Schlagwort-Archive: Herausgabe von Unterlagen

OWi II: Messunterlagen sind nicht bei den Akten, oder: Beschilderungsplan/verkehrsrechtliche Anordnung

In der zweiten OWi-Entscheidung des Tages geht es auch um Einsicht in bzw. Herausgabe von Unterlagen. Der Verteidiger hatte den B

© lassedesignen Fotolia.com

eschilderungsplan und die diesem zugrunde liegende verkehrsrechtliche Anordnung herausverlangt – und nicht bekommen. Der OLG Saarbrücken, Beschl. v. 14.07.2022 – SsRs 30/21 – sagt: Diese Unterlagen müssen herausgegeben werden:

„3. Jedenfalls darin, dass dem Verteidiger der Beschilderungsplan und die verkehrsrechtliche Anordnung nicht zur Verfügung gestellt worden sind, liegt eine unzulässige Versagung rechtlichen Gehörs.

a) Nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 -, juris; vgl. auch VerfGH des Saarlandes, Beschluss vom 27. April 2018 — Lv 1/18) gibt es auch im Bußgeldverfahren ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht des Einzelnen, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbst wahrzunehmen und Übergriffe der rechtsstaatlich begrenzten Rechtsausübung staatlicher Stellen angemessen abzuwehren. Der Betroffene darf nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, vielmehr muss ihm die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (BVerfG a.a.O.; BVerfGE 65, 171, 174; VerfGH des Saarlandes a.a.O.). Ein rechtsstaatliches und faires Verfahren fordert eine „Waffengleichheit“ zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Betroffenen andererseits (BVerfG a.a.O.; VerfGH des Saarlandes a.a.O.). Der Betroffene hat deshalb ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen und auf die Vermittlung der erforderlichen materiell- und prozessrechtlichen Informationen, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen kann (BVerfG a.a.O.; vgl. auch BVerfGE 110, 226, 253). Ihm muss Zugang zu den Quellen der Sachverhaltsfeststellung gewährt werden (BVerfG NJW 2007, 204, 205; VerfGH des Saarlandes a.a.O.). Dabei sind ihm grundsätzlich auch solche Messunterlagen zur Verfügung zu stellen, die sich nicht bei der Akte befinden, jedoch für seine Verteidigung von Bedeutung sein können (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 juris; VerfGH des Saarlandes a.a.O.; Senatsbeschlüsse vom 06. Januar 2022 – 1 Ss (OWi) 2/22 -, 15. Mai 2019 – SsRS 37/2018 — und 24. Februar 2016 – Ss (BS) 6/2016 (4/16 OWi)), und zwar unabhängig davon, ob konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen oder von dem Betroffenen vorgetragen worden sind (BVerfG a.a.O.; Senatsbeschlüsse vom 15. Mai 2019 — SsRS 37/2018 — und 24. Februar 2016 — Ss (BS) 6/2016 (4/16 OWi), vgl. auch Cierniak DAR 2018, 541 ff). Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen unbegrenzt gilt, da gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten ist (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. November 2020 — 2 BvR 1616/18 -, juris; vgl. auch Senatsbeschlüsse vom 06. Januar 2022 — 1 Ss (OWi) 2/22 — und vom 07. Januar 2022 — 1 Ss (OWi) 1/22). Andernfalls bestünde die Gefahr der uferlosen Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs (BVerfG a.a.O.; vgl. auch Senatsbeschlüsse a.a.O.). Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einem in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen (BVerfG a.a.O.; vgl. auch Senatsbeschlüsse a.a.O.). Für die Frage einer solchen Relevanz ist dabei maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers abzustellen (BVerfG a.a.O.; vgl. auch Senatsbeschlüsse a.a.O.). Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, ohne dass es darauf ankommt, ob die Bußgeld-behörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Geschwindigkeitsverstoß für erforderlich erachtet (BVerfG a.a.O.). Umgekehrt gilt jedoch auch kein rein subjektiver Maßstab, sondern entscheidend ist, ob der Betroffene bzw. sein Verteidiger eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf (BVerfG a.a.O.).

b) Das genannte Recht hat das Amtsgericht in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem es dem Betroffenen in Hauptverhandlung keine Gelegenheit gegeben hat, seinen gegenüber der Verwaltungsbehörde geltend gemachten Herausgabeanspruch weiterzuverfolgen.

Der von dem Verteidiger herausverlangte Beschilderungsplan und die diesem zu Grunde liegende verkehrsrechtliche Anordnung stehen in einem ersichtlichen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang zu dem dem Betroffenen zur Last gelegten Geschwindigkeitsverstoß. Dass durch die Überlassung dieser Unterlagen die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege gefährdet oder schutzwürdige Interessen Dritter in unzulässiger Weise berührt sein könnten, ist nicht ersichtlich. Eine Relevanz für die Verteidigung ist jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen. Zwar handelt es sich bei einer verkehrsrechtlichen Anordnung nach ihrer Bekanntgabe durch das Aufstellen der entsprechenden Beschilderung um einen Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung (BVerwG, Urteil vom 09. Juni 1967 – VII C 18/66 -, juris; BVerwG NJW 1997, 1021; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25. April 2022 – 8 E 120/22 -, juris; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 41 StVO Rdnr. 247), der grundsätzlich auch im Falle seiner Rechtswidrigkeit zu beachten ist, solange er nicht nichtig ist oder wirksam angefochten oder zurückgenommen wurde (BVerwG NJW 1967, 1627; OLG Koblenz, Beschluss vom 17. November 2020 – 1 OWi 6 SsRs 271/20, juris; KG Berlin VRS 107, 217; OLG Hamm, Beschluss vom 03. März 2016 – 3 RBs 55/16 -, juris; Hentschel/König/Dauer a.a.O. m.w.N.). Dem Verteidiger muss jedoch nach den dargelegten Grundsätzen auf seinen Antrag hin die Möglichkeit eröffnet werden, eine mögliche Nichtigkeit des dem Geschwindigkeitsverstoß zu Grunde liegenden Verwaltungsaktes zu prüfen- Soweit das Amtsgericht in den Urteilsgründen darauf verweist, dass der Verteidiger keine konkreten Anhaltspunkte für eine solche Nichtigkeit der verkehrsrechtlichen Anordnung dargelegt habe, verkennt es, dass ein entsprechender Vortrag eine Einsichtnahme in die Anordnung und den Beschilderungsplan gerade voraussetzt.

Soweit das Gericht in seinem Schreiben vom 20. April 2021 eine Überlassung der verkehrsrechtlichen Anordnung (und konkludent auch des Beschilderungsplans) vor der zu treffenden Sachentscheidung mit der Begründung abgelehnt hat, die Messörtlichkeit einschließlich der Beschilderung sei durch das in der Akte befindliche Messprotokoll ausreichend dokumentiert, verkennt es, dass nicht entscheidend ist, ob es selbst die Beiziehung der Unterlagen unter Aufklärungsgesichtspunkten für erforderlich hält, sondern allein, ob dem Betroffenen Gelegenheit gegeben werden muss, die erbetenen Unterlagen darauf zu prüfen, ob sich aus ihnen Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit der Messung ergeben. Das Recht des Betroffenen auf Einsicht in die Messunterlagen ist strikt von der Frage des Umfangs der Aufklärungspflicht des Gerichts nach § 244 Abs. 2 StPO zu trennen (Cierniak/Niehaus DAR 2018, 541 ff, vgl. auch KG Berlin, Beschluss vom 06. August 2018 – 3 Ws (B) 168/18 -, juris; Senatsbeschlüsse vom 06. Januar 2022 – 1 Ss (OWi) 2/22 -, juris – und vom 07. Januar 2022 – 1 Ss (OWi) 1/22 -, juris). Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, wohingegen die Bußgeldbehörden und die Gerichte von einer weitergehenden Aufklärung in Fällen standardisierter Messverfahren grundsätzlich entbunden sind (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 12. November 2020 — 2 BvR 1616/18 -, juris). Es kommt deshalb gerade nicht darauf an, ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich halten (BVerfG a.a.O.). Soweit das Amtsgericht seine Rechtsauffassung auf die Entscheidungen des OLG Zweibrücken vom 05. Mai 2020 (Az.: 1 OWi SsBs 94/19 -) und des OLG Koblenz vom 17. November 2020 (Az.: 1 OWi 6 SsRs 271/20) stützt, übersieht es, dass diese durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 2020 – 2 BvR 1616/18 — überholt sind.

c) Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes (VerfGH des Saarlandes, Beschluss vom 27. April 2018 — Lv 1/18 -) ist das Recht des Betroffenen auf Zugang auch zu nicht bei den Akten befindlichen potentielle verteidigungsrelevanten Unterlagen nicht nur Ausfluss des Rechts auf ein faires Verfahren, sondern auch Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 60 Abs. 1 SVerf Art. 1 Abs. 1 SVerf), so dass seine Verletzung zur Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG führt.

d) Da eine Verletzung rechtlichen Gehörs bereits durch die unterbliebene Überlassung der verkehrsrechtlichen Anordnung und des Beschilderungsplans erfolgt ist, ist es für die Zulassung der Rechtsbeschwerde ohne Bedeutung, ob der Betroffene auch ein Recht darauf hatte. dass ihm die Falldaten der gesamten Messreihe zur Verfügung gestellt werden. ….“

Wenn der Steuerberater Unterlagen nicht herausgibt, oder: Geldbuße und Verweis

Und auch die zweite Entscheidung im Kessel Buntes ist nicht „Alltags-Geschäft, sondern „mal was anderes“. Es handelt sich um das LG Frankfurt a. M., Urt. v. 24.06.2018 – 5-35 StL 4/16, in dem gegen einen Steuerberater eine Geldbuße festgesetzt worden und ihm ein Verweis erteilt worden ist, weil dieser Unterlagen nicht herausgegeben hat.

Nach dem Sachverhalt hatte ein Mandant des Steuerberaters das zunächst diesem erteilte Mandat Mitte 2014 auf den Steuerberater B übertragen. Steuerberater B schrieb dann an den Steuerberater nach mehrfachen vergeblichen Kontaktversuchen eine Mail, in der er um Auskunft und Datenübertragung bat. Nachdem weitere Kontaktversuche gescheitert waren, setzte Steuerberater B in einer Mail unter Hinweis darauf, dass vom Steuerberater zuvor angekündigte Schritte, insbesondere die Freigabe von Unterlagen, unterblieben seien, dem Steuerberater eine Erledigungsfrist und drohte die Einschaltung der Berufskammer an. Es ging dann noch hin und her, jedenfalls ist es – auch nach Einschaltung der Steuerberaterkammer – nicht zur Herausgabe der Unterlagen gekommen.

Das führte dann jetzt zu den berufsrechtlichen Maßnahmen:

„Der Steuerberater hat seine Berufspflichten nach §§ 57 Abs. 1, 80 Abs, 2 StBerG schuldhaft verletzt.

Der Steuerberater hat übernommene Beratungsaufträge nach den Grundsätzen pflichtgemäßer Berufsausübung auszuführen(§ 13 Abs. 1 BOStB).

Bei Beendigung des Auftrags hat der Steuerberater auf Aufforderung die Unterlagen seiner Mandanten i.S. v. § 66 StBerG herauszugeben (§§ 675 Abs. 1, 667 2. Alt. BGB, § 13 Abs. 4 BOStB). Die Herausgabepflicht bezieht sich auch auf Unterlagen mit vorbereitenden Arbeitsergebnissen, etwa Buchführungsbestandteilen bzw. die entsprechenden elektronischen Daten. Die Unterlagen sind herauszugeben, wenn dem Steuerberater keine fälligen und offenen Honoraransprüche mehr zustehen bzw. die Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts im Hinblick auf die Interessen des Mandanten treuwidrig wäre (§ 66 Abs. 2 StBerG).

Dagegen hat der Steuerberater, der sich dem Mandanten gegenüber nicht ausdrücklich auf Gegenansprüche in einer gemessen an der Beeinträchtigung der Interessen des Mandanten nicht unverhältnismäßig geringen Höhe berufen hat, nachhaltig und vorwerfbar verstoßen.

Es entspricht nicht den Anforderungen an ein berufswürdiges Verhalten (§ 7 BOStB), wenn der Steuerberater gegenüber dem früheren Mandanten, gegenüber dem ihm nachfolgenden Steuerberater, gegenüber dem Gerichtsvollzieher und der Steuerberaterkammer wahrheitswidrige Ankündigungen und Erklärungen abgibt.

Es liegt zudem auf der Hand, dass die berufsrechtliche Pflicht zur Begründung einer beruflichen Niederlassung mit Eröffnung ausreichender Kommunikationsmöglichkeiten die Anforderung umfasst, auch tatsächlich in eine berufsbezogene Kommunikation mit Interessenten zu treten. Es war standeswidrig, dass der Steuerberater eine Vielzahl von Kontaktversuchen ohne Reaktion ließ.

Zudem hat der Steuerberater seine Auskunftspflicht gegenüber der Steuerberaterkammer nach § 80 StBerG schuldhaft verletzt.“