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beA: Zeitreserven für Synchronisation von Computern, oder: Verschulden, wenn ein Zeitpolster fehlt

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Und heute dann im „Kessel Buntes“ zwei Entscheidungen aus dem Verfahrensrecht.

Ich beginne mit einer weiteren Entscheidung zum beA. Die kommt aus einem Verwaltungsverfahren, das in Baden-Württemberg anhängig war.

Nach dem Sachverhalt hatte der Kläger an einer ihm gehörenden Villa Umbauarbeiten vorgenommen, obwohl die Villa im Denkmalbuch stand. Der Kläger hat versucht, die Villa aus dem Denkmalbuch löschen zu lassen. Außerdem hatte er in einem anderen Verfahren beantragt festzustellen, dass die Villa kein Kulturdenkmal darstelle, oder hilfsweise, dass die Umbauarbeiten im Nachhinein genehmigt werden.

Das VG hat beide Klagen am selben Tag abgewiesen. Der Kläger hat dann in beiden Verfahren beantragt, die Berufung zuzulassen. In dem Verfahren betreffend Löschung aus dem Denkmalbuch übersandte sein Prozessbevollmächtigter die Begründung seines Antrags eine halbe Stunde vor Fristablauf. Die Begründung für den zweiten Antrag ging drei Minuten nach Fristablauf beim VGH ein.

Der Kläger hat Wiedereinsetzung beantragt und dazu vorgetragen:  Der Kartenleser für den beA-Zugang habe schon am Mittag nicht funktioniert. Deshalb sei ein Gerät eines Kollegen installiert worden, um sich ins beA einloggen zu können. Der Funktionstest auf der zweiten Ebene – Citrix Workspace (eine digitale Arbeitsumgebung) – sei aber negativ ausgefallen. Die Ursache dafür habe wohl in dem Server gelegen, der außerhalb der Kanzlei arbeitete. Er habe deshalb den Schriftsatz erstellen, dann in der Cloud abspeichern und dann über beA versenden wollen. Diese „Synchronisation“ dauere an sich nur wenige Sekunden. Im Verfahren „Denkmalbuch“ habe das auch geklappt. Dann habe er sich den Wecker auf fünf vor Mitternacht gestellt, um bis dahin noch an dem Schriftsatz zu arbeiten. Als es dann zur Versendung gekommen sei, habe die Synchronisation wesentlich länger als erwartet gedauert.

Der VGH Baden-Württemberg hat den Antrag mit dem VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 14.12.2023 – 1 S 1173/23 – zurückgewiesen:

„2. Der Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 VwGO ist abzulehnen, weil sein Prozessbevollmächtigter nicht ohne Verschulden verhindert war, die gesetzliche Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO, einzuhalten.

a) Verschuldet i.S.v. § 60 Abs. 1 VwGO ist eine Fristversäumnis, wenn der Beteiligte die Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten ist und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.02 2021 – 2 C 11/19 – juris Rn. 6, m.w.N.). Dabei ist ihm ein Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zuzurechnen (§ 173 VwGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO). Die „Beweislast“ für die Umstände, die dafür sprechen, dass die Fristversäumnis unverschuldet war, liegt bei dem Betroffenen, der die Wiedereinsetzung begehrt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.05.2010 – 7 B 18/10 – juris Rn. 4, m.w.N.). Gelingt die Glaubhaftmachung nicht oder bleibt nach den glaubhaft gemachten Tatsachen zumindest die Möglichkeit offen, dass die Fristversäumung von dem Beteiligten bzw. seinem Prozessbevollmächtigten verschuldet war, so kann Wiedereinsetzung nicht gewährt werden (BVerwG, Beschl. v. 25.09.2023 – 1 C 10/23 – juris Rn. 12; BGH, Beschl. v. 01.03.2023 – XII ZB 228/22 – juris Rn. 13).

Prozessuale Fristen – wie des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO – dürfen bis zu ihrer Grenze ausgenutzt werden (st. Rspr., vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 14.02.2023 – 2 BvR 653/20 – juris Rn. 22, m.w.N.; Beschl. v. 15.01.2014 – 1 BvR 1656/09 – juris Rn. 37; BVerwG, Beschl. v. 25.09.2023, a.a.O. Rn. 15, m.w.N.). Einem Verfahrensbeteiligten kann daher nicht vorgeworfen werden, dass er bis zum letzten Tag der Frist abwartet, ehe er eine fristgebundene prozessrechtliche Erklärung abgibt. Wird eine Rechtsmittelfrist oder die Begründungsfrist bis zum letzten Tag ausgeschöpft, so treffen den Verfahrensbeteiligten allerdings erhöhte Sorgfaltspflichten. Er muss alle gebotenen und zumutbaren Maßnahmen treffen, um die Gefahr einer Fristversäumnis zu vermeiden. Ein pflichtbewusster Rechtsanwalt ist daher kurz vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist verpflichtet, jedes Risiko zu meiden, das zu einer Fristversäumung führen oder beitragen kann (BVerfG, Kammerbeschl. v. 02.07.2014 – 1 BvR 862/13 – juris Rn. 4, m.w.N.; BVerwG, Beschl. v. 25.05.2010, a.a.O.Rn. 6, m.w.N.; BGH, Beschl. v. 09.05.2006 – XI ZB 45/04 – juris Rn. 8 ff.).

Eine Fehlfunktion technischer Einrichtungen in der Anwaltskanzlei entlastet den Rechtsanwalt (nur) dann, wenn die Störung plötzlich und unerwartet aufgetreten ist und durch regelmäßige Wartung der Geräte nicht hätte verhindert werden können (BGH, Beschl. v. 18.02.2020 – XI ZB 8/19 – juris Rn. 12; Beschl. v. 15.12.2022 – I ZB 35/22 – juris Rn. 13). Dabei ist ein Rechtsanwalt bei Ausschöpfung einer Frist bis zum letzten Tag zwar nicht verpflichtet, die technischen Systeme stets vorsorglich auf dessen Funktionsfähigkeit zu überprüfen. Er missachtet aber dann die gebotene Sorgfalt, wenn er wegen eines Versagens des technischen Systems konkreten Anlass dafür hat, an dessen verlässlicher Funktionstauglichkeit zu zweifeln (BGH, Beschl. v. 16.11.2016 – VII ZB 35/14 – juris Rn. 13; Beschl. v. 18.02.2020, a.a.O. Rn. 12; je zum Telefax).

Bei der Übersendung von Schriftsätzen mittels Telefax muss der Versender Verzögerungen berücksichtigen, mit denen üblicherweise zu rechnen ist, wozu schwankende Übertragungsgeschwindigkeiten oder die Belegung des Telefax-empfangsgeräts bei Gericht durch andere eingehende Sendungen gehören, und daher einen über die zu erwartende Übermittlungsdauer der zu faxenden Schriftsätze samt Anlagen hinausgehenden Sicherheitszuschlag in der Größenordnung von 20 Minuten einkalkulieren (st. Rspr., BVerwG, Beschl. v. 25.09.2023, a.a.O. Rn. 17, m.w.N.).

Auch im elektronischen Rechtsverkehr muss mit einer nicht jederzeit reibungslosen Übermittlung gerechnet werden, und können z.B. Schwankungen bei der Internetverbindung oder eine hohe Belastung des Servers kurz vor Mitternacht etwa wegen einer großen Anzahl eingehender Nachrichten oder wegen der Durchführung von Software-Updates zu Verzögerungen führen, die einzukalkulieren sind (BVerwG, Beschl. v. 25.09.2023, a.a.O. Rn. 18; HessVGH, Beschl. v. 24.08.2022 – 4 A 149/22.Z – juris Rn. 10; OLG Frankfurt, Beschl. v. 03.11.2021 – 6 U 131/21 – juris Rn. 14). Dem ist durch eine zeitliche Sicherheitsreserve bei der Übermittlung fristgebundener Schriftsätze Rechnung zu tragen (BVerwG, Beschl. v. 25.09.2023, a.a.O. Rn. 18f.).

b) Nach diesem Maßstab ist die Versäumung der Begründungsfrist nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO hier verschuldet. Ein Verschulden liegt in mehrfacher Hinsicht vor. Jeder dieser Sorgfaltsverstöße führt bereits je für sich zur Ablehnung der Wiedereinsetzung nach § 60 Abs. 1 VwGO.

aa) Auch im elektronischen Rechtsverkehr muss, wie ausgeführt, durch einen pflichtgemäß handelnden Rechtsanwalt eine zeitliche Sicherheitsreserve bei der Übermittlung fristgebundener Schriftsätze einkalkuliert werden. Dabei ist eine Zeitspanne von unter sieben Minuten für die Übermittlung über das besondere elektronische Anwaltspostfach bei einer nur ca. 280 KB umfassenden Datei zu knapp bemessen (BVerwG, Beschl. v. 25.09.2023, a.a.O. Rn. 18f.). Zu knapp kalkuliert ist daher auch – wie hier – eine Zeitspanne von weniger als fünf Minuten für eine Datei von ca. 300 KB. Das Vorsehen eines so kurzen Zeitraums für die Übermittlung ist auch angesichts des vom Prozessbevollmächtigten geltend gemachten Vertrauens auf eine vergleichbar schnelle Versendung wie im Verfahren 1 S 1126/23 ein Verschulden i.S.v. § 60 Abs. 1 VwGO. Maßgeblich ist auch bei Erfahrungswerten eines Prozessbevollmächtigten die unter normalen Umständen zu erwartende Übermittlungsdauer zuzüglich eines Sicherheitszuschlags (BGH, Beschl. v. 27.09.2018 – IX ZB 67/17 – juris Rn. 20, 21). Zudem beruft sich der Prozessbevollmächtigte hier nur auf den „Erfahrungswert“ aus einem einzigen anderen Verfahren.

Liegt mithin bereits mangels Einkalkulierens einer ausreichenden zeitlichen Sicherheitsreserve eine Sorgfaltspflichtverletzung vor, so kommt es nicht auf die Frage an, ob eine – wie hier geltend gemacht – unvorhersehbare und unvermeidbare Störung der Hard- oder Software des Computersystems in der Anwaltskanzlei vorlag (BVerwG, Beschl. v. 25.09.2023, a.a.O. Rn. 22).

bb) Ein Verschulden i.S.v. § 60 Abs. 1 VwGO ist es auch, die für das Erstellen des fristgebundenen Schriftsatzes notwendige Synchronisation zwischen dem lokalen PC des Anwalts und einem Arbeitssystem auf einem Server in einem weit entfernten Rechenzentrum erst fünf Minuten vor dem Fristende durchzuführen. Diese Synchronisation ist auf Leitungen außerhalb der Kanzlei und die Übermittlung über Internetverbindungen angewiesen. Daher müssen bei sorgfältigem Handeln – wie bei der Übermittlung von Schriftsätzen an das Gericht per Telefax oder im elektronischen Rechtsverkehr – ausreichende Zeitreserven eingeplant werden. Dies hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers hier pflichtwidrig unterlassen.

Der Umstand, dass diese Synchronisation im Verfahren 1 S 1126/23 um 23:28 Uhr innerhalb weniger Sekunden funktionierte und der IT-Mitarbeiter xxx dem Prozessbevollmächtigten mitgeteilt hatte, dass eine in der zweiten Ebene in OneDrive gespeicherte Datei mit der hier zu erwartenden Größe von ca. 300 KB in aller Regel sofort synchronisiert werde, d.h. innerhalb weniger Sekunden (maximal binnen einer Minute) auf der ersten Ebene zur Verfügung stehe, entlastet den Prozessbevollmächtigten nicht. Denn zwischen dem Kanzleistandort mit lokalen PCs und einem Server in einem weit entfernten, externen Rechenzentrum ist mit Übertragungsproblemen und schwankenden Internetverbindungen zu rechnen. Dieses Risiko hat der pflichtbewusste Rechtsanwalt kurz vor Fristende zu meiden.

cc) Ein weiteres Verschulden i.S.v. § 60 Abs. 1 VwGO liegt darin, dass der Prozessbevollmächtigte am 14.08.2023 für die Erstellung des Schriftsatzes mit der Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung keinen anderen sichereren Weg wählte, als am Nachmittag nicht aufzuklärende technische Probleme auf der zweiten Ebene des Computersystems auftraten. Beim Funktionstest mit dem externen IT-Mitarbeiter xxx am Tag des Fristablaufs zwischen 15 und 16 Uhr fiel der Funktionstest auf der zweiten Ebene negativ aus und wurde die Karte auf der zweiten Ebene im beA-Portal nicht erkannt, während der Kartenleser auf der ersten Ebene, auf dem lokalen PC funktionierte. Der IT-Mitarbeiter xxx konnte selbst nicht nachvollziehen, warum das Kartenlesegerät nur auf der ersten, nicht aber auf der zweiten Ebene funktionierte. Das Computersystem der Kanzlei funktionierte auf der zweiten Ebene mithin nicht störungsfrei. Wenn solche Störungen auftreten, erhöhen sich die Sorgfaltspflichten des Rechtsanwalts und ist er verpflichtet, parallele Sicherungsmaßnahmen durchzuführen (BGH, Beschl. v. 27.01.2015 – II ZB 21/13 – juris Rn. 10 ff., zu Sicherungsmaßnahmen bei eingeschränktem Zugriff auf den Fristenkalender auf einem externen Server). Zu einer solchen Sicherungsmaßnahme hätte hier gehören können, den fristgebundenen Schriftsatz ausschließlich auf dem lokalen PC zu erstellen. Dies hat der Prozessbevollmächtigte pflichtwidrig unterlassen.“

Fahrerlaubnismaßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde, oder: Maßgeblicher Punktestand im FABS

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In der zweiten Entscheidung, dem VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. Beschl. v. 13.03.2023, 13 S 2370/22 – geht es um die Frage des maßgeblichen Punktestandses im FABS und dabei um die Frage der Kenntnis der Verwaltungsbehörde. Dazu der VGH:

„Unabhängig davon vermag die Beschwerdebegründung auch in der Sache eine Änderung der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergangenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nicht zu rechtfertigen. Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und ist die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem (§ 40 i. V. m. Anlage 13 der Fahrerlaubnisverordnung) ergeben. Die kraft Gesetzes (§ 4 Abs. 9 StVG) sofort vollziehbare Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem setzt voraus, dass der Fahrerlaubnisinhaber zuvor das Stufensystem des § 4 Abs. 5 StVG ordnungsgemäß durchlaufen hat (§ 4 Abs. 6 StVG), er also bei Erreichen von vier oder fünf Punkten ermahnt (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG) und bei Erreichen von sechs oder sieben Punkten verwarnt (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG) wurde.

Das Verwaltungsgericht ist zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, dass der Antragsteller mehr als acht Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem erreicht hat und vor der Entziehung der Fahrerlaubnis ordnungsgemäß ermahnt und verwarnt wurde. Insbesondere ist es – anders als es das Beschwerdevorbringen meint – nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht festgestellt hat, dass die am 24.01., 15.02., 04.03. sowie am 19.11.2020 begangenen und mit insgesamt 5 Punkten belegten Verkehrszuwiderhandlungen nicht von der gemäß § 4 Abs. 6 Satz 3 Nr. 1 StVG mit der Ermahnung zu gewährenden Punkteverringerung hätten erfasst werden müssen. Denn die Antragsgegnerin hatte zum Zeitpunkt der mit der Verwarnung vorzunehmenden Verringerung des Punktestands keine Kenntnis von diesen Punkten i. S. v. § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG gehabt.

Zwar hat der Antragsteller über seine damaligen Bevollmächtigten mit Schreiben vom 23.11. und vom 11.12.2020 die Antragsgegnerin von entsprechenden rechtskräftigen Bußgeldbescheiden unterrichtet. Doch ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung einhellig anerkannt, dass die zuständige Behörde den für die Anwendung des § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG erforderlichen Kenntnisstand nur durch Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamts, nicht aber durch Mitteilungen des Fahrerlaubnisinhabers, seines bevollmächtigten Rechtsanwalts oder anderer Privatpersonen erhalten kann (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 20.07.2016 – 16 B 382/16 – juris Rn. 8 ff. und vom 25.11.2020 – 16 B 854/20 – juris Rn. 20 ff; OVG Sachsen, Beschluss vom 10.02.2017 – 3 B 215/16 -, juris Rn. 8; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 13.06.2019 – 3 M 85/19 – juris Rn. 13 ff.; OVG Niedersachsen, Beschluss vom 03.03.2020 – 12 ME 6/20 – juris Rn. 16 ff., 23; BayVGH, Beschluss vom 13.01.2022 – 11 CS 21.2794 – juris Rn. 13; ebenso Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl., § 4 StVG Rn. 88b; Stieber in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 4 StVG Rn. 82; Koehl, NJW 2018, 1281 <1284>; anderer Ansicht Pießkalla, NZV 2017, 261 <263 ff.>, auf den der Antragsteller Bezug nimmt). Diese Rechtsprechung kann sich zudem auf die Judikatur des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 26.01.2017 – 3 C 21.15 – juris Rn. 25; Beschluss vom 22.02.2022 – 3 B 11.21 – juris Rn. 17) stützen, nach der im Fahreignungs-Bewertungssystem die Fahrerlaubnisbehörde auf der Grundlage der ihr gemäß § 4 Abs. 8 StVG vom Kraftfahrt-Bundesamt übermittelten Eintragungen im Fahreignungsregister entscheidet und dieser Kenntnisstand maßgebend für die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 StVG ist.

Das Vorbringen des Antragstellers vermag diese Rechtsprechung nicht in Frage zu stellen. Zwar ist in § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG nicht ausdrücklich geregelt, welche Informationsquellen die Fahrerlaubnisbehörde bei der Anwendung des § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG zu berücksichtigen hat. Für die Beschränkung auf Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamts sprechen aber – wie bereits das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat – die Systematik des § 4 StVG und der Sinn und Zweck des Fahreignungs-Bewertungssystems. Nur das Kraftfahrt-Bundesamt kann zuverlässig über die Eintragungen im Fahreignungsregister unterrichten, das bei ihm geführt wird. Würden auch private Mitteilungen als Informationsquellen zugelassen, wäre dies mit der Gefahr von fehlerhaften Mitteilungen und demzufolge mit einem hohen Prüfaufwand der Fahrerlaubnisbehörde verbunden. Die mit der Zulassung von privaten Mitteilungen verbundene Möglichkeit, begangene Zuwiderhandlungen mit dem Ziel zu sammeln, diese der Fahrerlaubnisbehörde „auf einen Schlag“ zur Kenntnis zu geben und dadurch eine Punktereduzierung zu erreichen, wäre mit dem Zweck des Fahreignungs-Bewertungssystems, die von Mehrfach- und Intensivtätern ausgehenden Gefahren im Straßenverkehr zu vermeiden, nicht zu vereinbaren (vgl. zum Ganzen Dauer a. a. O.). Dies hat das Verwaltungsgericht unter Aufbereitung der genannten obergerichtlichen Rechtsprechung in dem angegriffenen Beschluss ausführlich und zutreffend dargelegt, so dass auf ihn zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen werden kann (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO)…..“

(Indizierte) Dauerbehandlung mit Medizinal-Cannabis, oder: Auswirkungen auf die Fahreignung

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Und an Karsamstag heute dann zwei verkehrsverwaltungsrechtliche Entscheidungen. Beide kommen vom VGH Baden-Würrtemberg.

Hier zunächst der VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 16.01.2023 – 13 S 330/22 – zu den Auswirkungen einer Dauerbehandlung mit Medizinal-Cannabis auf die Fahreignung und den Verlust der Fahrerlaubnis. Ich stelle hier nur den Leitsatz vor, den Rest dann botte im Volltext selbst lesen:

    1. Eine Dauerbehandlung mit Medizinal-Cannabis führt nur dann nicht zum Verlust der Fahreignung, wenn die Einnahme von Cannabis indiziert und ärztlich verordnet ist, das Medizinal-Cannabis zuverlässig nach der ärztlichen Verordnung eingenommen und die Medikamenteneinnahme ärztlich überwacht wird, keine dauerhaften Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit zu erwarten sind, die Grunderkrankung bzw. die vorliegende Symptomatik keine verkehrsmedizinisch relevante Ausprägung aufweist, die eine sichere Verkehrsteilnahme beeinträchtigt, und nicht zu erwarten ist, dass der Betroffene in Situationen, in denen seine Fahrsicherheit durch Auswirkungen der Erkrankung oder der Medikation beeinträchtigt ist, am Straßenverkehr teilnehmen wird.
    2. Eine Indikation zur Behandlung mit Betäubungsmitteln (hier: Medizinal-Cannabis) ist nur gegeben, wenn ihre Anwendung zur Erreichung des Therapieziels unerlässlich (ultima ratio) ist. Kommen andere Maßnahmen in Betracht, die zur Erreichung des Ziels geeignet sind, wie etwa eine Änderung der Lebensweise, physiotherapeutische Behandlungen, eine Psycho- oder Verhaltenstherapie oder die Anwendung nicht den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes unterliegender Arzneimittel, ist diesen der Vorrang zu geben.

Entziehung der Fahrerlaubnis II: Drei Entscheidungen, oder: Epilepsie, Arzneimittelmissbrauch, Neuerteilung

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Im zweiten Entziehungsposting dann einige weitere Entscheidungen zur Entziehung der Fahrerlaubnis, allerdings nur die jeweiligen Leitsätze:

Nach Nr. 3 der Vorbemerkungen der Anlage 4 zur FeV gelten die dort vorgenommenen Bewertungen für den Regelfall. Kompensationen durch besondere menschliche Veranlagung, durch Gewöhnung, durch besondere Einstellung oder durch besondere Verhaltenssteuerungen und -umstellungen sind möglich. Ergeben sich im Einzelfall in dieser Hinsicht Zweifel, kann eine medizinisch-psychologische Begutachtung angezeigt sein. Nach Nr. 3.9.6 der Begutachtungsleitlinien (S. 50) kann die Fahreignung trotz persistierender Anfälle gegeben sein, wenn durch mindestens dreijährige Beobachtungszeit gesichert ist, dass die Anfälle ausschließlich an den Schlaf gebunden sind, oder wenn einfache fokale Anfälle ohne Bewusstseinsstörung und ohne motorische sensorische oder kognitive Behinderung einhergehen, sofern nach mindestens einjähriger Beobachtungszeit keine fahrrelevante Ausdehnung der Anfallssymptomatik und kein Übergang zu komplex-fokalen oder sekundär generalisierten Anfällen erkennbar geworden sind. Die Beweislast trägt insoweit der Fahrerlaubnisinhaber.

    1. Eine Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Arzneimittelmissbrauchs nach Nr. 9.4 der Anlage 4 der FeV setzt voraus, dass die Fahrerlaubnisbehörde einen regelmäßig übermäßigen Gebrauch des psychoaktiv wirkenden Arzneimittels beweiskräftig belegen kann. Änderungen des Erkenntnisstands bzw. der Sachlage im Lauf des Widerspruchsverfahrens sind dabei zu beachten.
    2. Wird eine Fahrungeeignetheit festgestellt, so ist grundsätzlich von deren Fortbestand auszugehen, solange nicht vom Betroffenen der materielle Nachweis der Wiedererlangung der Fahreignung erbracht worden ist.
    3. Bei hinreichend belastbaren Anhaltspunkten für eine mögliche Wiedergewinnung der Fahreignung und der Bereitschaft des Betroffenen, sich einer erforderlichen Begutachtung zu unterziehen, kann die Fahrerlaubnisbehörde rechtlich verpflichtet sein, bereits in dem die Fahrerlaubnisentziehung betreffenden Widerspruchsverfahren erforderliche Aufklärungsmaßnahmen einzuleiten.

Auch in einem Fall, in dem die Fahrerlaubnisbehörde annimmt, dass schon bei Erteilung der Fahrerlaubnis die Eignung oder Befähigung des Fahrerlaubnisbewerbers fehlten, beurteilt sich die Frage der Rückgängigmachung der Fahrerlaubniserteilung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG. Allgemeine verwaltungsrechtlichen Grundsätzen sind in einem solchen Fall dagegen nicht anwendbar.

 

 

 

Erstmaliger Verstoß eines Gelegenheitskonsumenten, oder: Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis?

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Die zweite Entscheidung kommt vom VGH Baden-Württemberg. Das hat im VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 14.09.2021 – VGH 13 S 2350/21 – zur Frage der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach nicht erfüllter Aufforderungen, ein ärztliches Gutachten beizubringen, Stellung genommen. Das VG hatte die Anordnung der Fahrerlaubnisbehörde gehalten. Der VGH gibt dem Antragsteller Recht:

„…..

Auch ist hier entgegen der von der Fahrerlaubnisbehörde verwendeten missverständlichen Formulierung durch die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nicht zu klären, ob der Antragsteller „tatsächlich zwischen dem gelegentlichen Konsum von Cannabis und dem Führen eines Kraftfahrzeugs (Verkehrsteilnahme am 02.03.2020) trennen“ konnte. Voraussetzung für die Verneinung der Fahreignung ist nach dem erstmaligen Verstoß eines gelegentlichen Cannabiskonsumenten gegen das Trennungsgebot vielmehr die Prognose, dass er auch künftig nicht zwischen einem seine Fahrsicherheit möglicherweise beeinträchtigenden Cannabiskonsum und dem Führen eines Kraftfahrzeugs trennen wird. Der Antragsgegner hätte sich daher bei der Ermessensausübung mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob der konkrete anlassgebende Vorfall eine psychologische Exploration des Antragstellers zur Klärung der Frage notwendig macht, ob dieser das von der Fahrerlaubnisbehörde angenommene bisherige Konsummuster auf Grund eines stabilen Einstellungswandels aufgegeben hat, oder aber zukünftig gelegentlichen Cannabiskonsum von dem Fahren trennen kann. Im Übrigen dürfte die vom Antragsgegner aufgeworfene Fragestellung aus den vorstehend dargestellten Gründen auch in formeller Hinsicht Bedenken begegnen.

Vorliegend kann auch nicht angenommen werden, gerade die Funktion der medizinisch-psychologischen Begutachtung als Gefahrerforschungsmaßnahme, die in ihrer Eingriffsintensität für den Betroffenen hinter einer abschließenden Entscheidung wie der Entziehung der Fahrerlaubnis zurückbleibe, spreche dafür, die Anforderungen an die Ermessensbetätigung und die Begründung der maßgeblichen Erwägungen nicht zu hoch anzusetzen. Denn es ist für den Betroffenen durchaus mit nicht unbeträchtlichen Belastungen verbunden, wenn er sich einer medizinisch-psychologischen Begutachtung unterzieht. Abgesehen davon stehen die Beibringensaufforderung der Fahrerlaubnisbehörde, die Reaktion des Betroffenen hierauf und eine abschließende Entscheidung der Behörde auf der Grundlage von § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV in engem Zusammenhang. Mit der Entscheidung des Betroffenen, ein von ihm gefordertes Fahreignungsgutachten nicht vorzulegen, ist auch bereits die Entscheidung über eine Entziehung der Fahrerlaubnis vorgezeichnet (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.11.2016 a. a. O. Rn. 37).

Diese vorstehend aufgezeigten Mängel sind auch nicht deshalb unerheblich, weil die Voraussetzungen einer Ermessensreduzierung auf Null vorgelegen hätten. Dahingestellt bleiben kann, ob das gemäß § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV eröffnete Ermessen im Regelfall dahingehend intendiert ist, dass die Fahrerlaubnisbehörde ein medizinisch-psychologisches Gutachten zur Aufklärung der Eignungszweifel anzuordnen hat. So geht etwa der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (Beschluss vom 08.11.2017 – 11 CS 17.1850 – juris Rn. 12) davon aus, dass bei einer Fahrt unter deutlicher Einwirkung von Cannabis vieles dafür spreche, dass der Ermessensspielraum bei der Entscheidung über die Anordnung der medizinisch-psychologischen Untersuchung eingeschränkt sei. Ausgehend hiervon wäre eine vertiefte Auseinandersetzung der Behörde mit den für und gegen eine Begutachtungsanordnung sprechenden Gründen bei gelegentlichen Cannabiskonsumenten, die einmalig gegen das Trennungsgebot verstoßen haben, nur unter besonderen Umständen erforderlich. Auch wenn diesem Verständnis von § 14 Abs. 1 Satz 3 FeV zu folgen sein sollte, war hier auf Grund der Besonderheiten des Einzelfalles eine ausdrückliche Ermessensbetätigung und die Darlegung der entsprechenden Erwägungen durch die Fahrerlaubnisbehörde erforderlich. Diese Notwendigkeit folgt bereits daraus, dass nach den Darlegungen in der Gutachtensanordnung die Zusatztatsache einer Fahrt unter dem Einfluss von Cannabis ausweislich des in der Blutprobe festgestellten THC-Wertes von 0,9 ng/ml nicht mit der gebotenen Sicherheit angenommen werden kann……“

Den Rest im Volltext bitte selbst lesen. Ist auch hier mal wieder recht viel.