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StPO I: Divergierende Urkundenübersetzungen, oder: Gibt es einen Erfahrungssatz „Weglaufen“?

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Und heute am Dienstag dann StPO-Entscheidungen. Alle Entscheidungen, die ich vorstellen werde, stammen vom BGH.

Ich beginne – zum Warmwerden – mit zwei „kleineren“ Entscheidungen des BGH, und zwar:

„Zwar kann es grundsätzlich einen Erörterungsmangel darstellen, wenn unterschiedliche Übersetzungen derselben Kommunikation als Urkunden in die Beweisaufnahme eingeführt werden und sich das Tatgericht mit erheblichen Abweichungen der verschiedenen Übersetzungen nicht befasst. Insoweit geht es der Sache nach nicht um allgemeine Zweifel an der Richtigkeit einer Übersetzung (s. dazu BGH, Beschluss vom 27. November 2018 – 3 StR 339/18, NStZ-RR 2019, 57), sondern um die fehlende Auseinandersetzung mit erhobenen Beweisen. Allerdings kann die Verfahrensrüge nach § 261 StPO („Inbegriffsrüge“), mit der die Lückenhaftigkeit der Beweiswürdigung wegen der nicht erschöpfenden Würdigung des Beweismaterials gerügt wird, der Revision nur dann zum Erfolg verhelfen, wenn sich mit Rücksicht auf die sonstigen Feststellungen eine Erörterung aufdrängen musste (st. Rspr.; etwa BGH, Urteil vom 25. August 2022 – 3 StR 359/21, StV 2023, 293 Rn. 50 mwN). Eine solche Konstellation ist hier nicht gegeben. Insbesondere wird aus beiden Übersetzungen des – für die Beweiswürdigung nicht allein maßgeblichen – Gesprächs ohne weiteres deutlich, dass sich die Männerstimme im Hintergrund ebenso wie die Gesprächspartnerin im Zusammenhang mit den Taliban ersichtlich ablehnend äußert.“

Das Landgericht hat zur Widerlegung der vom Angeklagten behaupteten Notwehrlage in der Beweiswürdigung unter anderem ausgeführt, es entspreche „allgemeiner Lebenserfahrung“, dass ein zuvor Angegriffener froh sei, wenn sein Widersacher weglaufe und ihm so kein weiterer Übergriff drohe. Aus dem von Zeugen beobachteten Verfolgen des Opfers durch den Angeklagten hat es anschließend gefolgert, dass dies gegen den vom Angeklagten behaupteten vorherigen Angriff des Verletzten spreche.

Zwar bestehen Bedenken gegen einen etwaigen Erfahrungssatz dieser Art. Der Senat schließt angesichts der übrigen rechtsfehlerfreien Erwägungen des Landgerichts aber aus, dass die Ablehnung der Notwehrlage auf der bezeichneten Wendung beruht (§ 337 Abs. 1 StPO).“

Beweiswürdigung III: Lückenlose Gesamtwürdigung, oder: Erfahrungssatz ohne Erfahrung

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Und zum Tagesschluss dann noch der BayObLG, Beschl. v. 03.02.2022 – 202 StRR 11/22 – zu einer rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung bei Bejahung des Tatentschlusses für den Versuch der gefährlichen Körperverletzung. Das AG hate den Angeklagten wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte verurteilt. Das LG hat die dagegen gerichtete Berufung verworfen. Dagegen dann die Revision, die beim BayObLG Erfolg hatte. Das BayObLG beanstandet die Beweiswürdigung:

„2. Allerdings kann die Verurteilung aufgrund der Sachrüge keinen Bestand haben, weil das angefochtene Urteil sachlich-rechtliche Fehler aufweist.

a) Soweit für die Entscheidung des Senats relevant, hat die Berufungskammer folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Am Abend des 24.01.2019 kam es im Anschluss an eine tätliche Auseinandersetzung des Angeklagten mit seiner Ehefrau in deren gemeinsamer Wohnung im zweiten Stock eines Mietshauses zu einem Polizeieinsatz, nachdem die Ehefrau vor dem randalierenden Angeklagten zu ihrem im ersten Stock des Anwesens wohnenden Nachbarn geflüchtet war. Die zunächst aus einer Polizeibeamtin und einem Polizeibeamten bestehende Streife vor Ort entschloss sich, Verstärkung anzufordern und nach deren Eintreffen zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Erteilung eines etwaigen Platzverweises den weiter lautstark randalierenden Angeklagten in dessen Wohnung aufzusuchen. Nach Eintreffen eines dritten Beamten begaben sich die beiden erstgenannten Beamten wieder in den 1. Stock, während sich der dritte Beamte noch im Treppenhaus auf dem Weg in den 1. Stock befand. In diesem Moment kam der Angeklagte aufgebracht und schreiend aus dem 2. Stock die Treppe hinunter, wobei er in der linken Hand einen ca. 0,95 Meter langen Birkenstock hielt und in der rechten Hand eine Axt mit einer Gesamtlänge von ca. 38 cm und geschärfter Klinge mit einer Klingenlänge von ca. 10 cm. Er hielt dabei den Birkenstock mit angewinkeltem Arm halbhoch vor seinen Körper und die Axt zunächst etwa auf Schulterhöhe. Dabei schrie der Angeklagte Unverständliches. Auf die Aufforderung „Waffe weg“ der beiden bereits im 1. Stock befindlichen Polizeibeamten reagierte der Angeklagte nicht, obgleich beide Beamte ihren Einsatzstock zogen. Während diese daraufhin im Flur zurückwichen, ging der Angeklagte mit dem Holzstock und der erhobenen Axt weiter auf die [beiden] Beamten zu. Die Polizeibeamtin warf ihren Einsatzstock weg und ergriff ihre Dienstwaffe. Der Angeklagte bewegte sich dabei immer noch auf die [beiden] Beamten […] zu, wobei er die Axt so hielt, dass die scharfe, geschliffene Seite der Axt in deren Richtung zeigte. Trotz eines erneuten Rufs der Beamten „Waffe weg“, bewegte sich der Angeklagte jedoch weiterhin auf die [beiden] Polizeibeamtem zu und machte mit der Axt eine Ausholbewegung nach oben über seinen Kopf, um auf die Beamten einzuschlagen und diese durch Einsatz von Axt und Stock zu verletzen. Der Angeklagte handelte dabei in der Absicht, sich den polizeilichen Anordnungen zu widersetzen. Insbesondere weigerte er sich, Axt und Stock wegzulegen. Als sich der Angeklagte noch etwa 2 Meter von den beiden Beamten entfernt befand, gab der zur Verstärkung hinzugezogene, sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der Treppe zum 1. Stock befindliche dritte Polizeibeamte aus dem Treppenhaus heraus insgesamt 5 Schüsse aus seiner Dienstpistole ab, die den Angeklagten jedoch verfehlten. Der Angeklagte wich jetzt zunächst ins Treppenhaus zum 2. Stock zurück, ehe er unmittelbar darauf von den Beamten nach Einsatz von Pfefferspray überwältigt werden konnte. Bei dem Versuch der drei Beamten, den Angeklagten am Boden zu fixieren und zu fesseln, leistete dieser weiterhin Widerstand, indem er die Arme unter dem Körper sperrte und diese trotz Aufforderung nicht freigab. Nur unter Einsatz von Kraftaufwand gelang es den drei Beamten, die Hände des Angeklagten auf den Rücken zu ziehen und diesen letztlich zu fesseln.

b) Die Beweiswürdigung ist zum festgestellten Tatentschluss, der auf die Verwirklichung einer versuchten gefährlichen Körperverletzung gemäß §§ 224 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 22 StGB gerichtet ist, rechtsfehlerhaft. Dies erfasst zugleich den Schuldspruch wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte gemäß § 114 Abs. 1 StGB, weil dieser eine unmittelbar auf den Körper des Beamten zielende Einwirkung, die nicht zum Erfolg geführt haben muss, voraussetzt (vgl. zuletzt BayObLG, Beschl. v. 01.06.2021 – 202 StRR 54/21 bei juris), was durch die Beweiswürdigung ebenfalls nicht belegt wird.

…..

bb) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung der Berufungskammer nicht gerecht.

(1) Das Landgericht schließt aus dem objektiven Geschehen, nämlich das Erheben der Axt in eine „Ausholbewegung“ über den Kopf und dem Zugehen des Angeklagten auf die Polizeibeamten, darauf, dass „der Angeklagte sich im Begriff befand, auf die Beamten einzuschlagen und dabei eine Verletzung in Kauf zu nehmen“. Schon die Annahme des Landgerichts, das objektive Geschehen lasse „nur“ den von ihm gezogenen Schluss zu, ist nicht haltbar. Das Landgericht legt seiner Überzeugungsbildung einen Erfahrungssatz zugrunde, den es nicht gibt, und lässt außer Acht, dass das Verhalten des Angeklagten auch ohne weiteres dahingehend interpretiert werden könnte, dass er die Polizeibeamten mit der Verwirklichung bedrohen wollte. Mit der von der Berufungskammer gezogenen Schlussfolgerungen hat sie sich den Blick auf eine denkbare und keineswegs durch die Beweiswürdigung fehlerfrei ausgeschlossene Sachverhaltsalternative von vornherein verstellt. Dies gilt umso mehr, als es nicht darauf ankommt, wie die Polizeibeamten das Verhalten des Angeklagten in der konkreten Situation verstehen mussten. Denn aus ihrer Sicht, die darauf gerichtet sein musste, erforderliche Maßnahmen nach dem Polizeiaufgabengesetz zu treffen, war es allein maßgeblich, ob eine konkrete Gefahr oder zumindest eine Anscheinsgefahr bestand (vgl. Art. 11 Abs. 1 Satz 1, 84 Abs. 1 Nr. 1 PAG in der zur Tatzeit geltenden Fassung v. 18.05.2018). Im Strafverfahren geht es aber im Gegensatz dazu darum, ob dem Angeklagten die Begehung der ihm angelasteten Straftat positiv nachgewiesen werden kann.

(2) Die Berufungskammer hat überdies die zwingend erforderliche, an einer lückenlosen Beweiswürdigung auszurichtende Gesamtwürdigung unterlassen.

(a) Das Berufungsurteil trifft keine Feststellungen dazu, dass der Angeklagte Hiebbewegungen in Richtung der Beamten unternommen hätte. Gerade damit hätte sich der Tatrichter aber auseinandersetzen müssen, zumal – wie dargelegt – die Bedeutung der Ausholbewegung als solche ambivalent ist.

(b) Das weitere Tatgeschehen nach Überwältigung des Angeklagten mittels des Einsatzes von Pfefferspray durch die Polizeibeamten hat das Landgericht bei seiner Überzeugungsbildung ebenfalls nicht in seine Überlegungen eingestellt und offensichtlich deshalb insoweit nur lückenhafte Feststellungen getroffen. Das Berufungsurteil stellt insoweit fest, dass der Angeklagte, bei dem Versuch der Polizeibeamten, ihn am Boden zu fixieren und zu fesseln, weiterhin Widerstand leistete, indem er die Arme unter den Körper sperrte und diese trotz Aufforderung nicht freigab. Dazu, wo sich mittlerweile die zunächst in der Hand gehaltene Axt befand und ob der Angeklagte hierauf noch Zugriff hatte, verhält sich das Landgericht nicht. Im Rahmen der gebotenen Gesamtschau hätte aber auch dieses Verhalten des Angeklagten unmittelbar nach dem Tatgeschehen eventuell Rückschlüsse darauf zulassen können, ob es ihm darauf ankam, die Polizeibeamten tatsächlich mit der Axt zu verletzen oder nicht.“