. So ist der Antwort der Sächsischen Staatsregierung vom 29. November 2021 auf eine kleine Anfrage (Drs. 7/8055) zu entnehmen, dass ein gleicher Post vom 16. Mai 2021 zu einem Ermittlungsverfahren geführt hat. Und in dem Verfassungsschutzbericht 2021 des Landes Baden-Württemberg wird ausgeführt, dass der historische Nationalsozialismus mit seinen Verbrechen gegen Juden mit – hauptsächlich online verbreiteten – Äußerungen wie „Die Geschichte wiederholt sich. Das Drehbuch wird immer billiger“ relativiert würde (Seite 70).

Hinzu kommt, dass sich die Angeklagte in dem tatgegenständlichen Post gerade nicht offensichtlich von der NSDAP oder der dieser zugrundeliegenden Ideologie distanziert hat. Der Bundesgerichtshof hat dies bislang in Fällen angenommen, in denen eine Distanzierung zum Beispiel mittels Durchstreichungen des Kennzeichens, Darstellungen der Zerstörung des betreffenden Kennzeichens oder dessen Kombination mit der üblichen Symbolik aus dem Bereich der Abfallentsorgung („Umweltmännchen“) erfolgt und damit die Gegnerschaft zu der Organisation und die Bekämpfung ihrer Ideologie zum Ausdruck gebracht wird (BGH, Urteil vom 15. März 2007, 3 StR 486/06, juris; weitere Nachweise aus der Rechtsprechung bei Anstötz in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl., § 86a, Rn. 21). Eine solche optische Distanzierung ist der tatgegenständlichen Abbildung des Hakenkreuzes indes gerade nicht zu entnehmen.

Aber auch die Wertung der Kammer, „die Nebeneinanderstellung des Musters eines modernen Gesundheitspasses, der ausschließlich bezwecke, den Inhaber als „Corona-negativ“ auszuweisen, und des Gesundheitspasses aus der NS-Zeit mit dem Textzusatz „Die Geschichte wiederholt sich. Das Drehbuch wird immer billiger“ könne niemand als Befürwortung des mit dem Hakenkreuz verbundenen Symbolgehalts ansehen, schon gar nicht vor dem Hintergrund der aus dem Facebook-Profil im Übrigen eindeutig erkennbaren Gegnerschaft der Angeklagten zu der gegenwärtigen Corona- bzw. Impfpolitik“, ist keineswegs so eindeutig, wie die Kammer meint. Wie sich die Einstellung der Angeklagten zu den Werten und Zielen der NSDAP verhält, ob sie diese ablehnt oder befürwortet, ergibt sich aus dem Post selbst nicht. Das Hakenkreuz ist unverändert dargestellt. Aus dem Textzusatz „Die Geschichte wiederholt sich. Das Drehbuch wird immer billiger“ kann nicht nur – wie die Kammer meint – der Schluss gezogen werden, dass damit der mit dem Hakenkreuz verbundene Symbolgehalt abgelehnt werde. Diese Wertung setzt zum einen das Wissen voraus, dass die Angeklagte Impfgegnerin bzw. Gegnerin der aktuellen Coronapolitik ist. Zum anderen erfordert sie die Kenntnis, dass die Angeklagte die Ideologie der Nationalsozialisten sowie deren Symbole ablehnt. Beide Umstände ergeben sich aus dem Post selbst nicht. Die Worte „immer billiger“ implizieren auch, dass das damalige Drehbuch (im Dritten Reich) weniger billig, mithin nicht ganz so schlecht wie heute war. Die Kammer hat nicht bedacht, dass für die Freunde und Follower der Angeklagten auf deren Facebook-Startseite im sogenannten „Feed“ zunächst nur der fragliche Post der Angeklagten – zusammen mit weiteren neuesten Nachrichten und Posts anderer Personen – angezeigt wird. Um nachzuvollziehen, welcher Art die weiteren Posts der Angeklagten sind – aus denen sich nach den Feststellungen der Kammer ihre Gegnerschaft zur gegenwärtigen Corona- bzw. Impfpolitik ergibt –, bedarf es eines Aktivwerdens des Betrachters, indem er das Profil der Angeklagten aufruft, um deren „timeline“ (früher: Facebook-Chronik) zu sehen. Die Feststellung der Kammer, die Angeklagte grenze sich von nationalsozialistischem Gedankengut ab, ergibt sich weder aus dem Post selbst noch aus den weiteren Posts in ihrer „timeline“, sondern beruht offenbar auf ihrer Einlassung in der Hauptverhandlung.“

Obliegenheitsverletzung nach einem Verkehrsunfall, oder: Unerlaubtes Entfernen und/oder Nachtrunk

Bild von klimkin auf Pixabay

Heute dann mal kein beA im „Kessel Buntes“, sondern mal wieder – seit längerem – zivilverkehrsrechtliche Entscheidungen.

Ich beginne mit dem OLG Braunschweig, Beschl. v. 28.02.2022 – 11 U 176/20 -, einem nach § 522 Abs. 2 ZPO ergangenen Hinweisbeschluss. Das OLG nimmt zur Berufung eines Versicherungsnehmers Stellung, der nach einem Verkehrsunfall Ansprüche aus seiner Kaskoversicherung geltend gemacht hat. Der Kläger war mit seinem Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von circa 20 km/h gegen eine Laterne gefahren. Er hatte nicht an der Unfallstelle gewartet, sondern sich zu dem nahe gelegenen Haus seiner Eltern begeben. Dort wurde von Polizeibeamten angetroffen. Die von der Polizei circa 1,5 Stunden nach dem Unfall entnommene Blutprobe des Klägers wies 2,79 Promille auf. Mit seiner Klage begehrte er den Ersatz der an seinem Fahrzeug entstandenen Schäden sowie die Zahlung der Reparaturkosten für die Laterne. Die beklagte Versicherung lehnte dies aufgrund der erheblichen Alkoholisierung des Klägers ab. Der Kläger hat behauptet, nach dem Unfall 0,7 Liter Wodka getrunken und sich schlafen gelegt zu haben. Den behaupteten „Nachtrunk“ hat die Versicherung als nicht plausibel angesehen.

Das LG hat die Klage gegen die Versicherung abgewiesen. Das OLG tritt dem in seinem Hinweisbeschluss bei:

„Dem Kläger steht ein Anspruch auf Ersatz seiner eigenen Reparaturkosten sowie der seitens der Stadt ihm gegenüber geltend gemachten Kosten gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 VVG i.V.m. A.1, A.2 AKB nicht zu.

Die Beklagte ist nach E.7.1 AKB i.V.m. § 28 Abs. 2 Satz 1 VVG leistungsfrei, da der Kläger seine Aufklärungsobliegenheit aus E.1.3 AKB verletzt hat, indem er nach seinen eigenen Angaben nach dem Unfallgeschehen 0,7 l Wodka zu sich genommen und damit eine zuverlässige Ermittlung seines Blutalkoholgehalts zur Unfallzeit vereitelt hat. Diese Ermittlung hätte es der Beklagten ermöglicht zu prüfen, ob sie sich auf eine Leistungsfreiheit wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls nach A.2.9.1, D.1 AKB hätte berufen können.

a) Was zum Inhalt einer durch Leistungsfreiheit sanktionierten Obliegenheit im Sinne von § 28 Abs. 2 VVG gehört, ergibt sich grundsätzlich aus den zwischen den Parteien des Versicherungsvertrages getroffenen Vereinbarungen, also aus dem Versicherungsvertrag und den diesem zugrunde liegenden Bedingungen (BGH, Urteil vom 01. Dezember 1999 – IV ZR 71/99 –, Rn. 8, juris).

Nach E.1.3 der hier vereinbarten AKB hat der Versicherungsnehmer nach Eintritt des Versicherungsfalles alles zu tun, was der Aufklärung des Schadens dienen kann. Die Aufklärungsobliegenheit ist danach erkennbar weit gefasst. Sie schließt die Auskunftsobliegenheit nach § 31 Abs. 1 VVG ein, geht aber in gesetzlich zulässiger Weise (vgl. dazu: Armbrüster in: Prölss/Martin, VVG, 31 Aufl., § 31 Rn. 31) darüber hinaus. Sie erschöpft sich nicht im Erteilen von Informationen, sondern erstreckt sich grundsätzlich auch auf das Verhalten des Versicherungsnehmers am Unfallort (vgl. BGH, Urteil vom 01. Dezember 1999 – IV ZR 71/99 –, Rn. 9, juris; Halbach in: Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG, 4. Aufl., AKB 2015 E., Rn. 5). Ausdrücklich obliegt dem Versicherungsnehmer in diesem Zusammenhang die vertragliche Pflicht, den Unfallort nicht zu verlassen, ohne die erforderlichen Feststellungen z.B. zum Alkohol- und Drogenkonsum des Fahrers zu ermöglichen. Der Zweck dieser Obliegenheit besteht darin, dem Versicherer die sachgerechte Prüfung der Voraussetzungen seiner Leistungspflicht zu ermöglichen, wozu auch die Feststellung solcher mit dem Schadensereignis zusammenhängender Tatsachen gehört, aus denen sich seine Leistungsfreiheit ergeben kann (BGH, Urteil vom 01. Dezember 1999 – IV ZR 71/99 –, Rn. 11, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17. April 2020 – 12 U 120/19 –, Rn. 54, juris).

Demgemäß verletzt der Versicherungsnehmer diese Obliegenheit auch durch einen ins Gewicht fallenden Nachtrunk (jeweils zu § 3 Nr. 1, § 7 V AKB a.F.: BGH, Urteil vom 22.05.1970 – IV ZR 1084/68, VersR 1970, 826; Urteil vom 19.10.1967 – II ZR 53/65, juris Rn. 4; Koch in: Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. 2018, E. Pflichten im Schadensfall, Tz. 29). Das gilt nicht nur in der Haftpflichtversicherung, sondern auch in der Fahrzeugversicherung, wenn Dritte – wie hier die Stadt – durch den Unfall geschädigt sind, und ergibt sich nicht allein aus den vertraglichen Vereinbarungen, sondern auch aus der durch § 142 StGB strafrechtlich sanktionierten Aufklärungspflicht des Versicherungsnehmers, die seine Verpflichtung einschließt, sich auch für eine polizeilich angeordnete, nicht durch Nachtrunk verfälschte Blutprobe bereitzuhalten. In diesen Fällen kann selbst ohne ausdrückliche Vereinbarung mit dem Versicherer davon ausgegangen werden, dass die vertragliche Aufklärungspflicht des Versicherungsnehmers diese Verpflichtung ebenfalls mit umfasst (BGH, Urteil vom 01. Dezember 1999 – IV ZR 71/99 –, Rn. 9, juris; Urteil vom 12.11.1975 – IV ZR 5/74, juris Rn. 9; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17. April 2020 – 12 U 120/19 –, Rn. 53, juris; OLG Nürnberg, Urteil vom 20.07.2000 – 8 U 4357/99, juris Rn. 8; OLG Köln, Urteil vom 30. Juli 1992 – 5 U 44/92 –, Rn. 5, juris; KG Berlin, Beschluss vom 26.10.2010 – 6 U 209/09; OLG Frankfurt, Urteil vom 24.07.2014 – 3 U 66/13, juris Rn. 12), da es für die Sachaufklärung und Verschuldensabwägung zwischen den Unfallbeteiligten entscheidend auch auf eine einwandfreie BAK-Bestimmung ankommt (vgl. OLG München, Urteil vom 24. Februar 1995 – 10 U 5408/94 –, Rn. 3, juris m.w.N.), die bereits bei einem geringen Nachtrunk nicht mehr durchführbar ist. So verletzt ein Versicherungsnehmer seine vertragliche Pflicht zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts bereits dann, wenn er die genaue Bestimmung des Blutalkoholgehalts erschwert. Die Obliegenheit, eine einwandfreie BAK-Bestimmung zu ermöglichen, wirkt sich als Reflex auch auf das Aufklärungsinteresse des Kaskoversicherers aus, da die im Rahmen der Aufklärung des Haftpflichtschadens durchgeführte Blutentnahme auch dem Versicherer zugute kommt, der die Ermittlungen bei der Abwicklung des Kaskoschadens verwerten kann (vgl. OLG München, Urteil vom 24. Februar 1995 – 10 U 5408/94 –, Rn. 3, juris; OLG Düsseldorf VersR 1993, 45, 46).

b) aa) Von diesen Maßstäben ausgehend, hat der Kläger durch die Einnahme der von ihm selbst vorgetragenen erheblichen Menge Alkohols die ihn nicht nur aufgrund des eingetretenen Fremdschadens, sondern vielmehr auch aufgrund der sich aus E.1.3 AKB ergebenden ausdrücklichen vertraglichen Vereinbarung treffende Obliegenheit, die erforderlichen Feststellungen zu seinem Alkoholkonsum zu ermöglichen, verletzt und durch den behaupteten Nachtrunk aktiv den berechtigten Interessen der Beklagten entgegengewirkt. Der Kläger hatte vorliegend Ermittlungen der Polizei zur Frage eines etwaigen Alkoholkonsums auch zu erwarten. Er selbst hatte – nach seinem Vortrag – die Polizei gerufen und veranlasst, dass sein Vater sich zur Unfallstelle begab. Im Rahmen solcher Ermittlungen der Polizei – insbesondere angesichts des vom Kläger selbst beschriebenen Unfallverlaufs – stellt die Entnahme einer Blutprobe eine routinemäßige Maßnahme dar (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom, 30.06.1992 – 4 U 205/91VersR 1993, 1141).

Dass der Nachtrunk der Verschleierung des Sachverhalts – also einer etwaigen tatsächlichen Alkoholisierung des Klägers zum Unfallzeitpunkt – diente, ist für die Frage der Verwirklichung der Obliegenheitsverletzung nicht erforderlich (BGH, Urteil vom 12.11.1975 – IV ZR 5/74, juris Rn. 9 und 12; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17. April 2020 – 12 U 120/19 –, Rn. 55, juris; KG, Beschluss vom 26.10.2010 – 6 U 209/09, juris Rn. 3). Auch der Umstand, dass hier, da lediglich stehende Objekte beschädigt worden sind, die Frage einer Alkoholisierung des Klägers auf die Haftungsfrage keinen Einfluss haben kann, ist unerheblich (vgl. auch: OLG Köln, Urteil vom 19.01.1999 – Ss 526/98, juris Rn. 15). Der Zweck der den Kläger treffenden Aufklärungsobliegenheit besteht darin, dem Versicherer die sachgerechte Prüfung der Voraussetzungen seiner Leistungspflicht zu ermöglichen, wozu auch die Feststellung solcher mit dem Schadensereignis zusammenhängender Tatsachen gehört, aus denen sich seine Leistungsfreiheit ergeben kann, so dass aus dem Nachtrunk eine Obliegenheitsverletzung gegenüber dem Versicherer unabhängig von einem Beweisinteresse des Geschädigten abzuleiten ist (BGH, Urteil vom 01. Dezember 1999 – IV ZR 71/99 – , Rn. 9, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17. April 2020 – 12 U 120/19 –, Rn. 54, juris).

bb) Der objektive Verstoß gegen die Aufklärungspflicht erfolgte auch vorsätzlich.

Zwar hat die Beklagte den Vorsatz des Klägers als Voraussetzung ihrer Leistungsfreiheit zu beweisen (§ 28 Abs. 2 Satz 1 VVG bzw. E.7.1 AKB). Bereits aus dem erheblichen und offensichtlichen Schaden an der Straßenlaterne ist aber auf das Bewusstsein des Klägers zu schließen, dass er einen Fremdschaden verursacht hat und er deshalb Feststellungen der von ihm selbst nach seinem Vortrag herbeigerufenen Polizei zum Unfallhergang – auch zum Grad seiner Alkoholisierung – zu erwarten hatte. Angesichts der Menge des von ihm konsumierten Alkohols musste ihm auch bewusst sein, dass er dadurch entsprechende Feststellungen der Polizei zumindest erschweren, wenn nicht vereiteln würde.

Soweit vorsätzliches Handeln grundsätzlich auch das Bewusstsein erfordert, gegen eine bestehende Verhaltensnorm zu verstoßen (BGH, Urteil vom 18.02.1970 – IV ZR 1089/68, juris Rn. 14), genügt es für das Bewusstsein der Obliegenheitsverletzung, dass der Versicherungsnehmer kraft „Parallelwertung in der Laiensphäre“ die Merkmale der Obliegenheit im Kern kennt (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17. April 2020 – 12 U 120/19 –, Rn. 61, juris; OLG Stuttgart, Urteil vom 16. Oktober 2014 – 7 U 121/14 –, Rn. 57, juris; OLG Frankfurt, Urteil vom 02.04.2015 – 14 U 208/14, juris Rn. 9). Anders ist es jedoch bei elementaren, allgemein bestehenden und bekannten Pflichten, die auch im Versicherungsvertrag ihren Niederschlag gefunden haben. Hier genügt zum Bewusstsein der Rechtswidrigkeit die vorhandene Erkenntnis, gegen das unzweifelhafte, generelle Verbot zu verstoßen. Die weitere Vorstellung, im Besonderen auch dem Versicherer gegenüber zur Beachtung dieses Verbots verpflichtet zu sein, ist dann nicht zu fordern (BGH, Urteil vom 18.02.1970 – IV ZR 1089/68, juris Rn. 15). Zu diesen allgemeinen Verhaltensregeln nach einem Verkehrsunfall gehört in erster Linie das für jeden Beteiligten gültige Gebot, im Interesse der Aufklärung bis zur Aufnahme des Unfalls durch die verständigte Polizei am Unfallort zu bleiben (BGH, Urteil vom 18. Februar 1970, a.a.O.). Soweit sich der Unfallverursacher nach Ablauf einer angemessenen Wartefrist vom Unfallort entfernt hat, trifft ihn die Verpflichtung, die erforderlichen Feststellungen – zu welchen auch der Grad seiner Alkoholisierung zum Unfallzeitpunkt gehört – unverzüglich nachträglich zu ermöglichen.

Gegen diese Verpflichtung hat der Kläger, ungeachtet der Frage, ob er sich überhaupt berechtigt vom Unfallort im Sinne von § 142 Abs. 2 StGB entfernt hat, vorliegend bewusst verstoßen, denn es ist allgemein bekannt, dass die Frage einer möglichen Alkoholisierung des Fahrers für die Einstandspflicht des Versicherers in der Kfz-Schadensversicherung von nicht unerheblicher Bedeutung ist.

cc) Der Kläger handelte auch schuldhaft. Ein medizinisch beachtlicher Unfallschock, der Einfluss auf die Schuldfähigkeit hätte haben können, ist nicht dargelegt……“

Bewährung III: Verlängerung der Bewährungszeit, oder: Bewährungswiderruf wegen neuer Stratat

© rcx – Fotolia.com

Und zum Tagesschluss dann noch der OLG Braunschweig, Beschl. v. 29.03.2022 – 1 Ws 192/21 – zu den Voraussetzungen für einen Bewährungswiderruf wegen einer nach Ablauf der ursprünglich festgesetzten und später verlängerten Bewährungszeit begangenen Straftat. Dazu folgende Leitsätze – Rest bitte selbst lesen -:

  1. Die Entscheidung über einen Bewährungswiderruf ist zu treffen und darf nicht zurückgestellt werden, sobald das Gericht vom Vorliegen der Widerrufsvoraussetzungen überzeugt ist.

  2. Eine nach Ablauf der bisher festgesetzten Bewährungszeit angeordnete Verlängerung schließt unmittelbar an die zuvor abgelaufene Bewährungszeit an.

  3. Eine Straftat, die vor der Verlängerung der Bewährungszeit in der bewährungsfreien Zeit begangen wurde, kann dann einen Widerruf der Strafaussetzung rechtfertigen, wenn die Tat nicht nur rückwirkend in die Bewährungszeit fällt, sondern der Verurteilte bei Begehung der Nachtat zudem trotz Ablaufs der Bewährungszeit mit einer bewährungsverlängernden Maßnahme rechnen musste.

 

 

Entschädigung für Verfahrensverzögerung, oder: Vom Pilotverfahren abhängiges Ausgangsverfahren

© Dickov – Fotolia.com

Und im zweiten Posting dann noch etwas zur Entschädigung wegen Verfahrensverzögerung, und zwar das OLG Braunschweig, Urt. v. 12.04.2022 – 4 EK 1/20.

Beklagt ist das Land Niedersachsen, und zwar wegen einer Entschädigung wegen unangemessener Verfahrensdauer betreffend neun vor dem Landgericht Göttingen geführter Verfahren. Beim LG Göttingen waren seit dem Jahr 2006 insgesamt mehr als 4.000 Kapitalanlage-Verfahren im Zusammenhang mit dem Unternehmensverbund „G. Gruppe“ anhängig, die zunächst allein von der 2. Zivilkammer bearbeitet wurden. Im Laufe des Jahres 2011 übertrug das Präsidium des LG die Hälfte der anhängigen Verfahren aus diesem Komplex auf die 14. Zivilkammer. In den Folgejahren wechselten die personelle Besetzung beider Kammern sowie die ihnen zugewiesenen Arbeitskraftanteile.

Beide Kammern bestimmten aus zwei „Serien“ – der „Hauptserie“ mit insgesamt über 4.000 Verfahren einerseits und der „L.-Serie“ mit insgesamt ca. 280 Verfahren andererseits – jeweils ein Muster- bzw. Pilot-Verfahren, die vorrangig – unter Durchführung von Beweisaufnahmen – gefördert werden sollten. Die hiervon abhängigen weiteren Verfahren wurden ausschließlich zum Zwecke der gemeinsamen Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens zu den jeweiligen Kammer-Pilotverfahren der 2. und 14. Zivilkammer kammerintern miteinander verbunden. Die 2. und die 14. Zivilkammer gingen hierbei abgestimmt einheitlich in der Weise vor, dass für die jeweiligen Pilotverfahren der Hauptserie einerseits und der L.-Serie andererseits nur ein – für alle Verfahren der jeweiligen Kammer einheitliches – schriftliches Gutachten desselben Sachverständigen eingeholt wurde.

Die 14. Zivilkammer bestimmte als Pilotverfahren der Hauptserie das Verfahren zum Aktenzeichen 14 (2) O 2179/07 und als Pilotverfahren der L.-Serie das Verfahren zum Aktenzeichen 14 (2) O 1135/11. Die 2. Zivilkammer designierte das Verfahren zum Aktenzeichen 2 O 1802/07 zum Pilotverfahren der Hauptserie und zum Pilotverfahren der L.-Serie das Verfahren zum Aktenzeichen 2 O 1136/11.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Verfahrensablaufs verweise ich auf den verlinkten Volltext. Beide genannten Pilotverfahren dauern erstinstanzlich noch an. Der Kläger ist der Auffassung, die Dauer der erstinstanzlichen Verfahren sei in jedem der zu betrachtenden Fälle unangemessen lang im Sinne des § 198 GVG. Die Verfahren seien nicht in angemessener Zeit verhandelt und abgeschlossen worden. Vielmehr sei das LG mehrere Jahre faktisch untätig geblieben und habe durch häufige Wechsel in der Kammerbesetzung imponiert. Rügen und Dienstaufsichtsbeschwerden seien erfolglos geblieben.

Der Kläger hält, dem gesetzlichen „Regelfall“ folgend, in jedem Ausgangsverfahren eine Entschädigung von je 100 EUR pro verzögertem Monat für angemessen. Er hat beantragt, das beklagte Land zu verurteilen, an ihn 67.400,00 EUR zu zahlen.

Das OLG hat die Klage abgewiesen. Hier die Leitsätze zu der umfangreichen Entscheidung:

1. Die durch entschädigungspflichtige Verzögerung in einem Pilotverfahren verursachten Nachteile manifestieren sich für den personenidentischen Kläger, der auch Partei im Pilotverfahren ist, ausschließlich in dem Pilotverfahren, wobei die Anzahl der hiervon abhängigen Verfahren bei der Bemessung der billigen Entschädigung in dem das Pilotverfahren betreffenden Entschädigungsverfahren zu berücksichtigen ist.

2. Etwaige Verzögerungen, die bei der Bearbeitung des Pilotverfahrens verursacht werden, zeitigen nur „passive“ Auswirkungen auf die jeweils abhängigen Verfahren, die zur Zeit der Bearbeitung des Pilotverfahrens faktisch ruhen. Wenn für den personenidentischen Entschädigungskläger, der zugleich Partei im Pilotverfahren ist, in den jeweils abhängigen Verfahren ausschließlich „passive“ Auswirkungen der Verzögerung der Pilotverfahren zum Tragen kommen, so sind diese deshalb objektiv allein dem zugehörigen Pilotverfahren zurechenbar. In dem Entschädigungsprozess des vom Pilotverfahren abhängigen Verfahrens ist in einem solchen Falle deshalb insoweit die Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG widerlegt.

3. Nur dann, wenn durch die (Nicht-) Bearbeitung des abhängigen Verfahrens selbst weitere Verzögerungen eintreten, kommt auch im Entschädigungsprozess des abhängigen Verfahrens die Entstehung eines weitergehenden immateriellen Nachteils in Betracht (Senat, Urteil vom 5. November 2021 – 4 EK 23/20 –, Rn. 499).