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Schadensersatz I: „Du warst Mitglied der Stasi“, oder: Da das wahrheitswidrig war, gibt es Schadensersatz

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Und in die 27. KW starte ich dann heute mit zwei etwas außergewöhnlichen Entscheidungen. Kein BVerfG, kein Klima, keine Corona, sondern mal Schadensersatz, und zwar als Folge von Straftaten bwz. von wahrheitswidrigen Behauptungen. Wäre an sich etwas für den Kessel Buntes, aber da gehen die Entscheidungen an einem Samstag vielleicht unter. Daher heute hier.

Ich beginne mit dem LG Flensbugr, Urt. v. 14.06.2023 – 7 O 140/20. Gegenstand des Verfahrens ist die wahrheitswidirge Behauptung – inzwischen wahrrechtskräftig festgestellt – der Kläger „sei Mitglied der Staatssicherheit (Stasi)“ gewesen. Darüber gibt es ein Teil-/Grundurteil. Gestritten worden ist jetzt noch um den Schadensersatz. Den hat das LG mit 10.000 EUR bemessen und das wie folgt begründet:

„a) Grundsätzlich hängt die Schmerzensgeldhöhe entscheidend vom Maß der durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Geschädigten ab, soweit diese bei Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten sind oder mit ihnen zu diesem Zeitpunkt als künftiger Verletzungsfolge ernstlich gerechnet werden muss. Die Schwere der Belastungen wird dabei vor allem durch die Stärke, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen bestimmt. Besonderes Gewicht kommt etwaigen Dauerfolgen zu (Leitsatz OLG München, Urteil v. 13.12.2013, Az. 10 U 4926/12, BeckRS 2013, 22617).

Die Überzeugung des Richters erfordert in dem Zusammenhang keine – ohnehin nicht erreichbare – absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ im Hinblick auf die Folgen, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (vgl. OLG München, Urteil v. 13.12.2013, Az. 10 U 4926/12, BeckRS 2013, 22617 m.w.N.). Nach der im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität anwendbaren Vorschrift des § 287 ZPO werden geringere Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt. Hier genügt je nach Lage des Einzelfalls eine überwiegende (höhere) Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung.

b) Die Qualität des Eingriffs dürfte vorliegend – wenn auch subjektiv auf Klägerseite anders empfunden – eher als mittelschwer zu qualifizieren sein.

Bei der Beurteilung der Qualität des Eingriffs ist einerseits die Art der Behauptung aber auch die Reichweite dieser zu berücksichtigen.

Zweifelsohne ist die vorliegende Art der Behauptung, der Kläger sei Mitglied (sogar „bis 1989 Offizier“) der Stasi gewesen und habe hierbei „viele Werftarbeiter persönlich über die Klinge springen [lassen] durch seine Spitzeltätigkeit“ schwerwiegend und in hohem Maße ehrverletzend. Derartige Behauptungen sind zudem geeignet, das soziale und ggf. politische Ansehen des Klägers zu mindern. Schließlich herrscht heute innerhalb der Bundesrepublik Deutschland allgemeiner Konsens darüber, dass die Stasi für zahlreiche Verbrechen an Menschen verantwortlich ist, die nach damaliger Beurteilung innerhalb der DDR nicht ins dortige System passten. Dass Menschen im Auftrag der Stasi verfolgt, verhaftet, gefoltert und gar getötet worden sind, dürfte heute nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt werden.

Indes geht das Gericht basierend auf den Angaben der Parteien von einer eher überschaubaren Reichweite der Äußerungen des Beklagten zu 1 aus. Zwar ist es unstreitig sehr wohl möglich gewesen, auf den Blog des Beklagten zu 1 sowie auf sein Buch aufmerksam zu werden, wenn man den Namen des Klägers zusammen mit anderen „Schlagwörtern“ bei der Suchmaschine „google“ eingegeben hat. Indes dürfte der Blog des Beklagten zu 1 mit der Domain „http://…“ ansonsten eher einen geringen „fraffic“ (Anzahl der Besucher auf der Homepage innerhalb eines bestimmten Zeitraums) gehabt haben. Zudem dürfte sich nur eine bestimmte Klientel mit dem Inhalt des Blogs auseinandergesetzt haben. Auch die Auflage des Buches beziehungsweise die bislang (geschätzte) Anzahl der Verkäufe (rund 25-30 mal) bei Amazon („www.amazon.de“) ist im Vergleich zu anderen Fällen verhältnismäßig gering. Hinzu kommt, dass der Kläger in dem Buch nur an vereinzelten Stellen genannt wird, sich das Buch also nicht ausschließlich um seine Person dreht.

c) Die persönlichen Folgen bzw. Beeinträchtigungen auf Seiten des Klägers stuft das Gericht indes als schwerwiegend ein.

Nach der Überzeugung des Gerichts haben die falschen ehrverletzenden Behauptungen des Beklagten zu 1 erhebliche negative psychische Auswirkungen auf den Kläger gehabt mit der Folge, dass dieser in eine schwere emotionale Krise gestürzt ist.

aa) Zum einen hat das Gericht die medizinischen Befunde und Berichte (Anlage K 27 – K 29, Bl. 266 – 269 und Bl. 417 d.A.) berücksichtigt. Auf deren Inhalt wird an dieser Stelle vollumfänglich Bezug genommen.

bb) Vor allem aber stützt das Gericht seine Beurteilung auf den eigenen persönlich vom Kläger gewonnenen Eindruck, dessen glaubhafte Darstellung seiner Situation sowie auf die glaubhaften Angaben des Zeugen … .

(1) In der mündlichen Verhandlung vom 22.7.2021, in welcher der Kläger das erste mal informatorisch zur Sache angehört wurde, hat das Gericht bereits den Eindruck gewonnen, dass der Kläger von dem Verfahren und der Situation schwer gezeichnet war. Mit hängenden Schultern und sorgenvoller Mine hat der Kläger damals berichtet, dass ihn die falschen Behauptungen sehr belasten würden. Er sehe seinen guten Ruf in Gefahr und wolle nicht, dass seine ehemaligen Kollegen und Schüler ein derartiges (falsches) Bild von ihm gezeichnet bekämen.

(2) Auch in der mündlichen Verhandlung vom 17.2.2022 wirkte der Kläger auf das Gericht sehr angeschlagen. Es fiel ihm merklich schwer, über die Auswirkungen der Vorwürfe zu sprechen. Dennoch gab er glaubhaft zu Protokoll, dass er sich vor ca. 10 Jahren in psychische Behandlung habe begeben müssen. Damals habe er mit den Folgen eines sog. „Burnout“ zu tun gehabt. Nachdem er diese Krise überwunden hatte, sei die Thematik – aufgrund der Behauptungen des Beklagten zu 1 und dieses Prozesses – jetzt allerdings wieder hochgekommen. Er habe sich im Zusammenhang mit den Anschuldigungen sogar in stationäre Behandlung begeben müssen.

(3) Diese Angaben hat der Zeuge … in der mündlichen Verhandlung vom 25.5.2023 glaubhaft bestätigt.

Dieser hat ausgesagt, den Kläger schon seit dem Jahr 2011 zu kennen. Damals sei er bei ihm wegen Depressionen und Angststörungen sowie Schmerzen in Behandlung gewesen. Diese damalige Behandlung habe zu tun gehabt mit der beruflichen Belastung des Klägers.

Im Jahr 2020, als er auf die Behauptungen über sich im Internet aufmerksam wurde, sei er dann erneut in eine schwere Krise gekommen. Er sei seit damals wieder verstärkt angespannt gewesen und habe nicht schlafen können. Er habe die Situation als „sehr bedrohlich“ wahrgenommen. Besonders belastet habe ihn, dass er dieser Situation so hilflos gegenüber stand.

Er sei damals auch sehr impulsiv gewesen und habe versucht, sich mit Alkohol zu beruhigen. Zuvor habe er lange Zeit gar keinen Alkohol mehr zu sich genommen.

Ein weiteres Thema sei gewesen, dass die Ehefrau des Klägers ebenfalls sehr besorgt gewesen sei. Dies habe letztlich auch zu einer Ehekrise geführt, da der Kläger seine Ehe in Gefahr gesehen habe. Dies insbesondere aufgrund des Umstandes, dass die Ehefrau des Klägers bei dem Konsum von Alkohol katastrophale Wirkungen bzw. Gedanken hervorgebracht habe. Die Ehefrau des Klägers dahingehend wieder einzufangen und sie davon zu überzeugen, dass die Probleme des Klägers gelöst werden müssten, sei für den Kläger und den Zeugen … ein enormer Kraftakt gewesen.

Zusammengefasst habe der Kläger zwischen 2020 und 2022 in einer erheblichen psychischen Krise gesteckt hat, die kausal durch die Behauptungen des Beklagten zu 1 hervorgerufen worden sei (Protokoll vom 25.5.2023, S. 2-4). Ob er diese Krise je überwinden werde, sei ungewiss. Der Zeuge … sehe allerdings gute Chancen, wenn dieser Prozess beendet sei.

Die Angaben des Zeugen waren insgesamt glaubhaft. Hinweise auf eine einseitige Belastungs- oder Begünstigungstendenz haben sich nicht ergeben. Bei dem Zeugen … handelt es sich um einen seit Jahren praktizierenden Nervenarzt, der seine fachkundigen Wahrnehmungen wertungsfrei wiedergegeben hat. Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeugen haben sich ebenfalls nicht ergeben.

d) Das Maß an Verschulden bzw. Vorwerfbarkeit des Beklagten zu 1 sieht das Gericht als hoch an (mit Einschränkung).

Das Gericht geht zwar – ohne Zweifel – davon aus, dass der Beklagte zu 1 die Behauptungen über den Kläger in der Absicht öffentlich aufgestellt hat, um diesem zu schaden. Auch geht das Gericht davon aus, dass der Beklagte zu 1 seinen Fehler (Behauptungen sind tatsächlich unwahr) bei objektiver Betrachtung hätte erkennen müssen und können, wenn er sich mit der Aktenlage intensiver beschäftigt hätte. Der Fehler wäre also vermeidbar gewesen. Dies, wie auch die Qualität der Behauptung, muss sich der Beklagte zu 1 vorwerfen lassen.

Indes hat das Gericht im Laufe des Prozesses auch den Eindruck gewonnen, dass der Beklagte zu 1 aufgrund seiner eigenen Vergangenheit (als Opfer der Stasi) womöglich psychisch und emotional derart geprägt worden ist, dass ihm die Unterscheidung zwischen Realität (objektiv beweisbarem) und Vorstellung nicht mehr ohne Einschränkung gelingt. Mit Verweis auf die zahlreichen aus Sicht des Gerichts nicht nachvollziehbaren – teils persönlichen – Einlassungen des Beklagten zu 1 (vgl. dazu auch Grund- und Teilurteil, S. 13 ff.) sowie seine mangelnde Einsicht (trotz zweier Instanzen) schließt das Gericht nicht aus, dass der Beklagten zu 1 womöglich die Tragweite seiner Handlungen gar nicht erkennt. Jedenfalls scheint er unter einem erheblichen psychischen Trauma zu leiden, welches er durch Benennung der „Täter“ aufzuarbeiten versucht. Dass er hierbei einen Falschen als „Täter“ benannt hat, ist für ihn emotional womöglich nicht nachvollziehbar. Dies mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass Verschleierung, Verdunkelung und Täuschung in der ehemaligen DDR, insbesondere bei der Stasi, an der Tagesordnung waren. Irgendwann mag bei jedem Menschen, der von einer solchen Welt geprägt worden ist, der Punkt erreicht sein, ab dem er nichts mehr glaubt, sondern sich seine eigene Wahrheit schafft.

e) Bei der Bemessung der Schmerzensgeldhöhe hat das erkennende Gericht insbesondere die folgenden, in der Schmerzensgeldtabelle exemplarisch aufgeführten Entscheidungen anderer Gerichte berücksichtigt und sich hieran orientiert:

  • Ehrverletzung durch unzutreffende Berichterstattung ohne Namensnennung. Dennoch erfuhren mindestens 217 Bekannte, Verwandte oder Kollegen von der Behauptung, der Kläger habe als „Stasi-Scherge“ einen Mord begangen: OLG Hamm, Urteil vom 1.6.1992, Az. 3 U 25/92, BeckRS 9998, 11842.
  • Ehrverletzung durch Ausstrahlung von Fernsehaufnahmen („Brandenburg aktuell“), in denen der Kläger als „Neonazi“ mit einschlägiger Vergangenheit dargestellt wurde: LG Berlin, Urteil vom 9.10.1997, Az. 27 O 349/97, BeckRS 9998, 16109.
  • Bezeichnung des im Kommunalwahlkampf stehenden Klägers als „kulturloser Bonze“ und  „Wendehals“. Zudem wurde der Kläger einer tatsächlich nicht bestehenden SED Vergangenheit beschuldigt: LG Frankfurt, Urteil vom 29.7.2004, Az. 17 O 540/03, BeckRS 2004, 17904.
  • Ehrverletzung wegen eines „herabwürdigenden Artikels“ mit der Folge psychischer Beeinträchtigungen: LG München, Urteil vom 11.6.2008, Az. 9 O 15086/06, BeckOK zum Schmerzensgeld Nr. 3782.
  • Unzutreffende Bezeichnung als „Perspektiv-Agent des KGB“. Es stelle eine schwere Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar, in einer Buchveröffentlichung eine andere Person mit dem kommunistischen Geheimdienst KGB in Verbindung zu bringen, weil so zu Lasten des Betroffenen ein zwielichtiger Eindruck erweckt werde: OLG Bremen, Urteil vom 1.11.1995, Az. 1 U 51/95, BeckRS 9998, 2560.

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Pflichti III: Nochmals zur rückwirkenden Bestellung, oder: Uneinigkeit im Haus

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Und dann im letzten Beitrag noch einige Entscheidungen zur Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung. Dazu kann man inzwischen feststellen, dass die wohl herrschende Meinung in der Rechtsprechung der LG/AG die rückwirkende Bestellung als zulässig ansieht. Das lässt sich in etwa folgenden Leitsätzen zusammenfassen:

1. Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ist vorzunehmen, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde.
2. „Unverzüglich“ im Sinnde des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO bedeutet, dass über den Beiordnungsantrag in der Regel innerhlab von zwei Wochen zu entscheiden ist.
3. Die Möglichkeit, nahc § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO von einer Bestellung in denjenigen Fällen abzusehen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, gilt ausdrücklich nicht für Fälle einer notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO.

Dazu hier dann LG Flensburg, Beschl. v. 05.10.2021 – II Qs 45/21, LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 31.05.2022 – 5/6 Qs 20/22 zur (rückwirkenden) Bestellung im Strafbefehlsverfahren, wenn im Zeitpunkt der Entscheidung die Bestellungsvoraussetzungen nicht mehr vorliegen, LG Kiel, Beschl. v. 30.08.2021 – 1 Qs 30/21LG Kiel, Beschl. v. 22.7.2022 – 5 Qs 7/22 und LG Konstanz, Beschl. v. 10.09.2022 – 3 Qs 68/22.

Teilweise wird die rückwirkende Bestellung aber auch als unzulässig angesehen, wie z.B. hier der LG Kiel, Beschl. v. 31.03.2022 – 10 Qs 19722 und der AG Flensburg, Beschl. v. 04.08.2022 – 480 Gs 829/22.

Was mich immer erstaunt ist die teilweise uralte Rechtsprechung, die zur Stützung der ablehnenden Ansicht herangezogen wird, und: Warum ist man sich nicht innerhalb eines Gerichts einig, wie man entscheiden will – siehe die Entscheidungen aus Kiel 🙂 .

StrEG II: Verfahrenseinstellung nach § 153 StPO, oder: Billigkeitsentscheidung ist eine Ausnahme

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In der zweiten Entscheidung geht es um die Entschädigung für eine Durchsuchung nach Einstellung des Verfahrens. Das AG hatte eine Entschädigung abgelehnt, das LG Flensburg bestätigt die Entscheidung im LG Flensburg, Beschl. v. 11.02.2022 – I Qs 54/20 – die Entscheidung:

„2. Soweit die sofortige Beschwerde der ehemals Beschuldigten zulässig ist, hat sie jedoch in der Sache keinen Erfolg.

Wie das Amtsgericht zutreffend festgestellt hat, richtet sich die Frage einer Entschädigung im Hinblick auf die Durchsuchungsmaßnahme nach § 3 StrEG, der im Gegensatz zu § 2 StrEG eine Entschädigung nur nach Billigkeitsgesichtspunkten gewährt.

Die ganz herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur geht davon aus, dass die Billigkeitsentscheidung nach § 3 StrEG nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist. Voraussetzung ist, dass sich der Fall von anderen Fällen auffallend abhebt, wobei eine Entschädigung regelmäßig nur dann als billig angesehen werden kann, wenn der Vollzug der vorläufigen Strafverfolgungsmaßnahmen sich zum Zeitpunkt der Einstellung in der Rückschau als grob unverhältnismäßig herausstellt (OLG Braunschweig, Beschluss vom 13.11.2012, Ws 321/12, zitiert nach juris) —insbesondere bei einer Einstellung nach § 153 StPO werden Billigkeitsgründe nur dann vorliegen, wenn der bei der Einstellung bestehende Tatverdacht erheblich hinter dem Tatverdacht zurück-bleibt, der zu der Verfolgungsmaßnahme geführt hat (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 3 StrEG, Rn. 2).

Dies ist vorliegend nicht der Fall.

Das Amtsgericht Flensburg hat die Durchsuchung mit Beschluss vom 30.05.2016 angeordnet unter anderem auch wegen des Verdachts der Hinterziehung von Umsatz-, Gewerbe- und Körperschaftssteuer. Im Hinblick auf diese Delikte war zum Zeitpunkt der Einstellungsentscheidung zwar kein Tatverdacht mehr bezüglich einer täterschaftlichen Begehung gegeben, wohl aber ein Tatverdacht bezüglich einer Beihilfe zu einer Steuerhinterziehung der Umsatzsteuer für die Jahre 2013 und 2014, der Körperschaftssteuer für das Jahr 2013 sowie bezüglich einer Beihilfe zu einer versuchten Hinterziehung der Körperschaftssteuer 2014. Der gegen die ehemals Beschuldigte bestehende Tatverdacht blieb damit zum Zeitpunkt der Einstellungsentscheidung nicht erheblich hinter dem Tatverdacht zurück, der zur Anordnung der Durchsuchungsmaßnahme geführt hat, vielmehr hätte — wie das Amtsgericht zutreffend ausgeführt hat — auch dieser Verdacht einer Bei-hilfe zum Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses führen können, § 102 StPO, denn hierfür reicht, dass aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte oder aufgrund kriminalistischer Erfahrungen angenommen werden kann, dass der Verdächtige .als Teilnehmer einer Straftat in Betracht kommt. Als Verdachtsgrad genügt damit ein Anfangsverdacht (vgl. m.w.N.: BeckOK/Hegmann, StPO, 42. Edition, § 102, Rn. 1, zitiert nach beck-online).

Diese Voraussetzung war vorliegend auch zum Zeitpunkt der Einstellung erfüllt, denn ausweislich ihrer eigenen Ausführungen hat die ehemals Beschuldigte erkannt, dass die ihr vom Geschäfts-führer der „PP UG“ übermittelten Zahlen nicht plausibel waren, dennoch hat sie auf Basis dieser Zahlen die entsprechenden Voranmeldungen getätigt (vgl. BI. 79).“

 

Verkehrsrecht II: Kraftfahrzeugrennen als Polizeiflucht, oder: Unzulässige Provokation durch die Polizei?

In der zweiten Entscheidung, dem LG Flensburg, Beschl. v. 27.05.2021 – V Qs 17/21, geht es ebenfalls um ein verbotenes Kraftfahrzeugrennen (§ 315d StGB), und zwar um die Frage einer rechtsstaatswidrigen Provokation des Beschuldigten durch eine Polizeistreife. Das LG hat das verneint:

„3. Gründe dafür, das nach § 111a Absatz 1 Satz 1 StPO eröffnete Ermessen („kann“) hier dahin auszuüben, dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis trotz Vorliegens eines Regelfalles im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 1a) StGB nicht vorläufig zu entziehen, vermag die Kammer nicht zu erkennen.

Solche Gründe liegen nach Ansicht der Kammer insbesondere nicht darin, dass der Beschuldigte – nachdem er in der Sequenz 01:09-01:20 min. des Videos, als die zivile Polizeistreife hinter ihm fuhr, zunächst mit einer Geschwindigkeit um 100 km/h gefahren war – erst auf die dargelegten, deutlich überhöhten Geschwindigkeiten beschleunigte, nachdem die Polizeistreife ihn überholt hatte und ihrerseits die Geschwindigkeit erhöht hatte. Insbesondere kommen nach Auffassung der Kammer nicht die Konsequenzen zum Tragen, die bei einer rechtsstaatswidrigen Provokation zu einer Straftat gelten. Denn an einer solchen fehlt es hier nach Auffassung der Kammer.

Nach der Rechtsprechung des EGMR liegt eine (unzulässige) Anstiftung vor, wenn sich die Polizisten nicht darauf beschränken, strafbares Verhalten zu ermitteln, sondern den Betroffenen derart beeinflussen, dass sie ihn anstiften, eine Straftat zu begehen, die er sonst nicht begangen hätte, um die Tat nachweisen zu können, d. h. um Beweise zu beschaffen und die Tat strafrechtlich zu verfolgen (EGMR, Urteil vom 23. Oktober 2014, 54648/09 (Furcht/Deutschland), Rn. 48 m. w. N., zitiert nach Beck-online). Grund für das Verbot der Anstiftung durch die Polizei ist, dass sie die Aufgabe hat, Straftaten zu verhüten und aufzuklären, aber nicht, zu ihrer Begehung anzustiften (EGMR, a. a. O., Rn. 48). Um zu unterscheiden, ob die Polizei unter Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu der Tat angestiftet oder dem Täter eine Falle gestellt hat oder ob sie bei strafrechtlichen Ermittlungen rechtmäßige verdeckte Ermittlungstechniken angewandt hat, hat der Gerichtshof folgende Kriterien entwickelt: Bei der Entscheidung, ob die Ermittlung „im Wesentlichen passiv“ war, sind die Gründe zu prüfen, auf denen die verdeckte Maßnahme beruht, sowie das Verhalten der Beamten, die die Maßnahme durchgeführt haben (EGMR, a. a.O., Rn. 50). Dabei prüft der Gerichtshof unter anderem, ob auf den Beschuldigten Druck ausgeübt wurde, die Straftat zu begehen (EGMR, a. a. O., Rn. 52). In Rauschgiftfällen – in denen der Einsatz verdeckter Ermittler wohl am häufigsten ist – hat er festgestellt, dass die Ermittler sich unter anderem dann nicht mehr passiv verhalten, wenn sie von sich aus Kontakt zu dem Beschuldigten aufnehmen, ihr Angebot erneuern, obwohl es der Beschuldigte zunächst abgelehnt hat, ihn beharrlich drängen, indem sie den Preis über den durchschnittlich gezahlten erhöhen oder an das Mitleid des Beschuldigten appellieren, indem sie Entzugserscheinungen erwähnen (EGMR, a. a. O., Rn. 52 m. w. N.).

Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe liegt keine rechtsstaatswidrige Provokation der Tat gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB, deren der Beschuldigte dringend verdächtig ist, vor. Im vorliegenden Fall fehlt es sowohl an jeglichem – in den vom EGMR genannten Beispielen sogar z. T. wiederholten – für eine Anstiftung zu fordernden (vgl. BGH, NStZ 2009, 393; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 26 Rn. 3) kommunikativen Akt, der zur Begehung der Straftat durch den Beschuldigten führte. Denn die insoweit allein in Betracht kommende Handlung der Polizisten, die zeitlich vor dem Beschleunigen des Beschuldigten liegende Geschwindigkeitserhöhung des zivilen Polizeifahrzeugs, entbehrt jeglicher Kommunikation mit dem Beschuldigten. Der bloßen, zeitlich der Beschleunigung des Beschuldigten vorhergehenden Geschwindigkeitserhöhung der Polizeistreife fehlt es zudem an jedweder ebenfalls vom EGMR geforderten Ausübung von Druck auf den Beschuldigten, seinerseits unter erheblicher Unterschreitung des Sicherheitsabstandes die Geschwindigkeit weit über die zulässige Höchstgeschwindigkeit hinaus zu erhöhen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegt eine staatliche Tatprovokation vor, wenn ein verdeckter Ermittler (oder eine von einem Amtsträger geführte Vertrauensperson) über das bloße „Mitmachen“ hinaus in Richtung auf eine Weckung der Tatbereitschaft oder eine Intensivierung der Tatplanung mit einiger Erheblichkeit stimulierend auf den Täter einwirkt (BGH, Urteil vom 10. Juni 2015, 2 StR 97/14, Rn. 24, zitiert nach Beck-online). Auch bei anfänglich bereits bestehendem Anfangsverdacht kann eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation vorliegen, wenn die Einwirkung auf die Zielperson im Verhältnis zum Anfangsverdacht „unvertretbar übergewichtig“ ist; im Rahmen der erforderlichen Abwägung sind insbesondere Grundlage und Ausmaß des gegen den Betroffenen bestehenden Verdachts, Art, Intensität und Zweck der Einflussnahme sowie die eigenen, nicht fremdgesteuerten Aktivitäten des Betroffenen in den Blick zu nehmen (BGH, a. a. O., Rn. 24 m. w. N.). In dem Fall, welcher dem zitierten Urteil des Bundesgerichtshofs zugrunde lag, hatte ein verdeckter Ermittler („Ap.“) den Beschuldigten trotz dessen anfänglicher Verweigerungshaltung wiederholt gefragt, ob dieser ihm, dem Ap., nicht seine (aus Vorstrafen wegen Betäubungsmitteldelikten herrührenden) niederländischen Kontakte, nämlich Betäubungsmittellieferanten, vermitteln könne, er (Ap.) sei von seinem Lieferanten versetzt worden. Der Beschuldigte lehnte jedenfalls die erste, zweite und dritte Anfrage über einen Zeitraum von 10 Tagen ab, obwohl der verdeckte Ermittler ihm mitteilte, dass seine serbischen Abnehmer „rasend vor Wut seien“, da das Geschäft mit ihnen mangels Lieferung an ihn (Ap.) nicht zustande gekommen sei. Diese hätten K., einem weiteren verdeckten Ermittler, aufgelauert und ihn bedroht, weshalb Ap. seine Telefonnummer gewechselt, zusammen mit K seinen Wohnort verlassen habe und bei Bekannten untergekommen sei. Ap. bat den Beschuldigten anschließend um Hilfe und teilte mit, er sei bereit, jeden Preis zu zahlen, wobei der Beschuldigte auch diese Bitte ablehnte. Erst auf weiteres Drängen und die Schilderung noch intensiverer Drohungen durch die serbischen Abnehmer erklärte sich der Beschuldigte schließlich zur Vermittlung der Kontakte bereit.

Auch nach den Maßstäben des Bundesgerichtshofs liegt keine rechtsstaatswidrige Tatprovokation vor. Es fehlt dem bloßen Beschleunigen der Polizeistreife, bevor der Beschuldigte seinerseits beschleunigte, bereits an der vom Bundesgerichtshof geforderten Einwirkung auf den Beschuldigten „mit einiger Erheblichkeit“. Darauf, dass das dargelegte Beispiel deutlich macht bzw. jedenfalls sehr nahe legt, dass auch der Bundesgerichtshof einen kommunikativen Akt, also eine geistige Willensbeeinflussung, voraussetzt, an der es hier, wie dargelegt, fehlt, kommt es danach nicht mehr an.“

StPO II: Schokoladenweihnachtsmann nur für den Staatsanwalt, oder: Besser nicht

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Als zweite Entscheidung dann der LG Flensburg, Beschl. v. 20.01.2021 – V KLs 2/19. Wenn man ihn liest, klingelt es: Denn die Problematik hatten wir ja schon mal. Nämlich: Besorgnis der Befangenheit durch Übergabe von Süßigkeiten (nur) an den Staatsanwalt. Ja, das ist/war LG Koblenz (der Beschluss wird ja auch vom LG zitiert.

Das LG Flensburg kommt hier – ebeno wie das LG Koblenz – zur Besorgnis der Befangenheit:

„Die Kammer geht von folgendem glaubhaft gemachten Sachverhalt aus:

Am letzten Sitzungstag vor Weihnachten, dem 18. Dezember 2020, verteilten die Schöffinnen PP. und PP. an die Ergänzungsschöff*innen sowie die Protokollführerin Frau pp. vor Beginn der Sitzung im Verhandlungsaal jeweils einen Schokoladenweihnachtsmann. Die Schöffin pp. übergab zudem einen Schokoladenweihnachtsmann an der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, Staatsanwalt pp.. Die Berufsrichter*innen haben diese Übergaben nicht beobachtet. In einer späteren Verhandlungspause übergab die Schöffin PP. ebenfalls einen Schokoladenweihnachtsmann an den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft. Auch diese Übergabe beobachteten die Berufsrichterinnen nicht. Weder die Angeklagten noch deren Verteidiger*innen erhielten einen Schokoladenweihnachtsmann.

Richter am Landgericht pp. sah zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt nach der Verteilung Schokoladenweihnachtsmänner im Sitzungssaal stehen, ohne jedoch – wie ausgeführt – beobachtet zu haben, auf welche Weise diese dorthin gelangt waren. Vorsitzende Richterin am Landgericht pp. erfuhr ebenfalls zu einem jedenfalls nach der ersten Verteilung liegenden Zeitpunkt von Frau pp.,  dass die Ergänzungsschöff*innen von einer Schöffin einen Schokoladenweihnachtsmann bekommen hätten und dass Frau pp. – wonach sie auch von pp. gefragt worden sei – nicht bekannt sei, ob der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft ebenfalls einen solchen erhalten habe oder nicht.

II.

1. Beide Ablehnungsanträge sind zulässig. Derjenige des Angeklagten pp. vom 12. Januar 2021, der später aufgrund der dienstlichen Stellungnahmen abgeändert und um einen erneuten Ablehnungsantrag ergänzt wurde, ist insbesondere rechtzeitig angebracht worden, § 25 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Die Verteidiger des Angeklagten pp. haben in ihren Antrag ausgeführt und anwaltlich versichert, dass zwar Rechtsanwalt pp. das Vorhandensein von auf dem Tisch der Ergänzungsschöff*innen und am Platz von Frau pp. bereits am 18. Dezember 2020 beobachtet habe, ihnen jedoch die Übergabe von Schokoladenweihnachtsmännern an den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft – worauf der erste Ablehnungsantrag gestützt wurde – erst am 11. Januar 2021 zur Kenntnis gebracht worden sei. Diesem Vortrag entgegenstehende Gesichtspunkte sind nicht ersichtlich, zumal beide Schöffinnen in ihren dienstlichen Stellungnahmen ausgeführt haben, dass zum Zeitpunkt ihrer jeweiligen Übergaben der Süßigkeit an Staatsanwalt pp. keine weiteren Personen zugegen gewesen seien.

 Der Ablehnungsantrag des Angeklagten pp. vom 18. Januar 2021 ist ebenfalls rechtzeitig angebracht, da er über seine Verteidigerinnen vorgetragen hat, dass ihm die Vorgänge um die Verteilung von Schokoladenweihnachtsmännern erst durch den Ablehnungsantrag des Angeklagten pp. bekannt geworden seien.

2. Die Ablehnung der Schöffinnen durch die Angeklagten wegen der Besorgnis der Befangenheit ist begründet. Dies ist dann der Fall, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhaltes Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte Richter ihm gegenüber eine innere Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann (st. Rspr., statt vieler LG Koblenz, Beschluss vom 19. Dezember 20122090 Js 29752/10 – 12 KLs -, juris, Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage, § 24 Rn. 8). Allein auf den Standpunkt des Ablehnenden kommt es an; ob der abgelehnte Richter tatsächlich befangen ist oder sich dafür hält, ist unerheblich (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 6 m.w.N.). Die Übergabe von Schokoladenweihnachtsmännern seitens der Schöffinnen an den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, jedoch nicht an die Angeklagten und ihre Verteidiger*innen, war geeignet, bei den Ablehnenden den Eindruck zu erwecken, dass die Schöffinnen dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft eher gewogen sind als ihnen und ihren Verteidiger*innen. Dabei hat die Kammer berücksichtigt, dass die Übergabe von kleinen Süßigkeiten zur Weihnachtszeit durchaus ein sozialadäquates Verhalten mit mäßigem Erklärungswert, was persönliche Zuneigung betrifft, darstellt. Es handelt sich aber auch nicht um einen vollkommen neutralen Vorgang. Unabhängig davon, dass die Verteilung von Süßigkeiten in einem Strafverfahren generell unangemessen ist, drückt dies doch eine gewisse Wertschätzung aus, die den Angeklagten und ihren Verteidiger*innen eben nicht zuteil geworden ist…..“