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VerfG III: Ermessen und Auslagenentscheidung, oder: Ressourcenverschleuderung auf hohem Niveau

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Im dritten Posting dann etwas aus Sachsen, und zwar der VerfGH Sachsen, Beschl. v. 23.05.2024 – Vf. 22-IV-23 – mal wieder zur Ermessensausübung bei der Auslagenentscheidung nach Einstellung des (Bußgeld)verfahren. Derzeit ist häufig über (ober)gerichtliche Rechtsprechung zu berichten. Hier wurde der (ehemaligen) Betroffenen mit Bescheid des Landratsamtes vom 04.10.2022 vorgeworfen, verkehrsordnungswidrig im eingeschränkten Halteverbot geparkt zu haben. Die Betroffene legte Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein und beantragte die Einstellung des Bußgeldverfahrens. Ferner beantragte sie, ihre notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen. In der Hauptverhandlung stellte das AG Kamenz das Verfahren mit Beschluss vom 03.04.2023 nach § 47 Abs. 2 OWiG ein. Die Kosten des Verfahrens legte es der Staatskasse auf. Das AG hat aber Gericht hat davon abgesehen, auch die notwendigen Auslagen der Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen.

Hiergegen hat die Betroffene Anhörungsrüge erhoben. Mit Beschluss vom 25.04.2023 hat das AG diese als unbegründet zurückgewiesen. Der Beschluss vom 03.04.2023 sei zwar ohne die Gewährung rechtlichen Gehörs ergangen. Dies sei durch die Anhörungsrüge aber nachgeholt worden. Gründe dafür, die Auslagenentscheidung zu ändern, sehe das Gericht nicht.

Die Betroffene hat Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse des AG Kamenz vom 03. und 25.04.2023 eingelegt. Sie rügt eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie einen Verstoß gegen das Willkürverbot. Im Ergebnis der Beweisaufnahme hätten sich die gegen sie erhobenen Vorwürfe nicht bestätigt. Der Vorsitzende habe kein rechtliches Gehör zum beabsichtigten Vorgehen gewährt. Der Beschluss vom 03.04.2023 enthalte keinen Hinweis auf die Rechtsgrundlage für die Auslagenentscheidung und keinerlei Erwägungen zu den maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkten für eine vom Grundsatz des § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 OWiG abweichende Kostentragung nach § 467 Abs. 4 StPO. Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass das Gericht sich insoweit von sachfremden Erwägungen habe leiten lassen. Willkür könne im Falle des Fehlens einer Begründung schon dann vorliegen, wenn eine andere Entscheidung nahegelegen hätte und eine nachvollziehbare Begründung für das Abweichen hiervon fehle.

Die Verfassungsbeschwerde hatte teilweise Erfolg. Der VerfGH sachsen hat, soweit im Beschluss vom 03.04.2024 über die notwendigen Auslagen der Betroffenen entschieden worden ist, den Beschluss aufgehoben und die Sache an das AG Kamenz zurückverwiesen. Im Übrigen hat es die Verfassungsbeschwerde verworfen.

Der VerfGH geht von einem Verstoß gegen das Willkürverbot aus. Er legt dazu – noch einmal – die Maßstäbe dar und führt dann zur Sache aus:

„bb) Nach diesen Maßstäben verletzt die angegriffene Auslagenentscheidung die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 18 Abs. 1 SächsVerf, denn es ist nicht erkennbar, weshalb das Amtsgericht von einer Auslagenerstattung abgesehen hat, obwohl die Erstattung den gesetzlichen Regelfall darstellt.

(1) Gemäß § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG hat die nach Einstellung eines Bußgeldverfahrens zu treffende Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Betroffenen grundsätzlich dahingehend auszufallen, dass diese zu Lasten der Staatskasse gehen. Zwar kann oder muss hiervon in einigen gesetzlich geregelten Fällen abgesehen werden (§ 109a Abs. 2 OWiG, § 467 Abs. 2 bis 4 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG). Der Entscheidung des Amtsgerichts über die notwendigen Auslagen lässt sich jedoch nicht einmal im Ansatz entnehmen, aus welchem Grunde diese der Beschwerdeführerin auferlegt wurden. Weder gibt es Anhaltspunkte für eine Ermessensentscheidung nach § 109a Abs. 2 OWiG noch für eine schuldhafte Säumnis der Beschwerdeführerin (§ 467 Abs. 2 Satz 2 StPO) oder eine unwahre Selbstanzeige (§ 467 Abs. 3 Satz 1 StPO) bzw. wahrheitswidrige Selbstbelastung (§ 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StPO). Da das Amtsgericht das Verfahren nach § 47 Abs. 2 OWiG und nicht wegen eines Verfahrenshindernisses eingestellt hat, konnte die Auslagenentscheidung auch nicht auf § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO gestützt werden.

Nach § 467 Abs. 4 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG kann ein Gericht zwar davon absehen, die notwendigen Auslagen des Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen, wenn es das Verfahren nach einer Vorschrift einstellt, die dies – wie § 47 Abs. 2 OWiG – nach seinem Ermessen zulässt. Dabei darf auf die Stärke des Tatverdachts abgestellt, aber ohne prozessordnungsgemäße Feststellung keine Schuldzuweisung vorgenommen werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1990, BVerfGE 82, 106 [117]). Allerdings hat das Amtsgericht seine Auslagenentscheidung weder im Beschluss vom 3. April 2023 begründet noch die fehlende Begründung in seiner Entscheidung über die Anhörungsrüge vom 25. April 2023 nachgeholt (insoweit anders in den Sachverhalten, die den Beschlüssen vom heutigen Tag – Vf. 14-IV-23, Vf. 15-IV-23 – zugrunde lagen). Ungeachtet des von der Beschwerdeführerin bestrittenen Vorwurfs und der durchgeführten Hauptverhandlung enthält die angegriffene Entscheidung keine Hinweise auf die maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkte für eine vom Grundsatz des § 467 Abs. 1 StPO abweichende Kostentragung gemäß § 467 Abs. 4 StPO. Anders als in Fällen, in denen eine Begründung vorhanden ist und auf ihre Vertretbarkeit geprüft werden kann, kann Willkür im Falle des Fehlens einer Begründung schon dann vorliegen, wenn eine andere Entscheidung – hier gerichtet auf die Erstattung notwendiger Auslagen als dem gesetzlichen Regelfall – nahegelegen hätte und eine nachvollziehbare Begründung für das Abweichen hiervon fehlt (vgl. BerlVerfGH, Beschluss vom 27. April 2022 – 130/20 – juris Rn. 9). Das Fehlen der Begründung einer gerichtlichen Entscheidung führt vorliegend dazu, dass ein Verfassungsverstoß nicht auszuschließen und die Entscheidung deshalb aufzuheben ist, weil erhebliche Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit bestehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Oktober 2015 – 2 BvR 2436/14 – juris Rn. 32; Beschluss vom 12. März 2008 – 2 BvR 378/05 – juris Rn. 33; Beschluss vom 25. Februar 1993 – 2 BvR 251/93 – juris Rn. 4).“

Das ist mal wieder eine der Entscheidungen, bei denen man sich verwundert die Augen reibt und den Kopf schüttelt, wenn man sie gelesen hat, und sich fragt: Wie oft denn noch? Und warum muss für eine solche Frage eigentlich ein Verfassungsgericht bemüht werden, das dann die richtige Entscheidung trifft und das AG „zwingt“, sich noch einmal mit den Fragen zu befassen. Das ist in meinen Augen Ressourcenverschleuderung auf hohem Niveau. Denn:

Warum legt das AG nicht von vornherein nach Einstellung des Verfahrens die Auslagen der Staatskasse auf bzw. warum wird die getroffene andere Entscheidung nicht begründet? Wenn einem als Amtsrichter schon Ermessen eingeräumt wird und man dieses ausübt und vom Regelfall abweicht, dann muss man das begründen. Das ist ja nun auch nichts Neues, sondern sollte ein Amtsrichter wissen; die vom VerfGH zitierte Rechtsprechung zeigt anschaulich wie „alt“ die angesprochenen Fragen sind. Und weiter fragt man sich: Wenn man nun in der Hauptverhandlung die Begründung für die abweichende Entscheidung vergessen hat, was ja passieren kann, aber an sich nicht sollte, dass ist nicht nachzuvollziehen, warum man dann nicht auf die Anhörungsrüge hin den einfachen Weg zur Reparatur der lückenhaften Ausgangsentscheidung geht und die Begründung nachholt? Nein. man geht über diese „goldene Brücke“ nicht, sondern ist vielmehr noch so frech, dass man die Betroffene bescheidet, dass man Gründe dafür, die Auslagenentscheidung zu ändern, nicht sehe. Man kann nur hoffen, dass die Entscheidung „hilft“ und der Amtsrichter sich in zukünftigen Fällen an die mehr als deutlichen Vorgaben des VerfGH hält.

Verteidigern/Rechtsanwälten kann man nur raten, den Weg zum Verfassungsgericht nicht zu scheuen und in vergleichbaren Fällen Verfassungsbeschwerde zu erheben. Man wird ja auch nicht „umsonst“ tätig. Denn die notwendigen Auslagen werden im Zweifel der Staatskasse auferlegt (so auch hier nach § 16 Abs. 3 SächsVerfGHG). Abgerechnet wird nach § 37 RVG. Den dafür erforderlichen Gegenstandswert setzt das Verfassungsgericht nach § 37 Abs. 2 S. 2 i.V.m. § 14 Abs. 1 RVG fest. Hier ist der Gegenstandswert auf immerhin 8.000 EUR festgesetzt worden. Billig wird es für die Staatskasse also nicht.

Pflichti II: AG kickt den Verteidiger „vorschnell“ raus, oder: Und was ist mit dem Vertrauensschutz?

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Und als zweite Entscheidung dann eine Entscheidung des LG Halle. Gestritten worden ist um die Aufhebung einer Pflichtverteidigerbestellung durch das AG Merseburg. Das hatte im dem von der Staatsanwaltschaft gegen den Angeklagten ursprünglich wegen des Verdachts des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Halle eingeleiteten Ermittlungsverfahren am 25.02.2022 den Kollegen Siebers aus Braunschweig, der mir die Entscheidung geschickt hat, gem. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO bei geordnet, weil dem Angeklagten ein Verbrechen zur Last gelegt wurde.

Mit Verfügung vom 27.03.2023 stellte die Halle das Verfahren dann gem. § 170 Abs. 2 StPO ein, soweit ein Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Betracht kam. Gleichzeitig beantragte sie beim AG Merseburg den Erlass eines Strafbefehls bezüglich des Besitzes von 1,07 Gramm Marihuana gem. §§ 1, 3 Abs. 1, 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 33 BtMG.

Das AG Merseburg erließ den Strafbefehl am 05.04.2023. Hiergegen legte der Angeklagte rechtzeitig Einspruch ein. Nach erfolgter Akteneinsicht meldete der Kollege sich beim AG, wobei er u. a. auf eine Verfahrenseinstellung gemäß § 153 StPO hinzuwirken versuchte sowie Kritik an der Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft, wegen der o. g. Tat einen Strafbefehl zu beantragen („steuergeldverschwendendes Verfahren“), übte.

Mit Beschluss vom 15.12.2023 hat das AG – ohne vorherige Anhörung der Verfahrensbeteiligten – die Beiordnung auf gehoben, weil kein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 1 StPO mehr gegeben sei. Gleichzeitig bestimmte das AG Hauütverhandlungstermin auf den 26.03.2024.

Der Kollege hat gegen den die Pflichtverteidigerbestellung aufhebendeb Beschluss sofortige Beschwerde eingelegt, die Erfolg hatte. Das LG Halle mit dem LG Halle, Beschl. v. 15.02.2024 – 3 Qs 11/24 – die AG-Entscheidung aufgehoben:

„Gemäß § 143 Abs. 2 S. 1 StPO kann die Bestellung eines Pflichtverteidigers aufgehoben werden, wenn kein Fall notwendiger Verteidigung mehr vorliegt. Dies ist anzunehmen, wenn sich im Lauf des Verfahrens ergibt, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen, die zur Annahme eines Falles der notwendigen Verteidigung im Sinne von § 140 Abs. 1 Nr. 1 bis 10, Abs. 2 StPO geführt haben, nicht mehr gegeben sind (vgl. Meyer-Goßner/Schmidt, StPO, 66. Auflage, § 143 Rn 3).

Dies ist zwar vorliegend, nachdem die Staatsanwaltschaft der Verfahren hinsichtlich des Vorwurfs des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge eingestellt hat, mittlerweile der Fall. Seit dem 27. März 2023 wird dem Angeklagten kein Verbrechen mehr vorgeworfen, sodass kein Fall des § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO mehr vorliegt.

Allerdings steht die Aufhebung der Bestellung im Ermessen des Gerichts („Kann-Bestimmung“). Dem liegt nach der Vorstellung des Gesetzgebers zugrunde, dass Aspekte des Vertrauensschutzes trotz Wegfalls der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung die Fortdauer der Beiordnung rechtfertigen können (vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 45; KG Berlin, Beschl. vom 15.5.2020 – 5 Ws 65/20, BeckRS 2020, 36749).

Den Gründen des angegriffenen Beschlusses ist indes nicht zu entnehmen, dass sich das Amtsgericht seines Ermessensspielraums bewusst gewesen ist. Dies folgt unter anderem aus der vom Gericht in den Gründen des Beschlusses verwendeten Formulierung, dass die Bestellung aufzuheben „ist“. Die Verwendung des Verbes „ist“ impliziert ohne nähere Begründung, dass die Aufhebung der Beiordnung als Automatismus in dem Fall, dass die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nicht mehr vorliegen, verstanden worden ist. Ein solcher Automatismus besteht hier aber gerade nicht.

Die fehlende Ermessensausübung des Amtsgerichts zwingt im vorliegenden Fall jedoch nicht zu einer Zurückverweisung der Sache, vielmehr kann die Kammer selbst in der Sache entscheiden. Eine Zurückverweisung durch das Beschwerdegericht kommt nur in eng begrenzen Ausnahmefällen in Betracht (vgl. Meyer-Goßner/Schmidt, a.a.O., § 309 Rn 7), welche die Kammer hier nicht annimmt. Grundsätzlich hat das Beschwerdegericht gemäß § 309 Abs. 2 StPO eine eigene Sachentscheidung zu treffen, wobei an die Stelle des Ermessens des Erstgerichts das Ermessen des Beschwerdegerichts tritt (vgl. Münchener Kommentar zur StPO, 1. Auflage, § 309 Rn 28).

Dies führt zur Aufhebung des Beschlusses des Amtsgerichts Merseburg vom 15. Dezember 2023, da der Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 143 Abs. 2 S. 1 StPO ein berechtigtes Vertrauen des Angeklagten entgegen steht.

Seit der Teileinstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft – durch die die Voraussetzung des § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO weggefallen ist – bis zur Entscheidung des Amtsgerichts, die Pflichtverteidigerbestellung aufzuheben, sind knapp acht Monate vergangen, in denen weder das Gericht noch die Staatsanwaltschaft den Wegfall der Voraussetzung der notwendigen Verteidigung jemals problematisiert haben. Vielmehr hat der Verteidiger des Angeklagten in dieser Zeit weiterhin Tätigkeiten für ihn im dem Verfahren entfaltet, insbesondere versucht, auf eine Einstellung gem. § 153 StPO hinzuwirken. Staatsanwaltschaft und Gericht haben auf diese Tätigkeiten jeweils – beispielsweise mit der Veranlassung der Einholung eines Substanzgutachtens – reagiert, ohne zu erkennen zu geben, dass eine Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung in Betracht kommen könnte. Erst im unmittelbaren Zusammenhang mit der Terminierung der Hauptverhandlung für den 26. März 2024 hat das Amtsgericht – ohne die Verfahrensbeteiligten zuvor anzuhören – die Bestellung aufgehoben. Durch das der Aufhebung vorhergehende Verhalten hat das Amtsgericht jedoch ein schutzwürdiges Vertrauen des Angeklagten dahingehend geschaffen, dass die einmal getroffene Entscheidung der Beiordnung auch unter den nach der Teileinstellung geänderten Umständen aufrechterhalten bleiben soll. Aufgrund dessen war der Aufhebungsbeschluss des Amtsgerichts aufzuheben, sodass die Pflichtverteidigerbeiordnung fortdauert.“

Na ja: Erst das Verfahren einstellen und dann nach acht (!) Monaten sagen, dass die Beiordnungsgründen weggefallen sind und dann ohne Anhörung entpflichten, geht natürlich nicht. M.E. spricht viel dafür, dass das AG den möglicherweise „unbequemen“ Verteidiger „los werden wollte, da der ja schon mit „steuergeldverschwendendes Verfahren“ gegen den Strafbefehl gewettert hatte. Das versprach „Stimmung“ in der Hauptverhandlung, auf die das AG dann wohl keinen Bock hatte. Und schwupps, war der Verteidiger entpflichtet. Aber ebenso schwupps hat das LG Halle die Entscheidung aufgehoben, was m.E. richtig ist/war. Das AG draf sich dann jetzt auf die Hauptverhandlung freuen.

OWi I: Das AG weiß es zweimal besser als das OLG (?), oder: Arbeitsbeschaffungsmaßnahme beim AG Bochum

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Heute dann mal ein wenig OWi, aber mal etwas außergewöhnliche/besondere Entscheidungen bzw. Verfahren.

Ich beginne mit einer etwas – gelinde ausgedrückt – ungewöhnlichen Geschichte vom AG Bochum, also aus dem OLG-Bezirk Hamm, die mir der Kollege Steffen aus Hattingen mitgeteilt hat. Im Einzelnen:

Anhängig war beim AG Bochum eine Verfahren wegen eines Rotlichtverstoßes. Vorgeworfen wurde der Betroffenen ein einfacher Rotlichtverstoß. Der Verteidiger stellt einen Entbindungsantrag (§ 73 Abs. 2 OWiG) unter Hinweis darauf, dass die Betroffene ihre Fahrereigenschaft einräumt. Mitgeteilt wird außerdem, dass keine weiteren Angaben zur Sache gemacht werden, Angaben zur Person werden aber gemacht.

Der zuständigen Richter hat nicht entbunden. Dagegen wendet sich die Betroffene mit einem Befangenheitsantrag. Der wird mit dem AG Bochum, Beschl. v. 28.10.2022 – 32a OWi-842 Js 147/22 (153/22) und der Begründung abgelehnt, dass die Nichtentbindung weder rechtlich noch tatsächlich zu beanstanden sei. Die Glaubhaftigkeit der Angabe der Betroffenen, Fahrzeugführerin gewesen zu sein, sowie die Gewinnung eines persönlichen Eindrucks zur Bemessung einer angemessenen Geldbuße bei Vorliegen einer Regelgeldbuße im Bußgeldbescheid im Falle einer Verurteilung sei nur durch Anwesenheit der Betroffenen in der Hauptverhandlung zu erreichen und zu prüfen.

In der Hauptverhandlung erscheint die Betroffene nicht. Ihr Einspruch wird verworfen.

Dagegen dann das Rechtsbeschwerdezulassungsantrag, der mit dem  mit Rechtsbeschwerde war dann vor dem OLG Hamm erfolgreich. Das führt im OLG Hamm, Beschl. 08.03.2023 – III – 2 ORbs 22/23 – aus, was zu erwarten war:

„Bleibt der Betroffene trotz ordnungsgemäßer Ladung der Hauptverhandlung fern und wird daraufhin der Einspruch durch Urteil gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, so kann die Einspruchsverwerfung das Recht des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzen, wenn einem rechtzeitig gestellten Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu Unrecht nicht entsprochen worden ist (zu vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 15.05.2008 — 3 Ss OWi 669/07 —, zitiert nach juris). Das Amtsgericht hätte dem Entbindungsantrag vorliegend stattgeben müssen. Dieser ist wirksam gestellt worden. Nach § 73 Abs. 2 OWiG entbindet das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern werde und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist. Die Entbindung ist nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt, sondern dieses ist verpflichtet, dem Entbindungsantrag zu entsprechen, wenn feststeht, dass von der Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung ein Beitrag zur Sachaufklärung nicht erwartet werden kann (zu vgl. Senge in Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Aufl., § 73 Rn. 24). Eine solche weitere Sachaufklärung war durch die Anwesenheit der Betroffenen nicht mehr zu erwarten. Diese hatte die Fahrereigenschaft eingeräumt. Anhaltspunkte dafür, dass diese sich zu Unrecht selbst bezichtigte, zur Tatzeit gefahren zu sein, bestanden nicht. Zu ihrem Einkommen hatte die Betroffene Angaben gemacht. Soweit die Ablehnung des Entbindungsantrags darüber hinaus noch damit begründet worden ist, dass das Gericht einen persönlichen Eindruck im Hinblick auf die Bußgeldbemessung gewinnen wollte, kann dies allein nicht genügen. Anderenfalls würde der Anspruch auf die Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen gemäß § 73 Abs. 2 OWiG entwertet, da eine Ablehnung der Entbindung immer auf diesem Weg begründet werden könnte.“

Man sollte ja meinen, dass es nach diesen wohl gesetzten Worten des OLG gut war, aber: Erstaunlicherweise wiederholte sich das „Spiel“: Neuer Haupverhandlungstermin, Entbindungsantrag, Ablehnung, Verhandlungstermin mit Verwerfung des Einspruchs.

Das Verwerfungsurteil geht dann wieder zum OLG Hamm, das, was nicht verwundert, im OLG Hamm, Beschl. v. 31.08.2023 – 2 ORbs 79/23, das (zweifelhafte) Vergnügen hat, zum zweiten Mal aufzuheben. Die Begründung gleicht der aus dem ersten Beschluss. Zusätzlich führt das OLG aus:

„Soweit die Ablehnung des Entbindungsantrags darüber hinaus noch damit begründet worden ist, dass das Gericht einen persönlichen Eindruck im Hinblick auf die Bußgeldbemessung gewinnen wollte, kann dies allein nicht genügen. Anderenfalls würde der Anspruch auf die Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen gemäß § 73 Abs. 2 OWiG entwertet, da eine Ablehnung der Entbindung immer auf diesem Weg begründet werden könnte.“

Und nun? Nun, das OLG hat – was zu erwarten war – beim zweiten Mal an eine andere Abteilung des AG Bochum verwiesen. Inzwischen hat man von dort, weil zwischenzeitlich absolute Verjährung eingetreten ist, angeboten, das Verfahren nach § 47 OWiG einzustellen, allerdings ohne Erstattung der notwendigen Auslagen. Die Betroffene hat sich damit einverstanden erklärt.

Wenn man das sieht/liest, schlägt man die Hände über dem Kopf zusammen und fragt sich, ob man da eigentlich nichts anderes zu tun hat, als das OLG zweimal mit einer aussichtslosen Sache zu beschäftigen. Die vom OLG zu erwartende Entscheidung lag jeweils auf der Hand. Beim ersten Mal kann man es ja vielleicht noch nachvollziehen, obwohl schon ungewöhnlich ist, dass ein Richter am AG diese eingefahrene Rechtsprechung der OLG zum Entbindungsantrag nicht kennen soll. Aber dann beim zweiten Mal? Da wird es dann schon ungewöhnlich. Natürlich haben die OLG-Entscheidungen keine Bindungswirkung, aber es ist schon „keck“ zweimal das OLG mit einer Sache zu befassen und sich dabei beim zweiten Mal über eine gegenteilige Entscheidung des OLG hinweg zu setzen. So nach dem Motto: Was schert mich, was das OLG dazu sagt. Offenbar hat man nichts anderes zu tun. Mir soll noch mal einer mit der Überlastung der Justiz kommen. Die scheint dann doch in manchen Fällen „hausgemacht“ zu sein.

Unfassbar das Ganze.

StPO I: Voraussetzung für den Erlass eines Strafbefehls, oder: Hinreichender Tatverdacht gegeben?

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Und heute dann mal wieder drei StPO-Entscheidungen. Alle drei stammen von Landgerichten.

Die erste Entscheidung, den LG Karlsruhe, Beschl. v. 04.01.2023 – 16 Qs 98/22 – hatte ich bereits wegen einer der vom LG behandelten materiellen Fragen vorgestellt (vgl. hier StGB III: Sind die Audioaufnahmen „unbefugt“ erstellt?, oder: Restriktive Auslegung bei Beweisnot ). Ich komme heute dann auf den Beschluss zurück, und zwar wegen der Problematik in Zusammenhang mit der Problematik der Ablehnung des Strafbefehlserlasses durch das AG.

Dazu führt das LG aus:

„Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Amtsgerichts Maulbronn ist gem. §§ 311 Abs. 1, 408 Abs. 2 Satz 2, 210 Abs. 2 StPO statthaft und gem. §§ 311 Abs. 2, 35 Abs. 2 Satz 1 StPO form- und fristgerecht erhoben.

II.

Die sofortige Beschwerde ist indes unbegründet. Das Amtsgericht Maulbronn hat den Erlass des Strafbefehls nach § 408 Abs. 2 Satz 1 StPO zu Recht abgelehnt. Es fehlt vorliegend an dem für den Erlass eines Strafbefehls erforderlichen hinreichenden Tatverdacht gegen den Angeschuldigten wegen der Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes gem. § 201 Abs. 1 Nr. 2 StGB.

Ein hinreichender Tatverdacht ist nur zu bejahen, wenn nach praktischer Erfahrung bei vorläufiger Tatbewertung auf Grundlage des Ermittlungsergebnisses die Verurteilung in einer Hauptverhandlung mit vollgültigen Beweismitteln wahrscheinlich ist (vgl. BGH, Beschl. v. 22.04.2003 – StB 3/03, juris, dort Rn. 9; BGH, Urt. v. 18.06.1970 – III ZR 95/68, juris, dort Rn. 15). Ein hinreichender Tatverdacht besteht dagegen nicht, wenn (i) nach Aktenlage offensichtlich ist, dass tatsächliche Zweifel am Schuldnachweis nicht zu überwinden sind oder (ii) ein nicht behebbares Verfahrenshindernis besteht oder (iii) der aufgrund der Ermittlungen wahrscheinliche Tatvorgang aus Rechtsgründen nicht strafbar ist (vgl. Maur in KK-StPO, 9. Aufl. 2023, § 408 Rn. 17; Szesny in: Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis, 2017, Wirtschaftsstrafrecht, § 408 StPO Rn. 4).

1. Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe – Zweigstelle Pforzheim – weist zunächst zu Recht darauf hin, dass unüberwindbare tatsächliche Zweifel am Schuldnachweis nicht offensichtlich sind. Verbleibende tatsächliche Zweifel am Tatnachweis berechtigen den Tatrichter lediglich dazu, analog § 202 Satz 1 StPO Nachermittlungen anzuordnen oder die Hauptverhandlung gem. § 408 Abs. 3 Satz 2 StPO anzuberaumen (vgl. BeckOK StPO/Temming, 45. Ed. 01.10.2022, StPO § 408 Rn. 5; Szesny in: Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis, Wirtschaftsstrafrecht, 2017, § 408 StPO Rn. 4; a.A. AG Meiningen Beschl. v. 02.04.2009 – 340 Js 3972/08 – 8Cs, BeckRS 2010, 22265; KK-StPO/Maur, StPO, 9. Aufl. 2023, § 408 Rn. 9). Der Tatrichter darf den Strafbefehl in diesen Fällen aber nicht gem. § 408 Abs. 2 Satz 1 StPO ablehnen (vgl. MüKoStPO/Eckstein, 1. Aufl. 2019, StPO § 408 Rn. 8). Weder kommt dem Tatrichter insoweit ein Ermessen zu noch greift der Grundsatz „in dubio pro reo“ bei der anzustellenden Wahrscheinlichkeitsprognose über den hinreichenden Tatverdacht (vgl. BGH, Urt. v. 18.06.1970 – III ZR 95/68, juris, dort Rn. 15 f.; Schmitt/Meyer-Goßner, StPO, 65. Aufl. 2022, § 408 Rn. 7 unter Verweis auf § 203 Rn. 2).“

Aber: Der Strafbefehl war aber auch aus anderen Gründen nicht zu erlassen.

Pflichti II: Entpflichtung des Pflichtverteidigers, oder: häufige Verhinderung, gestörtes Vertrauen, Ermessen

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Im zweiten Posting stelle ich drei Entscheidungen zur Entpflichtung vor, und zwar einmal BGH, einmal OLG Köln und einmal LG Hamburg. Ich stelle hier aber nur die Leitsätze der Entscheidungen ein. Die genauen Einzelhieten dann bitte ggf. in den verlinkten Volltexten nachlesen. Hier kommen dann.

Es ist aus einem „sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet, wenn der Pflichtverteidiger an acht von 16 Hauptverhandlungstagen verhindert ist. Bei der Prüfung der insoweit maßgeblichen Grundsätze ist das Interesse des Angeklagten an der Beibehaltung des bisherigen, terminlich verhinderten Pflichtverteidigers gegenüber der insbesondere in Haftsachen gebotenen Verfahrensbeschleunigung abzuwägen.

    1. Das Strafverfahren im Sinne von § 143 Abs. 1 StPO umfasst auch dem Urteil nachfolgende Entscheidungen, die den Inhalt des rechtskräftigen Urteils zu ändern oder zu ergänzen vermögen. Hierzu gehören auch Entscheidungen nach § 57 JGG.
    2. Liegen die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Bestellung eines Pflichtverteidigers vor, ist diese grundsätzlich gemäß § 143 a Abs: 1 Satz 1 StPO vorzunehmen. Ein Ermessen des Vorsitzenden des Gerichts, die Bestellung eines Verteidigers gleichwohl fortdauern zu lassen, besteht schon nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht.
    1. Der Beschuldigte muss die für eine etwaige Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses sprechenden Umstände, die zu einer Entpflichtung des Pflichtverteidigers führen soll,  hinreichend konkret vorbringen. Pauschale, nicht näher belegte Vorwürfe rechtfertigen, eine Entpflichtung nicht.
    2. Hinsichtlich des Entpflichtungsantrag eines Verteidigers gilt, dass die Frage, ob das Vertrauensverhältnis endgültig gestört ist, vom Standpunkt eines vernünftigen und verständigen Beschuldigten aus zu beurteilen ist. Der Beschuldigte soll die Entpflichtung nicht durch eigenes Verhalten erzwingen können. Ein im Verhältnis des Beschuldigten zum Verteidiger wurzelnder wichtiger Grund ist deshalb regelmäßig nicht anzuerkennen, wenn dieser Grund allein vom Beschuldigten verschuldet ist.