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StPO I: Divergierende Urkundenübersetzungen, oder: Gibt es einen Erfahrungssatz „Weglaufen“?

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Und heute am Dienstag dann StPO-Entscheidungen. Alle Entscheidungen, die ich vorstellen werde, stammen vom BGH.

Ich beginne – zum Warmwerden – mit zwei „kleineren“ Entscheidungen des BGH, und zwar:

„Zwar kann es grundsätzlich einen Erörterungsmangel darstellen, wenn unterschiedliche Übersetzungen derselben Kommunikation als Urkunden in die Beweisaufnahme eingeführt werden und sich das Tatgericht mit erheblichen Abweichungen der verschiedenen Übersetzungen nicht befasst. Insoweit geht es der Sache nach nicht um allgemeine Zweifel an der Richtigkeit einer Übersetzung (s. dazu BGH, Beschluss vom 27. November 2018 – 3 StR 339/18, NStZ-RR 2019, 57), sondern um die fehlende Auseinandersetzung mit erhobenen Beweisen. Allerdings kann die Verfahrensrüge nach § 261 StPO („Inbegriffsrüge“), mit der die Lückenhaftigkeit der Beweiswürdigung wegen der nicht erschöpfenden Würdigung des Beweismaterials gerügt wird, der Revision nur dann zum Erfolg verhelfen, wenn sich mit Rücksicht auf die sonstigen Feststellungen eine Erörterung aufdrängen musste (st. Rspr.; etwa BGH, Urteil vom 25. August 2022 – 3 StR 359/21, StV 2023, 293 Rn. 50 mwN). Eine solche Konstellation ist hier nicht gegeben. Insbesondere wird aus beiden Übersetzungen des – für die Beweiswürdigung nicht allein maßgeblichen – Gesprächs ohne weiteres deutlich, dass sich die Männerstimme im Hintergrund ebenso wie die Gesprächspartnerin im Zusammenhang mit den Taliban ersichtlich ablehnend äußert.“

Das Landgericht hat zur Widerlegung der vom Angeklagten behaupteten Notwehrlage in der Beweiswürdigung unter anderem ausgeführt, es entspreche „allgemeiner Lebenserfahrung“, dass ein zuvor Angegriffener froh sei, wenn sein Widersacher weglaufe und ihm so kein weiterer Übergriff drohe. Aus dem von Zeugen beobachteten Verfolgen des Opfers durch den Angeklagten hat es anschließend gefolgert, dass dies gegen den vom Angeklagten behaupteten vorherigen Angriff des Verletzten spreche.

Zwar bestehen Bedenken gegen einen etwaigen Erfahrungssatz dieser Art. Der Senat schließt angesichts der übrigen rechtsfehlerfreien Erwägungen des Landgerichts aber aus, dass die Ablehnung der Notwehrlage auf der bezeichneten Wendung beruht (§ 337 Abs. 1 StPO).“

Verkehrsrecht III: Geschwindigkeitsüberschreitung, oder: Dichtes Auffahren des Hintermannes

Und als dritte Entscheidung dann der KG, Beschl. v. 02.08.2023 – 3 ORbs 158/23 – 122 Ss 71/23. Am Aktenzeichen erkennt man, dass die Entscheidung ein OWi-Verfahren betrifft.

Es geht um eine Geschwindigkeitsüberschreitung. Die Polizei Berlin hat mit Bußgeldbescheid v gegen den Betroffenen wegen einer innerörtlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung um 38 km/h (erlaubt: 50 km/h) eine Geldbuße von 260 Euro verhängt und ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet. Dagegen der Einspruch. Das AG hat dann in seinem Urteil nur eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 25 km/ für erwiesen angesehen. In der Beweiswürdigung heißt es insoweit:

„Auf dem Tatvideo ist zu erkennen, dass der Betroffene zunächst gleichbleibend mit einer Geschwindigkeit von etwa 75 Stundenkilometern auf der äußerst rechten Fahrspur fährt, als ein in der mittleren Fahrspur fahrendes Klein-fahrzeug in dem Moment in die rechte Fahrspur wechseln wollte, als sich der Betroffene mit seinem Fahrzeug auf Höhe dieses Fahrzeugs befand, musste das Kleinfahrzeug ruckartig in die mittlere Fahrspur zurücklenken und der Betroffene sein Fahrzeug kurz abbremsen. Dabei ist zu erkennen, dass das messende Polizeifahrzeug so dicht auf den vom Betroffenen geführten PKW auffährt, dass zwar noch das Kennzeichen zu erkennen ist, nicht jedoch der untere hintere Karosserieabschluss des Fahrzeugs des Betroffenen. Nach einem Abbremsen beschleunigte der Betroffene dann das Fahrzeug und fährt über die mittlere in die äußerst linke Fahrspur ein, wobei er das Fahrzeug stark beschleunigt. Ebenfalls ist auf dem Tatvideo zu erkennen, dass die Beschleunigung vom Messwert 1.540 bis 1.600 Meter andauert und der Betroffene sodann die von ihm gefahrene Geschwindigkeit verringert, ohne das Fahrzeug abzubremsen. Während des Spurwechsels von der äußerst rechten in die äußerst linke Fahrspur und eine kurze Fahrtstrecke auf der äußerst linken Fahrspur verringert sich der Abstand des hinterherfahrenden Fahrzeugs nicht. Erst als der Betroffene das Fahrzeug ohne Abbremsung des Fahrzeugs die Geschwindigkeit verringert und schließlich in die äußerste rechte Fahrbahn wechselt, wird der Abstand zum Polizeifahrzeug deutlich größer.“

Dagegen die Rechtsbeschwerder der Amtsanwaltschaft, die beim KG Erfolg hatte:

„1. Die Feststellungen des angefochtenen Urteils enthalten keinerlei Ausführungen zur inneren Tatseite. Ob sich dies im hier gegebenen Fall einer innerorts fahrlässig begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung bereits als durchgreifender und zur Aufhebung des Urteils führender Rechtsfehler erweist, kann offenbleiben. Denn auch die Beweiswürdigung ist unzureichend.

2. So stehen die Feststellungen im Widerspruch zu den erhobenen Beweisen. Während es bei den Feststellungen heißt, der Betroffene habe die zulässige Geschwindigkeit „um 25 Stundenkilometer“ überschritten, heißt es bei der Beweiswürdigung, der Betroffene habe, ausgehend von einer Geschwindigkeit von 75 km/h, noch „weiter beschleunigt“ (UA S. 3). Bei den Feststellungen, jedenfalls aber bei der Beweis-würdigung, müsste sich somit der über 75 km/h liegende Wert finden, den das Amtsgericht für objektiv erwiesen erachtet. Dies gilt auch für den Fall, dass das Amtsgericht diesen Wert für „nicht vorwerfbar“ (UA S. 4) hält. Denn nur, wenn die vom Betroffenen tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit mitgeteilt wird, kann das Rechtsbeschwerdegericht die Würdigung des Tatrichters überprüfen, ob der Wert auch „vorwerfbar“ ist.

3. Auch bleibt gänzlich unklar, auf welcher Grundlage das Amtsgericht zum Ergebnis gekommen ist, dass der Betroffene die zulässige Geschwindigkeit um – nur – 25 km/h überschritten hat. Aus der Beweiswürdigung ergibt sich, dass der Betroffene von einem Polizeifahrzeug verfolgt worden ist; offenbar ist die Geschwindigkeit also durch Nachfahren bestimmt worden.

a) Das Amtsgericht teilt nicht mit und nimmt für seine schriftlichen Urteilsgründe da-mit nicht in Anspruch, dass die Geschwindigkeit durch ein zugelassenes und geeichtes Messgerät bestimmt worden ist. Dem Urteil ist weder die Bezeichnung eines bestimmten Messverfahrens zu entnehmen noch die Veranschlagung eines bei diesem Messverfahren angezeigten Toleranzabzugs. Die Beweiswürdigung kann damit auch die Vereinfachungen, die für standardisierte Messverfahren gelten (vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2023 – 2 BvR 1167/20 – [juris]), nicht beanspruchen. Die Beweise müssen somit in einer Weise dargelegt und gewürdigt werden, die es dem Rechtsbeschwerdegericht erlaubt, die Überzeugungsbildung des Tatgerichts nachvollziehen (vgl. Senat DAR 2015, 99). Dies ist hier nicht geschehen.

b) Die Beweiswürdigung enthält schon keine Angaben zur Messstrecke. Zwar ist der rechtlichen Würdigung zu entnehmen, dass es eine „Gesamtmessstrecke von ca. 1.600 Metern“ (UA S. 4) gegeben habe. Allerdings enthält das Urteil keine konsistenten Angaben zu dem vom verfolgenden Polizeifahrzeug während des gesamten Messvorgangs eingehaltenen Abstand (vgl. zum sog. Verfolgungsabstand grundlegend Senat DAR 2015, 99). Die Beweiswürdigung enthält lediglich eine kurze Sequenz dazu, dass das Polizeifahrzeug einmal dicht aufgefahren sei und dass sich der Abstand später „nicht verringert“ habe (UA S. 3). Zur Höhe des festgestellten Bruttowerts, also dem auf dem Tachometer des Polizeifahrzeugs abgelesenen Wert, verhält sich das Urteil ebenso wenig wie zum abgezogenen Toleranzwert. Auch ver-schweigt das Urteil, ob der Tacho des verfolgenden Fahrzeugs geeicht war, was in aller Regel von Bedeutung für den zu veranschlagenden Toleranzabzug ist. Die An-forderungen an einen durch Nachfahren gewonnen Nachweis der Geschwindigkeit verfehlt das Urteil damit auf ganzer Linie.

4. Fehl geht auch die im Rahmen der rechtlichen Würdigung dargestellte Überlegung, eine – möglicherweise tatsächlich festgestellte, aber im Urteil nicht belegte – Geschwindigkeitsüberschreitung von 38 km/h sei dem Betroffenen „nicht vorzuwerfen“, weil „diese lediglich über eine Geschwindigkeit [gemeint offenbar: Strecke] von nicht einmal 200 Metern bei einer Gesamtmessstrecke von ca. 1600 Metern andauerte“ und der Betroffene sich bedrängt gefühlt habe (UA S. 5). Möchte das Amtsgericht hier andeuten, der Betroffene sei mit der erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung um 38 km/h wegen dichten Auffahrens des nachfolgenden Polizeifahr-zeugs gerechtfertigt oder entschuldigt, so hat es nicht nur das äußere Geschehen aufzuklären und darzustellen, sondern auch die subjektive Seite mitzuteilen und zu erörtern. Denn einen Rechtssatz, eine Annäherung des nachfolgenden Fahrzeugs erlaube eine – zumal drastische – Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, gibt es nicht. Hält das Amtsgericht eine Geschwindigkeitsüberschreitung gleich-wohl für „nicht vorwerfbar“, so hat es die konkreten Umstände in tatsächlicher Hin-sicht darzustellen und in rechtlicher Hinsicht einzuordnen. Dies gilt umso mehr, als hier wohl die Überschreitung um 25 km/h für „vorwerfbar“ gehalten wird, nicht aber die überschießenden 13 km/h. Im Übrigen lassen weder die Feststellungen noch die Beweiswürdigung einen örtlichen, zeitlichen oder gar inneren Zusammenhang zwischen einem „dichten“ Auffahren des Polizeifahrzeugs und der erheblichen Geschwindigkeit des Betroffenen erkennen.“

Und dann – unschön für den Betroffenen – noch:

„5. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben, und die Sache ist zu neuer Ver-handlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Informatorisch teilt der Senat mit, dass die Messung hier offenbar mit einem als standardisiert anerkannten Messverfahren (ProVida mit Auswertung durch ViDistA, vgl. Senat VRR 2022, Nr. 3 [Volltext bei juris]) vorgenommen wurde und die festgestellte Durchschnittsgeschwindigkeit über 271 Meter 88 km/h betrug. Bereits bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 40% kommt, sofern nicht besondere Umstände eine ab-weichende Wertung veranlassen, regelmäßig nur Vorsatz in Betracht (ständige Rspr. des Senats, vgl. zuletzt VRR 2019, Nr. 8 [Volltext bei juris] m. Anm. Krenberger, jurisPR-VerkR 2/2020 Anm. 5).“

Zeuge III: Besonders kritische Würdigung der Aussage, oder: Intensive Traumatherapie nach Reddemann

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Und dann habe ich hier noch das LG Hamburg, Urt. v. 23.01.2023 – 606 KLs 9/19 -, das mir der Kollege Laudon aus Hamburg geschickt hat (Näheres zum Kollegen hier). Es handelt sich um einen Freispruch vom Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern. Den hat man einem Vater gemacht, dem man sexuelle Handlungen an und mit seinem Sohn vorgeworfen hat, begangen im Jahr 2010. Der Sohn hatte sich dazu erst im Mai 2018 geäußert. Das LG hat den Angeklagten frei gesprochen, weil es die Aussage des Sohnes einer Verurteilung nicht zugrunde legen konnte/wollte. Begründung: Beim Sohn war eine Traumatherapie nach Reddemann durchgeführt worden, zwar eins der führenden Verfahren in der Traumatherapie, aber ggf. mit suggestiver Wirkung.

Das LG führt in der Beweiswürdigung aus:

„Er hat sich zu den Tatvorwürfen nicht eingelassen. In Ermangelung sonstiger Beweismittel beruhten die Anklagevorwürfe daher allein auf den Angaben des Zeugen pp., die dieser namentlich im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung am 4. Mai 2018 gemacht hatte. In der Hauptverhandlung konnte ein Tatnachweis allein auf Grundlage der Angaben des Zeugen pp. indes nicht mit der erforderlichen Sicherheit geführt werden.

1. Der Zeuge pp. hat die anklagegegenständlichen Tatvorwürfe in ihren Einzelheiten erstmalig im Rahmen der vorgenannten polizeilichen Vernehmung im Mai 2018 – etwa acht Jahre nach dem in Rede stehenden Tatzeitraum – geschildert. Zuvor hatte er sich lediglich gegenüber seiner Mutter insoweit einmal anvertraut, als er ihr im Jahr 2010, kurze Zeit nach der letzten anklagegegenständlichen Tat, als er ein weiteres Wochenende bei dem Angeklagten verbringen sollte, berichtete, dass er dies nicht wolle, da der Angeklagte ihn „angefasst“ habe. Diesen Vorwurf hat der Zeuge pp. indes weder in diesem Gespräch mit seiner Mutter noch in der Folgezeit zunächst weiter ausgeführt oder konkretisiert. Ab Januar 2017 begab er sich sodann in psychologische Behandlung bei der Psychologin Dr. pp., wofür nach den Angaben des Zeugen pp. (auch) eine depressive .Symptomatik anlassgebend war, unter der er indes schon vor dem anklagegegenständlichen Tatzeitraum gelitten hatte. Im Rahmen der Behandlung fand insbesondere eine intensive tiefenpsychologische Traumatherapie (nach Reddemann) statt. Erst nach über 100 Therapiestunden bei der Psychologin Dr. pp. erstattete der Zeuge pp. am 20. April 2018 schließlich Strafanzeige gegen den Angeklagten und machte im Rahmen der polizeilichen Vernehmung im Mai 2018 umfassende Angaben zu den einzelnen (vermeintlichen) Taten.

2. Vor dem Hintergrund der gegebenen Aussageentstehung und der vorliegenden Aussage-gegen-Aussage-Konstellation waren die Angaben des Zeugen besonders kritisch zu würdigen. Die Kammer hat daher ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt, das der Sachverständige pp. in der Hauptverhandlung erstattet hat. Der forensisch erfahrene Sachverständige, dessen Gutachten auf zutreffenden Anknüpfungstatsachen – unter anderem auf den weiteren Angaben des Zeugen pp. im Rahmen der Exploration – fußt und an dessen Fachkunde die Kammer keinerlei Zweifel hat, ist schlüssig und nachvollziehbar zu dem Ergebnis gelangt, dass es nicht auszuschließen ist, dass die Angaben des Zeugen pp. auch anders erklärbar sind als durch einen tatsächlichen Erlebnisbezug.

Zwar bestünden keine Anhaltspunkte für eine intentionale Falschbezichtigung des Angeklagten durch den Zeugen pp. Es sei jedoch insbesondere möglich, dass es sich vorliegend um eine subjektiv für wahr gehaltene, auf einer vermeintlichen Erinnerung basierende Darstellung handelt, deren Inhalt jedoch keine reale Entsprechung hat (sog. „Suggestionshypothese“ als konkrete Ableitung der Nullhypothese). In den Angaben des Zeugen pp. sei insbesondere auffällig, dass dieser häufig zu Erklärungen auf der Metaebene neige. Sein Berichtsstil sei insgesamt wenig beschreibend, sondern – gerade auch bei den tatrelevanten Umständen – fast durchgängig interpretierend. Der Zeuge selbst habe sich zudem immer wieder darauf zurückgezogen, dass er sich „an ziemlich nichts mehr“ erinnere, da er fast alles aus seiner Kindheit „weggeschmissen“ habe oder sich auch nicht erinnern wolle. Andererseits habe er bekundet, er würde sich gerne genauer erinnern können, jedoch sei er, so der Sachverständige, jeweils selbst unsicher über die Quelle seiner teilweise vorhandenen Erinnerungen. Der Sachverständige hat überdies nachvollziehbar dargelegt, dass durch entsprechende Techniken – insbesondere im Rahmen einer Traumatherapie der hier angewandten Art (nach Reddemann) – solche Vorstellungen und insbesondere lebhafte mentale Vorstellungsbilder getriggert werden könnten. Die Vorgehensweise dieser Traumatherapie bestehe darin, Fähigkeiten zur Selbstberuhigung und -tröstung zu erwerben, indem vorhandene traumatische Erinnerungen kognitiv durchgearbeitet würden. Der Zeuge pp. berichtete selbst, eigentlich zu wenig zu erinnern, um einen „sicheren Fall“ zu begründen, da er zu viel verdrängt habe. Ziel der Traumatherapie sei es gewesen, die im damaligen Zeitpunkt noch vorhandenen Erinnerungen, die der Zeuge als „Blitze“ beschreibt, durch ein „Nachgraben“ zu erweitern und – so der Sachverständige – „wie ein Puzzle“ in einen Zusammenhang zu bringen. Hierdurch solle dem Patienten Verständlichkeit und Sinngebung vermittelt werden, was therapeutisch durchaus erstrebenswert sei, jedoch eine erhebliche suggestive Wirkung für den Patienten entfalte. Vor dem Hintergrund dieses Therapieansatzes sei es mit großer Wahrscheinlichkeit zu nachträglichen Verzerrungen seiner Vorstellungen aber auch zu gänzlichen Neubewertungen vorliegender Erinnerungen gekommen. Dies habe sich auch im Rahmen der Exploration gezeigt, indem der Zeuge je versucht habe, Erinnerungslücken in der Sache mithilfe der Erinnerungen an die therapeutischen Prozesse zu füllen, anstatt sie bestehen zu lassen.

Vor dem Hintergrund der Aussageentwicklung und namentlich der erheblichen Erweiterung der ursprünglichen Angaben des Zeugen – er sei „angefasst“ worden – (erst) im Nachgang zu der stattgefundenen Traumatherapie, könne nach alledem nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei den nunmehr geschilderten Begebenheiten um Pseudoerinnerungen handelt, die durch die suggestiven Einflüsse der Traumatherapie induziert worden sind. Die aufgestellte Suggestionshypothese könne mithin nicht zurückgewiesen werden. Schon methodisch sei dies – aufgrund der von dem Patienten nicht zu unterscheidenden Pseudoerinnerungen und Erinnerungen an tatsächliche Begebenheiten – insbesondere durch eine merkmalsorientierte Inhaltsanalyse der Angaben des Zeugen pp. nicht möglich, wobei der Sachverständige ungeachtet dessen weiter überzeugend ausgeführt hat, dass und inwiefern die Aussagequalität ohnehin nicht besonders hoch sei: Die Gesamtaussage falle zwar einigermaßen umfangreich aus, sei jedoch nicht immer logisch konsistent und anschaulich, oft aber schemakonsistent und wenig detailliert. Auffällig sei zudem, dass der Zeuge pp. häufig nur aus der Perspektive der „Draufsicht“, mit zahlreichen interpretatorischen Erklärungen berichtet habe.

Die Kammer schließt sich den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen pp. nach eigener Würdigung an und erachtet die Angaben des Zeugen als nicht hinreichend belastbar, um auf diese eine Verurteilung des Angeklagten zu stützen. Der Angeklagte war mithin er im Ergebnis freizusprechen.“

Ich stelle das Urteil hier ein, um Kollegen ggf. zu sensibilieren, wenn sie in einer Akte Hinweise auf diese Traumatherapie finden. Das muss sich allerdings nicht unbedingt aus der Akte ergeben. Daher kann es sich empfehlen, ggf. einen Antrag auf Beiziehung der Behandlungsunterlagen zu stellen.

StPO I: DNA-Mischspur mit Hauptkomponenten, oder: Anforderungen an die Urteilsgründe

Und dann gleich noch ein StPO-Tag.

Heute dann als Opener der BGH, Beschl. v. 08.11.2022 – 2 StR 193/22, der sich zum Umfang der Urteilsgründe äußert, u.a. wenn der Verurteilung ein DNA-Gutachten zugrunde liegt.

Das LG hat den Angeklagten wegen „unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Kokain und Haschisch) in nicht geringer Menge“ verurteilt. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten hatte mit der Sachrüge Erfolg:

„1. Nach den Feststellungen verschaffte sich ein Spezialeinsatzkommando der Polizei in den frühen Morgenstunden des 22. Dezember 2020 Zugang zu einer Wohnung in F. , um den gesondert Verfolgten G. aufzufinden. Dabei traf man auf den Angeklagten und vier weitere schlafende Personen, die früheren Mitangeklagten L., Be. , A. und K. Bei der Durchsuchung der Wohnung stellten die Beamten rund 1,8 kg Kokainzubereitung und rund 21 kg Cannabisharz sicher, die sich in drei Daunenjacken und zwei Taschen befanden. Die Strafkammer hat angenommen, dass der Angeklagte die zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmten Betäubungsmittel an verschiedenen Stellen der Wohnung lagerte und die alleinige Sachherrschaft ausübte.

2. Das Urteil ist aufzuheben, weil sich die Beweiswürdigung zur Täterschaft des Angeklagten als durchgreifend rechtsfehlerhaft erweist.

a) Soweit die Strafkammer die Annahme der alleinigen Täterschaft des Angeklagten auf mehrere „DNA-Mischspuren, bei denen als Verursacher des Hauptspurenanteils der Angeklagte identifiziert wurde“, stützt, wird dies den von der Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen an die Darstellung der Ergebnisse einer molekulargenetischen Vergleichsuntersuchung nicht gerecht (vgl. im Einzelnen Senat, Beschluss vom 12. August 2021 – 2 StR 325/20 Rn. 7 mwN). Danach muss bei einer Mischspur, in der eine Hauptkomponente erkennbar ist, das Ergebnis der biostatistischen Wahrscheinlichkeitsberechnung in numerischer Form mitgeteilt werden, wenn die Peakhöhen von Hauptkomponente zu Nebenkomponente durchgängig bei allen heterozygoten DNA-Systemen im Verhältnis 4 : 1 stehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. Juli 2020 – 6 StR 183/20 Rn. 2 und 6 StR 211/20 Rn. 4 und 3. November 2020 – 4 StR 408/20 Rn. 4).

b) Darüber hinaus erweist sich die Beweiswürdigung insoweit als lückenhaft, als das Landgericht nicht näher darlegt, aus welchen Gründen ausgeschlossen ist, dass der gesondert Verfolgte G.   , der „ausweislich des verlesenen, seine Person betreffenden Bundeszentralregisterauszugs mehrfach, unter anderem wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge vorbestraft ist“ und zum Durchsuchungszeitpunkt Wohnungsinhaber war, (Mit-)Gewahrsam an den aufgefundenen Betäubungsmittel hatte.

c) Hinsichtlich eines möglichen (Mit-)Gewahrsams der vier anderen in der Wohnung angetroffenen Personen hat die Strafkammer nicht erkennbar berücksichtigt, dass die zwei geöffneten Taschen, in denen sich rund 21 kg Cannabisharz befanden, „für jedermann sichtbar und zugänglich“ neben den von diesen Personen genutzten Matratzen auf dem Boden der Wohnung lagen und „erhebliche Mengen Bargeld an mehreren Stellen in der Wohnung“ gefunden wurden. Mit der sich angesichts dieser Umstände aufdrängenden Frage, zu welchem Zweck sich die vier ehemals Mitangeklagten mit dem Angeklagten in der Wohnung aufgehalten haben, verhält sich die Beweiswürdigung ebenfalls nicht…..“

Beweisanzeichen für eine Unfallmanipulation, oder: Unfall auf einem Parkplatz ohne Zeugen

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Die zweite Entscheidung des Tages, der OLG Schleswig, Beschl. v. 12.10.2022 – 7 U 62/22 – äußert sich mal wieder zur sog. „Unfallmanipulation“.

Der Kläger nimmt die Beklagten gesamtschuldnerisch auf materiellen Schadenersatz aufgrund eines behaupteten Verkehrsunfallgeschehens vom 12.01.2021 gegen 18:00 Uhr auf dem Parkplatz eines X-Marktes in Y. in Anspruch. Inzwischen ist unstreitig, dass es zu einer Kollision zwischen dem dort abgestellten Pkw Mercedes-Benz S 320 CDI des Klägers und einem von der Beklagten zu 1) gehaltenen, von dem Zeugen Ü1 geführten und bei der Beklagten zu 2) gegen Haftpflichtschäden versicherten Transporter Mercedes-Benz Vito gekommen ist. Dies soll beim Einfahren des Transporters in die Parklücke neben dem klägerischen Fahrzeug geschehen sein. Der Kläger hat behauptet, es könne Bodenglätte geherrscht haben und der Zeuge Ü1 habe beim Einparkversuch die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Anschließend sei er wieder aus der Parklücke herausgefahren und dabei erneut an das klägerische Fahrzeug gestoßen. Am Kollisionsort habe er nur einen Zettel mit einer Telefonnummer vorgefunden.

Der Kläger hat einen Schaden in Höhe von 9.723,31 EUR nebst Zinsen und vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten geltend gemacht. Darüber hinaus hat er die Feststellung begehrt, dass für den Fall der Instandsetzung seines Fahrzeugs die Beklagten zur Zahlung von Nutzungsausfall und Mehrwertsteuer, soweit angefallen, verpflichtet sind. Die Beklagte ist dem entgegengetreten mit der Behauptung, es habe sich um ein manipuliertes Geschehen gehandelt.

Das LG hat abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, es sei davon überzeugt, dass die Beschädigungen des klägerischen Fahrzeuges nicht einem Unfall im Rechtssinne geschuldet seien, sondern es sich vielmehr um ein verabredetes Geschehen gehandelt habe. Dagegen dann die Berufung, die beim OLG keinen Erfolg hatte:

„Zur Begründung wird auf den vorausgegangenen Hinweis des Senats Bezug genommen. Dort hat der Senat (u.a.) ausgeführt:

„Die Berufung des Klägers hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg i.S.v. § 522 Abs. 2 ZPO

Mit der Berufung kann gemäß § 513 Abs. 1 ZPO nur geltend gemacht werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht oder die zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen. Das zweitinstanzliche Vorbringen des Klägers zeigt weder das Vorliegen des einen noch des anderen Berufungsgrundes auf.

Vielmehr hat das Landgericht mit zutreffender Begründung, der der Senat beitritt, die Klage abgewiesen.

Das Landgericht hat sich davon überzeugt gezeigt, dass es sich bei dem streitigen Geschehen nicht um einen Unfall im Rechtssinne – also ein plötzliches, von außen kommendes Ereignis – gehandelt hat, sondern die Beschädigung des klägerischen Pkws mit dessen Einverständnis erfolgte, so dass die – zweitinstanzlich unstreitige – Kollision der beteiligten Fahrzeuge nicht geeignet war, Schadenersatzansprüche zugunsten des Klägers zu generieren.

Entgegen der Auffassung des Klägers hat das Landgericht den anzulegenden Beweismaßstab, nämlich die Überzeugung i.S.v. § 286 ZPO davon, dass – und warum – ein manipuliertes Geschehen vorliegt, nicht verkannt. In der gebotenen Gesamtschau der für oder gegen ein manipuliertes Geschehen sprechenden (Indiz-)Tatsachen ist „das Gericht bei lebensnaher Betrachtung von dem Vorliegen eines manipulierten Verkehrsunfalls überzeugt“ (S. 5 vorletzter Absatz VU). Auch auf Seite 7 (Mitte VU) weist das Landgericht auf seine Überzeugung im Rahmen der Gesamtschau nach dem Maßstab des § 286 ZPO hin. Es ist auch tatsächlich nicht zu erkennen, dass das Landgericht – entgegen der Auffassung des Klägers – einen anderen als den Beweismaßstab des § 286 Abs. 1 ZPO angelegt hat. Vielmehr hat sich das Landgericht objektiv von der Wahrheit der Behauptung der Beklagten überzeugt gezeigt, worauf sich auch die persönliche Gewissheit des Landgerichts bezieht. Dies ist nötig, aber auch ausreichend, denn zur Überzeugungsbildung i.S.v. § 286 ZPO von einer Unfallmanipulation bedarf es dabei (lediglich) einer Gewissheit, die vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet, nicht hingegen einer mathematisch lückenlosen Gewissheit (OLG Schleswig, Urteil vom 15.06.2021, Az. 7 U 204/21, juris Rn. 33 m.w.N.).

Dabei ist ergänzend zu den Ausführungen des Landgerichts, die Überzeugungsbildung von einer Unfallmanipulation noch unterstreichend, darauf hinzuweisen, dass der Sachverständige Dipl.-Ing. H1 in seinem schriftlichen Gutachten vom 14.01.2022 ausgeführt hat, dass sich das gesamte Anstoßgeschehen nahezu längsachsenparallel zugetragen hat mit einer Schrägstellung zwischen den Längsachsen der beteiligten Fahrzeuge von maximal 2 Grad, wobei auffällig ist, dass nach einer Trennung der Fahrzeuge infolge des Radanstoßes die Anstoßschäden etwa in Höhe der Mitte der rechten Fondtür wieder einsetzen und an Intensität bis zur Annäherung an die B-Säule zunehmen. Dies spricht ganz offensichtlich für ein bewusstes Weiterfahren nach der Kollision und lässt sich mit einem vom Kläger und auch vom Zeugen Ü1 behaupteten „Ausrutschen“ infolge Glätte überhaupt nicht erklären. Vielmehr (S. 16 des Gutachtens) bedurfte es zur Generierung des vorliegenden Schadenbildes einer fortgesetzten Lenkbewegung des Vito nach links durch den Zeugen Ü1.

Zu Recht hat das Landgericht festgestellt, dass es sich bei den beteiligten Fahrzeugen um die geradezu klassische Konstellation für ein manipuliertes Unfallgeschehen handelt.

Die Schäden am klägerischen Fahrzeug lassen sich mit Spachtel und Farbe für „kleines Geld“ unproblematisch durch Privatreparaturen beseitigen. Der mögliche Gewinn – bei erfolgreicher Manipulation – liegt als Motiv auf der Hand.

Dass es schon ungewöhnlich erscheint, dass in einer kleinen Ortschaft südlich von I. zwei Npp.er auf dem Parkplatz eines Einkaufsmarktes Beteiligte eines „Unfalles“ werden, sei nur am Rande – und ohne dass es die beabsichtigte Entscheidung trägt – angemerkt.“

Die im Anschluss daran erfolgten Ausführungen des Klägers im Schriftsatz vom 14.09.2022 führen zu keinem anderen Ergebnis.

Maßgeblich für die Überzeugungsbildung davon, dass es sich um einen manipulierten Unfall handelt – wobei es nach ständiger Rechtsprechung des Senats nicht des Nachweises der Bekanntschaft der Beteiligten bedarf – ist die Gesamtschau der (Indiz-) Tatsachen.

Dazu gehört auch eine wenig plausible Fahrtstrecke des zum Unfallzeitpunkt offenbar in N. wohnenden Klägers, der auf dem Weg von I. nach E. in Y. zum Einkaufen angehalten haben will. Abgesehen einmal davon, dass es sowohl in I. als auch in E. hinreichend Gelegenheiten zum Einkaufen gibt, liegt Y. nicht auf dem üblichen Weg von I. nach E., der über die A pp. führt.

Auffällig ist – wie schon vom Landgericht ausgeführt – auch das Verhalten des Klägers nach dem vermeintlichen Unfall; er fotografiert zwar einen Zettel, der in der Folge nicht mehr auffindbar ist, nicht aber die Örtlichkeiten, insbesondere die Stellung seines Fahrzeuges.

Die vom Kläger vermissten Zahlen, die die finanzielle Motivation darstellbar machen, lassen sich anhand des Gutachtens der S GmbH unschwer nachvollziehen. Der Sachverständige legt für eine fachgerechte Reparatur den Stundenverrechnungssatz einer Markenwerkstatt mit 131,40 € netto zugrunde; die Lohnkosten belaufen sich insgesamt auf 3.915,90 € netto. Zudem setzt der Sachverständige eine neue Tür hinten rechts mit 1.600,64 € netto an, zudem UPE-Aufschläge auf Ersatzteile mit 10%.

Bei einer „Reparatur“ unter der Hand bzw. in einer nicht markengebundenen Werkstatt dürfte sich allein bei diesen Positionen ein „Gewinn“ von ca. 4.000,- € erzielen lassen. Fiktiv abgerechnet kann man deshalb von einem „lukrativen Seitenschaden“ sprechen (vgl. auch LG Essen, Urteil vom 18.08.2022, 3 O 67/19, Juris, bei einer ähnlichen Konstellation).

Soweit der Kläger darauf abstellt, dass er weder das Aussageverhalten des Zeugen Ü1 noch dessen Fahrweise beeinflussen könne, mag dies vordergründig zutreffen; typisch für manipulierte Unfälle ist aber nun einmal, dass sie auf erste Sicht „normalen“ Unfällen entsprechen, sich aber im Detail Ungereimtheiten zeigen, die in ihrer Summe schließlich die Überzeugung von einem manipulierten Geschehen zulassen. So eben auch hier.“