Verkehrsrecht II: Langer Zeitablauf nach Unfallflucht, oder: Vorläufige Entziehung ist keine Retourkutsche

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Als zweite Entscheidung stelle ich dann den LG Stuttgart, Beschl. v. 04.08.2023 – 9 Qs 39/23 – vor.

Das LG hat über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) entschieden. Zugrunde lag ein unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB). Insoweit ist offenbar, da das LG dazu nichts ausführt, nichts problematisch. Problematisch ist aber der Zeitablauf. Denn: Tatzeit war der 02.06.2022. Danach passiert im Hinblick auf die Fahrerlaubnis nichts. Am 20.06.2023 beantragt die Staatsanwaltschaft dann einen Strafbefehl und beantragt, der Angeklagten nach § 111a StPO vorläufig die Fahrerlaubnis zu entziehen. Das AG erlässt am 23.06.2023 den Strafbefehl, hinsichtlich der Fahrerlaubnis passiert nichts. Der Verteidiger äußert sich  am 10. Juli 2023 zur beantragten vorläufigen Entziehung und legt am 17.07.2023 zudem für die Angeklagte Einspruch gegen den zwischenzeitlich zugestellten Strafbefehl ein.

Zwei Tage später, am 19.07.2023, beschließt das AG die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis. Zwar liege das verfahrensgegenständliche Unfallereignis bereits mehr als 13 Monate zurück, jedoch überwiege das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs die Interessen der Angeklagten als Fahrerlaubnisinhaberin.

Dagegen die Beschwerde, die beim LG Erfolg hat:

„1. Zwar ist die Angeklagte der ihr zur Last gelegten Tat dringend verdächtig. Dagegen erscheint auf der Rechtsfolgenseite insbesondere aufgrund der seither vergangenen Zeit fraglich, ob die von § 111a Abs. 1 StPO vorausgesetzten dringende Gründe für die Annahme, dass der Angeklagten mit Abschluss des Verfahrens die Fahrerlaubnis entzogen werden wird, gegeben sind.

Das Amtsgericht hat sich in dem angefochtenen Beschluss lediglich mit der seit dem verfahrensgegenständlichen Unfallereignis vergangenen Zeit knapp auseinandergesetzt, ansonsten aber ausschließlich belastende Umstände in den Blick genommen.

Unberücksichtigt geblieben ist hingegen der Umstand, dass sich die Angeklagte, soweit ersichtlich, seither im Straßenverkehr beanstandungsfrei verhalten hat. Darüber hinaus hat das Amtsgericht nicht in seine Erwägungen einbezogen, dass die Angeklagte sich am 3. Juni 2022, mithin lediglich rund 14 Stunden nach dem Unfallereignis, auf das Polizeirevier Nagold begeben und dort ihre Unfallbeteiligung eingeräumt hat.

Angesichts dieses Ablaufs spricht einiges dafür, dass trotz des möglicherweise beträchtlichen Sachschadens ein die Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB widerlegender Ausnahmefall gegeben ist. Denn in der Rechtsprechung ist anerkannt, dass dies insbesondere in Betracht kommt, wenn im Hinblick auf einen die Feststellungen nachträglich ermöglichenden Täter die Anwendung des § 142 Abs. 4 StGB daran scheitert, dass der Sachschaden nicht unerheblich war oder es sich um einen Unfall im fließenden Verkehr gehandelt hat und tätige Reue deshalb ausscheidet (vgl. LG Aurich, NZV 2013, 53; LG Gera, StV 2001, 357; LG Zweibrücken, Beschl. v. 11.3.2003 -Qs 31/03; AG Bielefeld, NZV 2014, 378; s. auch Fischer, StGB, 70. Aufl., § 142, Rn. 30).

2. Jedenfalls unterliegt der Beschluss aber deshalb der Aufhebung, weil die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, die mehr als 13 Monate nach dem Unfallereignis erfolgte, aufgrund dieser Zeitspanne nicht verhältnismäßig ist und die bisherige Sachbehandlung zudem eklatant gegen das Beschleunigungsgebot verstößt.

a) Zwar kann die Fahrerlaubnis grundsätzlich auch noch in einem späteren Verfahrensabschnitt vorläufig nach § 111a StPO entzogen werden. Eine feste Grenze, ab deren Erreichen oder Überschreiten die Anordnung der Maßnahme ausscheidet, existiert nicht. Erfolgt die vorläufige Entziehung erst längere Zeit nach der Tatbegehung ist jedoch, da es sich bei § 111a StPO um eine Eilentscheidung handelt, die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes besonders sorgfältig zu prüfen.

b) Von diesen Maßstäben ausgehend ist die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nicht gerechtfertigt. Denn obwohl die Fahrereigenschaft der Angeklagten bereits einen Tag nach dem Unfallereignis feststand und sich der Verdacht eines erheblichen Sachschadens schon aufgrund des Schadensbildes vor Ort geradezu aufdrängte, wurde das Verfahren insbesondere nach dem Abschluss der polizeilichen Ermittlungen aus allein von der Justiz zu verantwortenden Gründen über Monate hinweg nicht betrieben.

Das Polizeipräsidium – Verkehrspolizeiinspektion – Ludwigsburg legte der Staatsanwaltschaft Stuttgart die Verkehrsunfallanzeige am 18. August 2022 vor. In der Folge wurde der Verteidigung Akteneinsicht gewährt, woraufhin mit Schriftsatz vom 23. September 2022 eine Stellungnahme erfolgte. Anschließend wurde auch einem für eine Versicherungsgesellschaft tätigen Rechtsanwalt Akteneinsicht gewährt. Dieser reichte die Akten am 13. Oktober 2022 zurück.

In den folgenden acht Monaten geschah nichts. Nachvollziehbare oder gar in der Sphäre der An-geklagten oder der Verteidigung liegende Gründe hierfür sind nicht ersichtlich. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt grundlegend von jenem, der der vom Amtsgericht zitierten Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart (Beschluss vorn 22. Oktober 2021 – 1 Ws 153/21) zugrunde lag. Denn dort hatten sowohl der Angeklagte als auch dessen Verteidiger durch eine Vielzahl von Verschleppungshandlungen (Erschwerung von Zustellungen durch Geltendmachung verschiedener Meldeadressen, unterlassene Rücksendung von Empfangsbekenntnissen und dadurch erzwungene Terminsaufhebung, offensichtlich unbegründete Ablehnungsgesuche usw.) einen Abschluss des Verfahrens in missbräuchlicher Weise zu verhindern versucht.

Vorliegend hingegen haben die Angeklagte und ihre Verteidiger nichts dergleichen getan, sondern im Gegenteil bereits einen Tag nach dem verfahrensgegenständlichen Ereignis die Fahrereigenschaft offenbart und überdies auch eingeräumt, dass die Angeklagte den Unfall verursacht hat. In der Folge erfolgte eine weitere Sacheinlassung. Verzögerungshandlungen sind demgegenüber nicht ansatzweise erkennbar.

Dies gebietet die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, zumal hinzukommt, dass die Angeklagte nicht vorbestraft ist, seit dem verfahrensgegenständlichen Ereignis keine neuen Verkehrsübertretungen bekannt geworden sind und sich der Tatvorwurf im Laufe des Verfahrens abgeschwächt hat, nachdem die Staatsanwaltschaft den ursprünglich ebenfalls im Raum stehenden Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung fallen gelassen hat und insoweit nach § 170 Abs. 2 StPO verfuhr.“

Soweit, schon mal gut. Das LG „setzt aber noch einen drauf“ und gibt dem AG mit auf den Weg:

„c) Die Strafkammer weist überdies darauf hin, dass es grundsätzlich bedenklich erscheint, wenn eine Maßnahme nach § 111a StPO nicht bereits dann ergriffen wird, sobald der dringende Verdacht insbesondere einer Katalogtat nach § 69 Abs. 2 StGB vorliegt, sondern – bei unveränderter Sachlage – viele Monate später in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Einlegung eines Einspruchs gegen einen zwischenzeitlich erlassenen Strafbefehl. Denn durch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis soll die Allgemeinheit vor den Gefahren durch ungeeignete Kraftfahrer schon vor dem Urteil geschützt werden (statt aller Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Aufl, 2023, § 111a, Rn. 1). Das Schutzbedürfnis der Allgemeinheit hängt indes nicht davon ab, ob gegen einen Strafbefehl Einspruch eingelegt wird oder nicht.“

Das Letzte ist sehr vornehm ausgedrückt. Man hätte auch anders schreiben können. Nämlich. „Retourkutschen“ halten wir nicht. Und dass die vorläufige Entziehung eine „Retourkutsche“ war, liegt m.E. auf der Hand. Dafür spricht der Ablauf. Monatelang passiert nichts. Aber dann wird – zwei Tage nach Einspruchslegung – die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

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