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Einsicht III: Notwendige Beweise im OWi-Verfahren, oder: Beschilderungsplan

Und zum Tagesschluss dann noch einmal etwas aus dem Bußgeldverfahren. Es geht wieder um Einsicht in Unterlagen. Aber dieses Mal nicht um Messdatei usw., sondern um den sog. Beschilderungsplan. Auch der ist dem Betroffenen zur Verfügung zu stellen. So das AG Vechta im AG Vechta, Beschl. v. 21.10.2022 – 93 OWi 234/22:

„a) Der Landkreis Vechta war antragsgemäß zu verpflichten, den Beschilderungsplan beizuziehen. Der Beschilderungsplan ist ein notwendiges Beweismittel, welches unabdingbar für die Prüfung des Vorliegens der hier vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit erforderlich ist Sowohl der Landkreis Vechta als auch der Verteidiger müssen anhand des Beschilderungsplans prüfen, ob zur Tatzeit am Tatort tatsächlich ein Überholverbot angeordnet war. Da der Landkreis Vechta nur bei Vorliegen und Einsehen des Beschilderungsplans die Verwirklichung des hier betr. Ordnungswidrigkeitentatbestandes bejahen kann, obliegt es ihm, den Beschilderungsplan zum Bestandteil der Akte zu machen. Diese Aufgabe kann nicht auf den Verteidiger übertragen werden, indem diesem aufgetragen wird, bei einer dritten Stelle vor Ort den Beschilderungsplan einzusehen. In diesem Zusammenhang ist dem nicht örtlich ansässigen Verteidiger aufgrund der deutlichen Entfernung nicht zuzumuten, für die Einsichtnahme an den Sitz der Autobahn GmbH in Osnabrück anzureisen.“

OWi II: Messunterlagen sind nicht bei den Akten, oder: Beschilderungsplan/verkehrsrechtliche Anordnung

In der zweiten OWi-Entscheidung des Tages geht es auch um Einsicht in bzw. Herausgabe von Unterlagen. Der Verteidiger hatte den B

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eschilderungsplan und die diesem zugrunde liegende verkehrsrechtliche Anordnung herausverlangt – und nicht bekommen. Der OLG Saarbrücken, Beschl. v. 14.07.2022 – SsRs 30/21 – sagt: Diese Unterlagen müssen herausgegeben werden:

„3. Jedenfalls darin, dass dem Verteidiger der Beschilderungsplan und die verkehrsrechtliche Anordnung nicht zur Verfügung gestellt worden sind, liegt eine unzulässige Versagung rechtlichen Gehörs.

a) Nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, juris; vgl. auch VerfGH des Saarlandes, Beschluss vom 27. April 2018 — Lv 1/18) gibt es auch im Bußgeldverfahren ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht des Einzelnen, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbst wahrzunehmen und Übergriffe der rechtsstaatlich begrenzten Rechtsausübung staatlicher Stellen angemessen abzuwehren. Der Betroffene darf nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, vielmehr muss ihm die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (BVerfG a.a.O.; BVerfGE 65, 171, 174; VerfGH des Saarlandes a.a.O.). Ein rechtsstaatliches und faires Verfahren fordert eine „Waffengleichheit“ zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Betroffenen andererseits (BVerfG a.a.O.; VerfGH des Saarlandes a.a.O.). Der Betroffene hat deshalb ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen und auf die Vermittlung der erforderlichen materiell- und prozessrechtlichen Informationen, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen kann (BVerfG a.a.O.; vgl. auch BVerfGE 110, 226, 253). Ihm muss Zugang zu den Quellen der Sachverhaltsfeststellung gewährt werden (BVerfG NJW 2007, 204, 205; VerfGH des Saarlandes a.a.O.). Dabei sind ihm grundsätzlich auch solche Messunterlagen zur Verfügung zu stellen, die sich nicht bei der Akte befinden, jedoch für seine Verteidigung von Bedeutung sein können (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 juris; VerfGH des Saarlandes a.a.O.; Senatsbeschlüsse vom 06. Januar 2022 – 1 Ss (OWi) 2/22 -, 15. Mai 2019 – SsRS 37/2018 — und 24. Februar 2016 – Ss (BS) 6/2016 (4/16 OWi)), und zwar unabhängig davon, ob konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen oder von dem Betroffenen vorgetragen worden sind (BVerfG a.a.O.; Senatsbeschlüsse vom 15. Mai 2019 — SsRS 37/2018 — und 24. Februar 2016 — Ss (BS) 6/2016 (4/16 OWi), vgl. auch Cierniak DAR 2018, 541 ff). Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen unbegrenzt gilt, da gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten ist (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. November 2020 — 2 BvR 1616/18 -, juris; vgl. auch Senatsbeschlüsse vom 06. Januar 2022 — 1 Ss (OWi) 2/22 — und vom 07. Januar 2022 — 1 Ss (OWi) 1/22). Andernfalls bestünde die Gefahr der uferlosen Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs (BVerfG a.a.O.; vgl. auch Senatsbeschlüsse a.a.O.). Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einem in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen (BVerfG a.a.O.; vgl. auch Senatsbeschlüsse a.a.O.). Für die Frage einer solchen Relevanz ist dabei maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers abzustellen (BVerfG a.a.O.; vgl. auch Senatsbeschlüsse a.a.O.). Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, ohne dass es darauf ankommt, ob die Bußgeld-behörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Geschwindigkeitsverstoß für erforderlich erachtet (BVerfG a.a.O.). Umgekehrt gilt jedoch auch kein rein subjektiver Maßstab, sondern entscheidend ist, ob der Betroffene bzw. sein Verteidiger eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf (BVerfG a.a.O.).

b) Das genannte Recht hat das Amtsgericht in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem es dem Betroffenen in Hauptverhandlung keine Gelegenheit gegeben hat, seinen gegenüber der Verwaltungsbehörde geltend gemachten Herausgabeanspruch weiterzuverfolgen.

Der von dem Verteidiger herausverlangte Beschilderungsplan und die diesem zu Grunde liegende verkehrsrechtliche Anordnung stehen in einem ersichtlichen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang zu dem dem Betroffenen zur Last gelegten Geschwindigkeitsverstoß. Dass durch die Überlassung dieser Unterlagen die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege gefährdet oder schutzwürdige Interessen Dritter in unzulässiger Weise berührt sein könnten, ist nicht ersichtlich. Eine Relevanz für die Verteidigung ist jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen. Zwar handelt es sich bei einer verkehrsrechtlichen Anordnung nach ihrer Bekanntgabe durch das Aufstellen der entsprechenden Beschilderung um einen Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung (BVerwG, Urteil vom 09. Juni 1967 – VII C 18/66 -, juris; BVerwG NJW 1997, 1021; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25. April 2022 – 8 E 120/22 -, juris; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 41 StVO Rdnr. 247), der grundsätzlich auch im Falle seiner Rechtswidrigkeit zu beachten ist, solange er nicht nichtig ist oder wirksam angefochten oder zurückgenommen wurde (BVerwG NJW 1967, 1627; OLG Koblenz, Beschluss vom 17. November 2020 – 1 OWi 6 SsRs 271/20, juris; KG Berlin VRS 107, 217; OLG Hamm, Beschluss vom 03. März 2016 – 3 RBs 55/16 -, juris; Hentschel/König/Dauer a.a.O. m.w.N.). Dem Verteidiger muss jedoch nach den dargelegten Grundsätzen auf seinen Antrag hin die Möglichkeit eröffnet werden, eine mögliche Nichtigkeit des dem Geschwindigkeitsverstoß zu Grunde liegenden Verwaltungsaktes zu prüfen- Soweit das Amtsgericht in den Urteilsgründen darauf verweist, dass der Verteidiger keine konkreten Anhaltspunkte für eine solche Nichtigkeit der verkehrsrechtlichen Anordnung dargelegt habe, verkennt es, dass ein entsprechender Vortrag eine Einsichtnahme in die Anordnung und den Beschilderungsplan gerade voraussetzt.

Soweit das Gericht in seinem Schreiben vom 20. April 2021 eine Überlassung der verkehrsrechtlichen Anordnung (und konkludent auch des Beschilderungsplans) vor der zu treffenden Sachentscheidung mit der Begründung abgelehnt hat, die Messörtlichkeit einschließlich der Beschilderung sei durch das in der Akte befindliche Messprotokoll ausreichend dokumentiert, verkennt es, dass nicht entscheidend ist, ob es selbst die Beiziehung der Unterlagen unter Aufklärungsgesichtspunkten für erforderlich hält, sondern allein, ob dem Betroffenen Gelegenheit gegeben werden muss, die erbetenen Unterlagen darauf zu prüfen, ob sich aus ihnen Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit der Messung ergeben. Das Recht des Betroffenen auf Einsicht in die Messunterlagen ist strikt von der Frage des Umfangs der Aufklärungspflicht des Gerichts nach § 244 Abs. 2 StPO zu trennen (Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541 ff, vgl. auch KG Berlin, Beschluss vom 06. August 2018 – 3 Ws (B) 168/18 -, juris; Senatsbeschlüsse vom 06. Januar 2022 – 1 Ss (OWi) 2/22 -, juris – und vom 07. Januar 2022 – 1 Ss (OWi) 1/22 -, juris). Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, wohingegen die Bußgeldbehörden und die Gerichte von einer weitergehenden Aufklärung in Fällen standardisierter Messverfahren grundsätzlich entbunden sind (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. November 2020 — 2 BvR 1616/18 -, juris). Es kommt deshalb gerade nicht darauf an, ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich halten (BVerfG a.a.O.). Soweit das Amtsgericht seine Rechtsauffassung auf die Entscheidungen des OLG Zweibrücken vom 05. Mai 2020 (Az.: 1 OWi SsBs 94/19 -) und des OLG Koblenz vom 17. November 2020 (Az.: 1 OWi 6 SsRs 271/20) stützt, übersieht es, dass diese durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 — überholt sind.

c) Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes (VerfGH des Saarlandes, Beschluss vom 27. April 2018 — Lv 1/18 -) ist das Recht des Betroffenen auf Zugang auch zu nicht bei den Akten befindlichen potentielle verteidigungsrelevanten Unterlagen nicht nur Ausfluss des Rechts auf ein faires Verfahren, sondern auch Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 60 Abs. 1 SVerf Art. 1 Abs. 1 SVerf), so dass seine Verletzung zur Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG führt.

d) Da eine Verletzung rechtlichen Gehörs bereits durch die unterbliebene Überlassung der verkehrsrechtlichen Anordnung und des Beschilderungsplans erfolgt ist, ist es für die Zulassung der Rechtsbeschwerde ohne Bedeutung, ob der Betroffene auch ein Recht darauf hatte. dass ihm die Falldaten der gesamten Messreihe zur Verfügung gestellt werden. ….“

OWi III: Drei AG-Entscheidungen zu Messungen, oder: Provida2000, Rohmessdaten und „Saarland-Hammer“

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Und zum Tagesschluss habe ich dann noch drei AG-Entscheidungen zu Messverfahren, von denen ich allerdings nur die Leitsätze vorstelle. Das sind:

    1. Die mit dem Pro Vida 2000 Modular im Messmodus „MAN“ nachträglich durchgeführte Messung ist kein standardisiertes Messverfahren, so dass nähere Ausführungen zur Geschwindigkeitsfeststellung erforderlich sind (Anschluss an OLG Hamm, Beschluss vom 22.06.2017, 1 RBs 30/17).
    2. Wenn der Betroffene und der Verteidiger vor der Hauptverhandlung mit der Terminsladung einen rechtlichen Hinweis dahingehend erhalten, dass im Rahmen einer Geschwindigkeitsüberschreitung auch eine Verurteilung wegen Vorsatzes in Betracht kommt, kann in der Hauptverhandlung in Abwesenheit ohne weiteres eine Verurteilung wegen Vorsatzes erfolgen, wenn der Betroffene entschuldigt und der Verteidiger unentschuldigt fehlen.
    3. Die Annahme von Vorsatz ist bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung auch auf einer dreispurigen Autobahn möglich. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Beschilderung (120 km/h, Gefahrzeichen Bodenwellen und 80 km/h) mehrfach beidseitig wiederholt wird und eine Geschwindigkeitsüberschreitung von mehr als 40 % vorliegt (vorliegend 68%).

Mit den Leitsätzen zu 1 und 3 habe ich kein Problem. Zu Leitsatz 2 würde ich gerne mal etwas vom OLG Hamm hören, ich würde es wahrscheinlich lösen anders lösen als das AG. Aber der der derzeitige Tendenz in der Rechtsprechung: „Abbügeln“. bin ich mir über das Ergebnis beim OLG nicht so sicher.

    1. Werden dem Verteidiger vorliegende Rohmessdaten und die Bedienungsanleitung von der Verwaltungsbehörde auch noch im gerichtlichen Verfahren vorenthalten, so liegt eine Verletzung fairen Verfahrens vor.
    2. Durchsuchungen bei der Verwaltungsbehörde sind in einem solchen Fall unverhältnismäßig.
    3. Ein Verfahren, in dem es zu einer Verletzung fairen Verfahrens kommt, kann nach § 47 OWiG eingestellt werden.

Wer den Beschluss liest, wird sich sicherlich auch denken: Ein paar Worte mehr wären nicht schlecht gewesen. Und: Leitsatz 2 und 3 hätte ich getauscht, sonst gibt es m.E. keinen Sinn.

    1. Die in Bußgeldverfahren wegen Verkehrsordnungswidrigkeiten stark zunehmende Tendenz, Behörden und Gerichte zu „überfluten“ mit ausufernden Schriftsätzen und Anträgen (auf Beiziehung/Überlassung zahlreicher Daten und Unterlagen, weitere Beweiserhebungen, Aussetzung der Hauptverhandlung etc.), Widersprüchen zur Verwertung von Beweismitteln sowie Vorlage von sog. Sachverständigengutachten, um die Grund- und Menschenrechte von Fahrzeugführern/innen nach Grundgesetz, EU-Menschenrechtskonvention und UN-Charta vor staatlicher Willkür in Form von hinterhältigen und wegelagerischen Radarfallen zu “schützen“, dies selbst bei geringfügigen Geldbußen, steht in diametralem Kontrast zu Sinn und Zweck des standardisierten Messverfahrens nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – gerade für den Bereich der massenhaft vorkommenden Verkehrsordnungswidrigkeiten mit vergleichsweise geringfügigen Sanktionen zum Zweck nachdrücklicher Pflichtenmahnung. Dieses seit Jahrzehnten bewährte Rechtsinstitut wird dadurch unterlaufen und ad absurdum geführt (sehr anschaulich: OLG Frankfurt, Beschl. v.14. Juni 2022 – 3 Ss-OWi 476/22).
    2. Solange der Gesetzgeber hier nicht ein – überfälliges – einheitliches Reglement zur Verfügung stellt, obliegt es den Gerichten, dieser Tendenz entgegenzuwirken und dem „dahinsiechenden“ standardisierten Messverfahren materiell-rechtlich wieder Leben einzuhauchen, um der Verantwortung für höchstmögliche Sicherheit im Straßenverkehr und damit Schutz von Leib und Leben aller Verkehrsteilnehmer gerecht zu werden.
    3. Wird von einem standardisierten Messverfahren ausgegangen, bedarf es der Hinzuziehung eines Beschilderungsplanes bzw. der verkehrsrechtlichen Anordnung nicht (OLG Zweibrücken, Beschl. v.5. Mai 2020 – 1 OWi 2 SsBs 94/19). Die Messörtlichkeit einschließlich der Beschilderung ist durch das Messprotokoll in der Akte ausreichend dokumentiert, so dass die Überlassung der verkehrsrechtlichen Anordnung nicht nötig ist. Verkehrszeichen stellen Verwaltungsakte in Form von Allgemeinverfügungen dar und sind nach §§ 43 III, 44 VwVfG nur unwirksam, wenn sie nichtig sind, ansonsten ist ein Verwaltungsakt zu befolgen, auch wenn er fehlerhaft ist (OLG Koblenz, Beschl. v.17. November 2020 – 1 OWi 6 SsRs 271/20).
    4. Für die Verwertbarkeit einer Messung trotz nicht gespeicherter/vorhandener Rohmessdaten spricht, dass nach Stellungnahmen und Beiträgen der PTB (zusammengefasst in der Fassung vom 4. November 2021, https://doi.org/10.7795/520/20211104) eine Messung an Hand von Rohmessdaten nicht aussagekräftig überprüft bzw. plausibilisiert werden kann. Nach den einleuchtenden Erläuterungen der PTB ist also nicht davon auszugehen, dass mit der Löschung/Nichtspeicherung von Rohmessdaten eine nachträgliche Überprüfung der Messung verhindert werden soll, wie es einige sog. Sachverständigenbüros suggerieren wollen. Es soll damit lediglich verhindert werden, dass der geeichte Messwert, gesetzliche Grundlage des Messwesens, mit ungeeigneten Mitteln in Frage gestellt wird.
    5. Für den Messwert einer konkreten Einzelmessung gibt es keinen Zusammenhang mit den Messergebnissen für Fahrzeuge, die in den Stunden davor oder danach erfasst wurden, so dass die Daten einer gesamten Messreihe – unabhängig davon, dass dieser Begriff nicht definiert und damit unbestimmt ist – ungeeignet sind zur Überprüfung der Einzelmessung (PTB, 30.03.2020, https://doi.org/10.7795/520.20200330).
    6. Bei Messungen mit dem Messgerät PoliScan besteht kein Anspruch auf Überlassung des sog. Token. Wird die Tuff-Datei mit der nötigen Software und dem dazugehörigen Token (auch public key, key oder Schlüssel genannt) geöffnet, ist ein grüner Haken sichtbar, mittels Token wird demnach die Integrität der Datei visualisiert. Diese Visualisierung kann als pdf-Datei abgespeichert und an die Verteidigung herausgegeben werden. Der Token ist mithin kein Medium zum Öffnen/Entschlüsseln einer Datei; er dient ausschließlich dazu, die Integrität der Messdaten zu visualisieren in Form des o.a. Häkchens.

Dazu nur Folgendes – mehr verbietet mir die BRAO 🙂 : Ich gehe davon aus, dass die Leitsätze vom AG stammen, denn m.E. würde sich Juris, wo ich die Entscheidung gefunden habe, nicht zu solchen Leitsätzen „versteigen“. Dann zeigen die Leitsätze aber deutlich, dass da offenbar jemand doch Probleme mit Verteidigern und Verteidigung in Bußgeldsachen hat. Und das, wenn ich mich recht erinnere, nicht zum ersten Mal. Denn der VerfGH Saarland hat sich ja vom AG St. Ingbert auch schon einen Rüffel abholen müssen. Im Übrigen: Was haben die Leitsätze mit der Entscheidung zu tun? Wo ist das „ausufernd“ verteidigt. Man, man. Wenn das die amtlichen Leitsätze sind, könnte man es ja mal mit einem Antrag nach § 24 ff. StPO versuchen. Ich bin ja kein Freund von Ablehnungen, aber wenn sich ein Amtsrichter – m.E. ohne Not – so weit „aus dem Fenster lehnt“…….

OWi I: Dauerbrenner Einsicht in Messunterlagen, oder: Verfassungsbeschwerde in Bayern und einige AG

entnommen wikimedia.org
Urheber Jepessen

Und heute dann mal ein wenig OWi.

Und ich starte mit Entscheidungen zur (Akten)Einsicht, dem Dauerbrenner im OWi-Verfahren.

Zunächst der Hinweis auf den BayVerfGH, Beschl. v. 13.01.2022 – 61-VI-19. Ergangen ist er in einem Verfahren, in dem um beim OLG Bamberg um die (Akten)Einsicht in Unterlagen und Daten von Geschwindigkeitsmessungen gestritten worden ist. Die „Besonderheit“: Die Einsicht war im Verwaltungsverfahren nicht geltend gemacht und demgemäß auch kein Antrag nach 3 62 OWiG gestellt. Erst im gerichtlichen Verfahren ist Überlassung der Daten beantragt worden.

Das BayVerfGH hat die Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf den Grundsatz der materiellen Subsidiarität als unzulässig angesehen, weil eben nicht schon bei der Verwaltungsbehörde Einsicht beantragt worden ist. Insoweit m.E. nichts Neues.

Geltend gemacht worden war dann noch, das die Entscheidung über die Rechtsbeschwerde nicht gemäß § 80a Abs. 3 OWiG auf den Senat übertragen worden war und die Sache nicht nach § 121 Abs. 2 GVG dem BGH vorgelegt worden ist. Das sagt der BayverfGH: Zulässig, aber unbegründet:

„Entsprechend kommt hier ein Verstoß gegen Art. 86 Abs. 1 Satz 2 BV dadurch in Betracht, dass der Einzelrichter am Bayerischen Obersten Landesgericht die Sache nicht gemäß § 80 a Abs. 3 Satz 1 OWiG auf den mit drei Richtern besetzten Senat übertragen hat, der dann in eigener Verantwortung über eine Vorlage an den Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 2 GVG i. V. m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG hätte entscheiden müssen (vgl. Bär in Graf, BeckOK OWiG, § 80 a Rn. 11; Hadamitzky in Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 80 a Rn. 10). Zu einer eigenständigen Vorlage der Rechtsbeschwerde gemäß § 121 Abs. 2 GVG wäre der Einzelrichter nicht befugt gewesen (BGH vom 28.7.1998 BGHSt 44, 144).

2. Vorliegend ist aber nicht davon auszugehen, dass der Richter, der den angegriffenen Beschluss erlassen hat, in willkürlicher, offensichtlich unhaltbarer Weise die Voraussetzungen des § 80 a Abs. 3 Satz 1 OWiG verneint hat……“

Und dann noch ein wenig von den AG:

Der Verteidiger hat auch bei einem standardisierten Messverfahren Anspruch auf Zurverfügungstellung des Schulungsnachweises des Messbeamten und einer Kopie der digitalen Falldaten im gerätespezifischen Formal nebst dazugehörigem öffentlichen Schlüssel (Token) für die gesamte Messreihe des Vorfallstages.

Benötigt der Verteidiger die Daten der kompletten Messserie, um die Vollständigkeit des Messfilms und das Vorliegen von Besonderheiten im Rahmen von Messungen zu überprüfen, ist die Bußgeldbehörde aufgrund der Entscheidung des BVerfG vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 – verpflichtet, die digitalen Daten der kompletten Messserie des Tattages an den Verteidiger herauszugeben. Ein Anspruch auf Einsicht in die sogenannte Lebensakte des Messgeräts besteht nicht.

Der Betroffene hat ein Recht auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen zu dem ihn betreffenden Messvorgang.