Schlagwort-Archive: Fahrerlaubnis

Verkehrsrecht III: Keine Entziehung der Fahrerlaubnis, oder: Drucksituation widerlegt Regelvermutung

Bild von Andreas Breitling auf Pixabay

Und dann lege ich gleich noch einmal nach bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis, und zwar mit dem LG Itzehoe, Beschl. v. 11.07.2023 – 14 Qs 86/23 . Der Beschluss ist ebenfalls in einem Verfahren wegen des Verdachts des unerlaubten Entfernens vom Unfallort ergangen.

Das AG hat die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen (§ 111a StPO), das LG hebt auf die Beschwerde hin aus, weil nach seiner Auffassung die Regelvermutung widerlegt ist:

„1. Die gemäß § 304 StPO zulässige Beschwerde ist in der Sache begründet.

Die Voraussetzungen für eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO liegen nicht vor. Nach § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO kann einem Beschuldigten in einem Strafverfahren die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen werden, wenn dringende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass die Fahrerlaubnis mit einem späteren Urteil entzogen werden wird, § 69 StGB. Dies ist auf-grund des derzeitigen Sachstands jedoch nicht der Fall.

So sind vorliegend dringende Gründe für die Annahme, dass dem Beschuldigten die Fahrerlaubnis nach Durchführung der Hauptverhandlung entzogen werden wird, derzeit nicht ersichtlich, da es vorliegend an dem erforderlichen hohen Grad der Wahrscheinlichkeit fehlt, dass das Tatgericht den Beschuldigten als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ansehen wird.

Zwar sind vorliegend – nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen – die Voraussetzungen der Regelvermutung des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB erfüllt. Die Regelvermutung ist aufgrund der bestehenden Umstände des vorliegenden Einzelfalls jedoch derzeit als widerlegt anzusehen.

Eine Widerlegung der Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB ist gegeben, wenn besondere Um-stände vorliegen, welche die Vermutung der fehlenden Eignung entkräften, weil sie die Tat als weniger schwerwiegend erscheinen lassen als den Regelfall (Böse/Bartsch in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Saliger, StGB, 6. Auflage 2023, § 69 StGB Rn. 14; Heuchemer in: BeckOK StGB, 57. Edition, Stand: 01.05.2023, § 69 StGB, Rn. 43). Dies ist unter anderem dann anzunehmen, wenn die Tat angesichts besonderer Umstände in der Person des Täters persönlichkeitsfremd erscheint, in einer Ausnahmesituation begangen wurde und eine Gesamt-würdigung ergibt, dass mit einer Wiederholung der Tat nicht zu rechnen ist (Heuchemer in: BeckOK StGB, 57. Edition, Stand: 01.05.2023, § 69 StGB, Rn. 45). Dies ist nach dem derzeitigen Sachstand vorliegend der Fall.

So ist die Tat bei einer Gesamtschau aller derzeit aktenkundigen Umstände des Einzelfalls unter Einbeziehung der Einlassung des Beschuldigten – welche nach Auffassung der Kammer jedenfalls plausibel und derzeit nicht durch sonstige aktenkundige Umstände widerlegt ist und daher zugunsten des Beschuldigten zugrunde zu legen ist – als ein, in einer Drucksituation aufgetretenes, Augenblickversagen anzusehen, mit dessen Wiederholung nach der Auffassung der Kammer derzeit nicht zu rechnen ist.

Der Beschuldigte hat sich vorliegend – nach seiner plausiblen Einlassung – allein deshalb für das Verlassen des Unfallortes entschieden, weil er zum Zeitpunkt des Unfalls als Verkaufsfahrer des Lebensmittellieferanten Bofrost mit seiner Lieferung an einen Kunden 1,5 Stunden in Verzug war und dieser Kunde sich bei dem Beschuldigten telefonisch gemeldet und mitgeteilt hatte, dass die-ser zeitnah das Haus verlassen würde. Allein aufgrund dieser beruflichen Drucksituation hat sich der Beschuldigte – wie sowohl in der Beschwerdebegründung seines Rechtsanwaltes vom 05.06.2023 (Blatt 69 ff. der Akten), als auch von dem Beschuldigten persönlich in seinen Angaben anlässlich der Anhörung vom 29.12.2022 (Blatt 15 der Akten) angegeben – fälschlicherweise dazu entschieden, zunächst die Lieferung an den besagten Kunden in unmittelbarer Nähe zum Unfallort durchzuführen und erst danach an den Unfallort zurückzukehren, um die Polizei zu informieren. Ob die Rückkehr an den Unfallort von dem Beschuldigten tatsächlich beabsichtigt war, ist durch das Tatgericht aufzuklären, muss durch das hiesige Beschwerdegericht – angesichts der Plausibilität der Einlassung und mangels dies widerlegender Anhaltspunkte in den Akten – zugunsten des Beschuldigten jedoch angenommen werden. Zudem ist der Beschuldigte – trotz seiner Eigenschaft als Berufskraftfahrer und dem damit einhergehenden überdurchschnittlichen Fahraufkommen – seit 32 Jahren, ausweislich des Auszuges aus dem Bundeszentralregister vom 23.01.2023 und dem Auszug aus dem Fahreignungsregister vom 21.03.2023, weder strafrechtlich noch verkehrsrechtlich in Erscheinung getreten.

Auch wenn das Verhalten des Beschuldigten trotz seiner Absicht zur Rückkehr an den Unfallort den Tatbestand des § 142 StGB erfüllt, so stellt sich die vorliegende Tat jedoch angesichts der oben genannten Umstände derzeit als eine solche dar, die vom Regelfall des § 142 Abs. 1 StGB in positiver Hinsicht deutlich abweicht.

Auch unabhängig von der Indizwirkung des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ist eine Ungeeignetheit des Beschuldigten zum Führen von Kraftfahrzeugen auf der Grundlage einer tatbezogenen Eignungsprüfung des Beschuldigten derzeit nicht ersichtlich. Eine solche besteht nur dann, wenn die Anlasstat die tragfähigen Rückschlüsse darauf zulässt, dass der Täter bereit ist, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen Interessen unterzuordnen (BGH, Urteil v. 27.04.2005 – GSSt 2/04 = NJW 2005, 1957, 1959). Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Diesbezügliche Anhaltspunkte sind für die Kammer derzeit nicht ersichtlich.“

Na ja. Darüber kann man m.E. diskutieren 🙂 .

Verkehrsrecht II: Langer Zeitablauf nach Unfallflucht, oder: Vorläufige Entziehung ist keine Retourkutsche

entnommen openclipart.org

Als zweite Entscheidung stelle ich dann den LG Stuttgart, Beschl. v. 04.08.2023 – 9 Qs 39/23 – vor.

Das LG hat über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) entschieden. Zugrunde lag ein unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB). Insoweit ist offenbar, da das LG dazu nichts ausführt, nichts problematisch. Problematisch ist aber der Zeitablauf. Denn: Tatzeit war der 02.06.2022. Danach passiert im Hinblick auf die Fahrerlaubnis nichts. Am 20.06.2023 beantragt die Staatsanwaltschaft dann einen Strafbefehl und beantragt, der Angeklagten nach § 111a StPO vorläufig die Fahrerlaubnis zu entziehen. Das AG erlässt am 23.06.2023 den Strafbefehl, hinsichtlich der Fahrerlaubnis passiert nichts. Der Verteidiger äußert sich  am 10. Juli 2023 zur beantragten vorläufigen Entziehung und legt am 17.07.2023 zudem für die Angeklagte Einspruch gegen den zwischenzeitlich zugestellten Strafbefehl ein.

Zwei Tage später, am 19.07.2023, beschließt das AG die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis. Zwar liege das verfahrensgegenständliche Unfallereignis bereits mehr als 13 Monate zurück, jedoch überwiege das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs die Interessen der Angeklagten als Fahrerlaubnisinhaberin.

Dagegen die Beschwerde, die beim LG Erfolg hat:

„1. Zwar ist die Angeklagte der ihr zur Last gelegten Tat dringend verdächtig. Dagegen erscheint auf der Rechtsfolgenseite insbesondere aufgrund der seither vergangenen Zeit fraglich, ob die von § 111a Abs. 1 StPO vorausgesetzten dringende Gründe für die Annahme, dass der Angeklagten mit Abschluss des Verfahrens die Fahrerlaubnis entzogen werden wird, gegeben sind.

Das Amtsgericht hat sich in dem angefochtenen Beschluss lediglich mit der seit dem verfahrensgegenständlichen Unfallereignis vergangenen Zeit knapp auseinandergesetzt, ansonsten aber ausschließlich belastende Umstände in den Blick genommen.

Unberücksichtigt geblieben ist hingegen der Umstand, dass sich die Angeklagte, soweit ersichtlich, seither im Straßenverkehr beanstandungsfrei verhalten hat. Darüber hinaus hat das Amtsgericht nicht in seine Erwägungen einbezogen, dass die Angeklagte sich am 3. Juni 2022, mithin lediglich rund 14 Stunden nach dem Unfallereignis, auf das Polizeirevier Nagold begeben und dort ihre Unfallbeteiligung eingeräumt hat.

Angesichts dieses Ablaufs spricht einiges dafür, dass trotz des möglicherweise beträchtlichen Sachschadens ein die Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB widerlegender Ausnahmefall gegeben ist. Denn in der Rechtsprechung ist anerkannt, dass dies insbesondere in Betracht kommt, wenn im Hinblick auf einen die Feststellungen nachträglich ermöglichenden Täter die Anwendung des § 142 Abs. 4 StGB daran scheitert, dass der Sachschaden nicht unerheblich war oder es sich um einen Unfall im fließenden Verkehr gehandelt hat und tätige Reue deshalb ausscheidet (vgl. LG Aurich, NZV 2013, 53; LG Gera, StV 2001, 357; LG Zweibrücken, Beschl. v. 11.3.2003 -Qs 31/03; AG Bielefeld, NZV 2014, 378; s. auch Fischer, StGB, 70. Aufl., § 142, Rn. 30).

2. Jedenfalls unterliegt der Beschluss aber deshalb der Aufhebung, weil die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, die mehr als 13 Monate nach dem Unfallereignis erfolgte, aufgrund dieser Zeitspanne nicht verhältnismäßig ist und die bisherige Sachbehandlung zudem eklatant gegen das Beschleunigungsgebot verstößt.

a) Zwar kann die Fahrerlaubnis grundsätzlich auch noch in einem späteren Verfahrensabschnitt vorläufig nach § 111a StPO entzogen werden. Eine feste Grenze, ab deren Erreichen oder Überschreiten die Anordnung der Maßnahme ausscheidet, existiert nicht. Erfolgt die vorläufige Entziehung erst längere Zeit nach der Tatbegehung ist jedoch, da es sich bei § 111a StPO um eine Eilentscheidung handelt, die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes besonders sorgfältig zu prüfen.

b) Von diesen Maßstäben ausgehend ist die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nicht gerechtfertigt. Denn obwohl die Fahrereigenschaft der Angeklagten bereits einen Tag nach dem Unfallereignis feststand und sich der Verdacht eines erheblichen Sachschadens schon aufgrund des Schadensbildes vor Ort geradezu aufdrängte, wurde das Verfahren insbesondere nach dem Abschluss der polizeilichen Ermittlungen aus allein von der Justiz zu verantwortenden Gründen über Monate hinweg nicht betrieben.

Das Polizeipräsidium – Verkehrspolizeiinspektion – Ludwigsburg legte der Staatsanwaltschaft Stuttgart die Verkehrsunfallanzeige am 18. August 2022 vor. In der Folge wurde der Verteidigung Akteneinsicht gewährt, woraufhin mit Schriftsatz vom 23. September 2022 eine Stellungnahme erfolgte. Anschließend wurde auch einem für eine Versicherungsgesellschaft tätigen Rechtsanwalt Akteneinsicht gewährt. Dieser reichte die Akten am 13. Oktober 2022 zurück.

In den folgenden acht Monaten geschah nichts. Nachvollziehbare oder gar in der Sphäre der An-geklagten oder der Verteidigung liegende Gründe hierfür sind nicht ersichtlich. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt grundlegend von jenem, der der vom Amtsgericht zitierten Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart (Beschluss vorn 22. Oktober 2021 – 1 Ws 153/21) zugrunde lag. Denn dort hatten sowohl der Angeklagte als auch dessen Verteidiger durch eine Vielzahl von Verschleppungshandlungen (Erschwerung von Zustellungen durch Geltendmachung verschiedener Meldeadressen, unterlassene Rücksendung von Empfangsbekenntnissen und dadurch erzwungene Terminsaufhebung, offensichtlich unbegründete Ablehnungsgesuche usw.) einen Abschluss des Verfahrens in missbräuchlicher Weise zu verhindern versucht.

Vorliegend hingegen haben die Angeklagte und ihre Verteidiger nichts dergleichen getan, sondern im Gegenteil bereits einen Tag nach dem verfahrensgegenständlichen Ereignis die Fahrereigenschaft offenbart und überdies auch eingeräumt, dass die Angeklagte den Unfall verursacht hat. In der Folge erfolgte eine weitere Sacheinlassung. Verzögerungshandlungen sind demgegenüber nicht ansatzweise erkennbar.

Dies gebietet die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, zumal hinzukommt, dass die Angeklagte nicht vorbestraft ist, seit dem verfahrensgegenständlichen Ereignis keine neuen Verkehrsübertretungen bekannt geworden sind und sich der Tatvorwurf im Laufe des Verfahrens abgeschwächt hat, nachdem die Staatsanwaltschaft den ursprünglich ebenfalls im Raum stehenden Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung fallen gelassen hat und insoweit nach § 170 Abs. 2 StPO verfuhr.“

Soweit, schon mal gut. Das LG „setzt aber noch einen drauf“ und gibt dem AG mit auf den Weg:

„c) Die Strafkammer weist überdies darauf hin, dass es grundsätzlich bedenklich erscheint, wenn eine Maßnahme nach § 111a StPO nicht bereits dann ergriffen wird, sobald der dringende Verdacht insbesondere einer Katalogtat nach § 69 Abs. 2 StGB vorliegt, sondern – bei unveränderter Sachlage – viele Monate später in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Einlegung eines Einspruchs gegen einen zwischenzeitlich erlassenen Strafbefehl. Denn durch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis soll die Allgemeinheit vor den Gefahren durch ungeeignete Kraftfahrer schon vor dem Urteil geschützt werden (statt aller Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Aufl, 2023, § 111a, Rn. 1). Das Schutzbedürfnis der Allgemeinheit hängt indes nicht davon ab, ob gegen einen Strafbefehl Einspruch eingelegt wird oder nicht.“

Das Letzte ist sehr vornehm ausgedrückt. Man hätte auch anders schreiben können. Nämlich. „Retourkutschen“ halten wir nicht. Und dass die vorläufige Entziehung eine „Retourkutsche“ war, liegt m.E. auf der Hand. Dafür spricht der Ablauf. Monatelang passiert nichts. Aber dann wird – zwei Tage nach Einspruchslegung – die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Verkehrsrecht I: Trunkenheitsfahrt mit dem E-Scooter, oder: Entziehung der Fahrerlaubnis ist Regelfall

Bild von Dimitris Vetsikas auf Pixabay

Heute stelle ich Entscheidungen mit verkehrsrechtlichem Einschlag vor.

Ich beginne mit dem OLG Frankfurt, Urt. v. 08.05.2023 – 1 Ss 276/22. Die Pressemitteilung dazu ist ja schon vor einiger Zeit über die Ticker gelaufen. Hier dann jetzt der Volltext zu der Entscheidung.

Dem OLG-Urteil liegt ein amtsgerichtliche Entscheidung zu einer Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) zugründe. Der Angeklagte war im Frühjahr 2022 nach nach einem Barbesuch mit einem E-Scooter gefahren. Seine Blutalkoholkonzentration lag bei mindestens 1,64 Promille. Das AG hat ihn zu einer Geldstrafe verurteilt und ein Fahrverbot von sechs Monaten verhängt. Die Fahrerlaubnis hat es also nicht entzogen. Dagegen die Sprungrevision der StA, die Erfolg hatte:

„Die Begründung, mit der das Amtsgericht trotz Vorliegens eines Regelfalls nach § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB von der Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB und Bestimmung einer Sperre gemäß § 69a StGB abgesehen hat, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Schon im Ansatz geht das Amtsgericht abweichend von der gesetzlichen Regelung davon aus, § 69 StGB sehe „für den Regelfall der Verwirklichung einer Trunkenheitsfahrt gemäß § 316 StGB die Entziehung der Fahrerlaubnis vor“, um sodann festzustellen, vorliegend handele es sich nicht um einen solchen Regelfall.

Tatsächlich bestimmt das Gesetz aber, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB zwingend anzuordnen ist, wenn die Voraussetzungen hierfür gegeben sind. Ein Ermessen des Tatrichters besteht nicht (vgl. BGHSt 5, 168, 176; 6, 183, 185; Fischer StGB 70. Aufl. § 68 Rn. 50; Schäfer/Sander/van Gemmeren Strafzumessung 6. Aufl. Rn. 555). Auch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 62 StGB findet nicht statt (§ 69 Abs. 1 Satz 3 StGB). Die Fahrerlaubnis muss danach entzogen werden, wenn sich aus der Tat ergibt, dass der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Dies ist bei der Verwirklichung eines der in § 69 Abs. 2 StGB genannten Tatbestände in der Regel der Fall.

Nach § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB begründet die Begehung einer Straftat nach § 316 StGB eine Regelvermutung für die Ungeeignetheit des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen im Sinne des § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB mit der Folge der Entziehung der Fahrerlaubnis (BGH, Urteil vom 29. April 2021 – 4 StR 522/20).

Von der Entziehung der Fahrerlaubnis kann nur in seltenen Ausnahmen abgewichen werden, so wenn die Tat selbst Ausnahmecharakter hat, wenn die Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Täters die Gewähr dafür bietet, dass er in Zukunft gleiche oder ähnliche Taten nicht mehr begehen wird, oder wenn ganz besondere vor oder nach der Tat liegende Umstände objektiver oder subjektiver Art festgestellt sind, die den Eignungsmangel entfallen lassen. Es müssen Umstände vorliegen, die sich von den Tatumständen des Durchschnittsfalls deutlich abheben (OLG Stuttgart, Urteil vom 7. Januar 1997 – 4 Ss 672/96; OLG Koblenz, Urteil vom 1. September 1983 – 1 Ss 252/83).

Die von dem Amtsgericht aufgeführten Gründe tragen die Annahme eines solchen Ausnahmefalls nicht. Das Amtsgericht stellt rechtsfehlerhaft darauf ab, dass der Angeklagte nicht Auto, sondern E-Scooter gefahren ist. Das widerspricht der Wertung des Verordnungsgebers, nach der solche Elektrokleinstfahrzeuge Kraftfahrzeuge sind (§ 1 eKFV) sind und damit den dafür geltenden allgemeinen Vorschriften unterliegen (Senat, Urteil vom 4. Oktober 2021 – 1 Ss 113/21; KG Berlin, Urteil vom 10. Mai 2022 – (3) 121 Ss 67/21 (27/21); BayObLG, Beschluss vom 24. Juli 2020 – 205 StRR 216/20). Es mag zutreffen, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung der Norm des § 69 StGB E-Scooter nicht kannte. Der Verordnungsgeber hat aber später in Kenntnis der §§ 69, 69a StGB E-Scooter gleichwohl als Kraftfahrzeuge eingestuft. Demgegenüber sind auf E-Bikes und Pedelecs die Vorschriften über Fahrräder anzuwenden (§ 1 Abs. 3 StVG).

Auch die Argumentation, die Benutzung eines E-Scooters durch einen betrunkenen Fahrer gefährde andere Menschen nicht in gleichem Maße wie eine mittels Pkw oder Lkw begangene Trunkenheitsfahrt, verfängt nicht. Es erschließt sich schon nicht, wie damit die Regelvermutung der Ungeeignetheit im Sinne des § 69 StGB des widerlegt werden könnte. Im Übrigen können durch den Sturz eines Fußgängers oder Radfahrers infolge eines Zusammenstoßes mit dem E-Scooter ganz erhebliche, unter Umständen sogar tödliche Verletzungen verursacht werden. Ebenso wenig berücksichtigt das Amtsgericht in diesem Zusammenhang, dass andere, auch stärker motorisierte Verkehrsteilnehmer durch alkoholbedingte Fahrfehler eines E-Scooter-Fahrers zu Ausweichmanövern, abruptem Bremsen oder Ähnlichem veranlasst werden können, was ebenfalls gravierende Folgen haben kann.

Wenn das Amtsgericht in diesem Zusammenhang weiter ausführt, mit der Anwendung des § 69 StGB könnten weitere Trunkenheitsfahrten mit einem E-Scooter nicht verhindert werden, setzt es sich in Widerspruch zur gesetzlichen Regelung, wonach die Fahrerlaubnis zu entziehen ist, wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen. Mit der Entziehung der Fahrerlaubnis soll – anders als das Amtsgericht meint – nicht nur verhindert werden, „dass der Täter weiterhin betrunken sein Kraftfahrzeug fährt“. Vielmehr bezweckt § 69 StGB den Schutz der Sicherheit des Straßenverkehrs allgemein. Die hohen Risiken, die der Straßenverkehr infolge seiner Dynamik für Leben, Gesundheit und Eigentum der Verkehrsteilnehmer mit sich bringt, werden nämlich durch körperlich, geistig, ebenso aber auch durch charakterlich ungeeignete Kraftfahrer verstärkt; dem soll durch den (zumindest zeitigen) Ausschluss des Betreffenden von der Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr entgegengewirkt werden (BGH [großer Senat für Strafsachen], Beschluss vom 27. April 2005 – GSSt 2/04 -, BGHSt 50, 93).

Durch seine gedankenlose Nutzung eines E-Scooters in erheblich alkoholisiertem Zustand hat der Angeklagte die Katalogtat der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr erfüllt und sich damit als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen. Die Ausführungen des Amtsgerichts wonach es sich bei dem Angeklagten „um einen besonnenen, verständigen und reflektierten Menschen [handelt], der eingesehen hat, dass er sich unrecht verhalten hat“, die Tat bereut und der „außer im hiesigen Fall, die Verkehrsregeln respektiert und befolgt“, sind auch in der Gesamtschau mit den sonstigen Tatumständen nicht derart außergewöhnlich, dass damit die Regelvermutung widerlegt ist. Soweit das Amtsgericht in diesem Zusammenhang darauf abstellt, es handele sich bei dem Angeklagten nicht um den „üblichen Trunkenheitsfahrer“ mit dem es in einer Vielzahl von Fällen zu tun habe, bleibt unklar, was damit gemeint ist. Diese Ausführungen lassen zudem besorgen, dass das Amtsgericht, wie auch an den genannten anderen Stellen der Urteilsgründe deutlich wird, Trunkenheitsfahren mit E-Scootern hinsichtlich der Anwendung von §§ 69, 69a StGB entgegen der Regelvermutung grundsätzlich anders bewerten will als solche mit anderen Kraftfahrzeugen.

Im Umfang der Aufhebung bedarf die Sache daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der neue Tatrichter Feststellungen treffen kann, die geeignet sind, die Regelvermutung tragfähig zu widerlegen. Diese dürfen den rechtskräftigen Feststellungen zum Tathergang jedoch nicht widersprechen. Bei der neuen Entscheidung wird zudem die Dauer der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis sowie des Fahrverbots zu berücksichtigen sein.

In diesem Zusammenhang weist der Senat darauf hin, dass das Fahrverbot mit Eingang der Revisionsbegründung vom 28. Oktober 2022 bei dem Amtsgericht am 4. November 2022 infolge der Rechtsmittelbeschränkung rechtskräftig und gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 StGB im selben Zeitpunkt wirksam geworden ist, da der Führerschein des Angeklagten aufgrund der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis bereits in amtlicher Verwahrung war. Das Amtsgericht hat außerdem in den Entscheidungsgründen deutlich zum Ausdruck gebracht, dass auf die Verbotsfrist die Zeit der amtlichen Verwahrung infolge der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 111a StPO angerechnet werden soll, so wie dies in der Regel der Fall ist (§ 51 Abs. 5 StGB; Fischer a.a.O. § 44 Rn. 32). Der Führerschein des Angeklagten gelangte aufgrund der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis durch Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 29. Juli 2022 am 17. August 2022 zur Akte. Mithin ist die Verbotsfrist zwischenzeitlich abgelaufen.“

(Indizierte) Dauerbehandlung mit Medizinal-Cannabis, oder: Auswirkungen auf die Fahreignung

Bild von nneem auf Pixabay

Und an Karsamstag heute dann zwei verkehrsverwaltungsrechtliche Entscheidungen. Beide kommen vom VGH Baden-Würrtemberg.

Hier zunächst der VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 16.01.2023 – 13 S 330/22 – zu den Auswirkungen einer Dauerbehandlung mit Medizinal-Cannabis auf die Fahreignung und den Verlust der Fahrerlaubnis. Ich stelle hier nur den Leitsatz vor, den Rest dann botte im Volltext selbst lesen:

    1. Eine Dauerbehandlung mit Medizinal-Cannabis führt nur dann nicht zum Verlust der Fahreignung, wenn die Einnahme von Cannabis indiziert und ärztlich verordnet ist, das Medizinal-Cannabis zuverlässig nach der ärztlichen Verordnung eingenommen und die Medikamenteneinnahme ärztlich überwacht wird, keine dauerhaften Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit zu erwarten sind, die Grunderkrankung bzw. die vorliegende Symptomatik keine verkehrsmedizinisch relevante Ausprägung aufweist, die eine sichere Verkehrsteilnahme beeinträchtigt, und nicht zu erwarten ist, dass der Betroffene in Situationen, in denen seine Fahrsicherheit durch Auswirkungen der Erkrankung oder der Medikation beeinträchtigt ist, am Straßenverkehr teilnehmen wird.
    2. Eine Indikation zur Behandlung mit Betäubungsmitteln (hier: Medizinal-Cannabis) ist nur gegeben, wenn ihre Anwendung zur Erreichung des Therapieziels unerlässlich (ultima ratio) ist. Kommen andere Maßnahmen in Betracht, die zur Erreichung des Ziels geeignet sind, wie etwa eine Änderung der Lebensweise, physiotherapeutische Behandlungen, eine Psycho- oder Verhaltenstherapie oder die Anwendung nicht den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes unterliegender Arzneimittel, ist diesen der Vorrang zu geben.

Entziehung der Fahrerlaubnis II: Drei Entscheidungen, oder: Epilepsie, Arzneimittelmissbrauch, Neuerteilung

Bild von Andreas Breitling auf Pixabay

Im zweiten Entziehungsposting dann einige weitere Entscheidungen zur Entziehung der Fahrerlaubnis, allerdings nur die jeweiligen Leitsätze:

Nach Nr. 3 der Vorbemerkungen der Anlage 4 zur FeV gelten die dort vorgenommenen Bewertungen für den Regelfall. Kompensationen durch besondere menschliche Veranlagung, durch Gewöhnung, durch besondere Einstellung oder durch besondere Verhaltenssteuerungen und -umstellungen sind möglich. Ergeben sich im Einzelfall in dieser Hinsicht Zweifel, kann eine medizinisch-psychologische Begutachtung angezeigt sein. Nach Nr. 3.9.6 der Begutachtungsleitlinien (S. 50) kann die Fahreignung trotz persistierender Anfälle gegeben sein, wenn durch mindestens dreijährige Beobachtungszeit gesichert ist, dass die Anfälle ausschließlich an den Schlaf gebunden sind, oder wenn einfache fokale Anfälle ohne Bewusstseinsstörung und ohne motorische sensorische oder kognitive Behinderung einhergehen, sofern nach mindestens einjähriger Beobachtungszeit keine fahrrelevante Ausdehnung der Anfallssymptomatik und kein Übergang zu komplex-fokalen oder sekundär generalisierten Anfällen erkennbar geworden sind. Die Beweislast trägt insoweit der Fahrerlaubnisinhaber.

    1. Eine Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Arzneimittelmissbrauchs nach Nr. 9.4 der Anlage 4 der FeV setzt voraus, dass die Fahrerlaubnisbehörde einen regelmäßig übermäßigen Gebrauch des psychoaktiv wirkenden Arzneimittels beweiskräftig belegen kann. Änderungen des Erkenntnisstands bzw. der Sachlage im Lauf des Widerspruchsverfahrens sind dabei zu beachten.
    2. Wird eine Fahrungeeignetheit festgestellt, so ist grundsätzlich von deren Fortbestand auszugehen, solange nicht vom Betroffenen der materielle Nachweis der Wiedererlangung der Fahreignung erbracht worden ist.
    3. Bei hinreichend belastbaren Anhaltspunkten für eine mögliche Wiedergewinnung der Fahreignung und der Bereitschaft des Betroffenen, sich einer erforderlichen Begutachtung zu unterziehen, kann die Fahrerlaubnisbehörde rechtlich verpflichtet sein, bereits in dem die Fahrerlaubnisentziehung betreffenden Widerspruchsverfahren erforderliche Aufklärungsmaßnahmen einzuleiten.

Auch in einem Fall, in dem die Fahrerlaubnisbehörde annimmt, dass schon bei Erteilung der Fahrerlaubnis die Eignung oder Befähigung des Fahrerlaubnisbewerbers fehlten, beurteilt sich die Frage der Rückgängigmachung der Fahrerlaubniserteilung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG. Allgemeine verwaltungsrechtlichen Grundsätzen sind in einem solchen Fall dagegen nicht anwendbar.