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BVerfG I: Keine Beschlagnahme nach 5 Jahren, oder: Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde

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Und dann der Start in die 51. KW, an deren Ende wir dann das Weihnachtsfest einläuten. Zum Start stelle ich dann mal wieder zwei BVerfG-Entscheidungen vor und beginne mit dem BVerfG, Beschl. v. 17.11.2022 – 2 BvR 827/21.

Es geht um eine Verfassungsbeschwerde, die sich sich gegen die Anordnung der Beschlagnahme zahlreicher Unterlagen und Ordner im Rahmen eines Strafverfahrens wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung richtet. Dem waren im April 2013, Juni 2014 und Dezember 2014 richterlich angeordnete Durchsuchungen vorausgegangen. In Vollzug dieser Durchsuchungsbeschlüsse wurden die später beschlagnahmten Gegenstände zur Durchsicht mitgenommen. Die Steuerfahndungsstelle ersuchte erst am 27.01.2020 die zuständige Staatsanwaltschaft, einen Antrag auf Beschlagnahme der Gegenstände zu stellen. Das AG ordnete daraufhin die Beschlagnahme mit Beschluss vom 31.01.2020 an, das LG wies die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschuldigten im April 2021 zurück.

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, was aber auf formellen Gründen beruht. Denn:

„Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Die Verfassungsbeschwerde ist bereits unzulässig. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht der in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommende allgemeine Grundsatz der Subsidiarität entgegen.

1. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität soll der gerügte Grundrechtsverstoß nach Möglichkeit schon im fachgerichtlichen Verfahren beseitigt werden (vgl. BVerfGE 63, 77 <78>). Danach hat ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinn hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 81, 22 <27 m.w.N.>). Die Verweisung auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde steht unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit einer anderweitigen prozessualen Möglichkeit zur Abhilfe (vgl. BVerfGE 134, 106 <115 f. Rn. 28 m.w.N.>).

2. Soweit der Beschwerdeführer seinen Einwand, dass die Sicherstellung (§ 110 StPO) unzumutbar lang angedauert habe, erstmals gegen die Beschlagnahmebeschlüsse vorgebracht hat, hat er nicht alle nach Lage des Verfahrens zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten genutzt, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken und die Grundrechtsverletzung zu verhindern. Denn ihm wäre es möglich und zumutbar gewesen, die Dauer der Sicherstellung im Wege eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung entsprechend § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO einer fachgerichtlichen Prüfung zu unterziehen (vgl. BVerfGK 1, 126 <133 f.>; 15, 225 <236 f.>).

Ein derartiger Antrag auf gerichtliche Entscheidung erschiene nicht offenkundig aussichtslos. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die Durchsicht zügig durchgeführt wird, um abhängig von der Menge des vorläufig sichergestellten Materials und der Schwierigkeit seiner Auswertung in angemessener Zeit zu einer Entscheidung darüber zu gelangen, was als potentiell beweiserheblich dem Gericht zur Beschlagnahme angetragen und was an den Beschuldigten herausgegeben werden soll (BGH, Beschluss vom 5. August 2003 – StB 7/03 -, juris, Rn. 16; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Januar 2002 – 2 BvR 2248/00 -, Rn. 11).

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Verfahrensweise der Ermittlungsbehörden erheblichen Bedenken ausgesetzt. Die Mitnahme der Gegenstände zur Durchsicht dauerte ohne einen erkennbaren sachlichen Grund mehr als fünf Jahre lang an. Das Fehlen eines sachlichen Grundes offenbart sich darin, dass die Staatsanwaltschaft und das Landgericht die Verfahrensweise offen als „bedauerliches Versehen“ bezeichnet haben. Eine solche Verfahrensweise dürfte mit dem Schutzzweck des § 110 StPO, eine übermäßige und auf Dauer angelegte Datenerhebung zu verhindern (vgl. BVerfGE 113, 29 <58>), kaum zu vereinbaren sein. Einen ebenso nicht unerheblichen Verfahrensverstoß dürfte es darstellen, dass die Steuerfahndung allem Anschein nach bereits Beweismittel ausgewertet hat. Dies ist ihr erst nach richterlicher Anordnung der Beschlagnahme gemäß § 94 Abs. 2 in Verbindung mit § 98 Abs. 1 Satz 1 StPO gestattet (vgl. Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 110 Rn. 2 m.w.N.). Dieser Umstand deutet darauf hin, dass grundlegende Verfahrensvorschriften verkannt wurden. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht fernliegend, dass ein mit der Prüfung befasstes Gericht die Dauer der Sicherstellung für unverhältnismäßig gehalten und diese aufgehoben hätte.“

Die Entscheidung bestätigt mal wieder: Der Weg nach Karlsruhe ist der letzte Schritt, der erst begangen werden kann/darf, wenn zuvor alle prozessualen Schritte im fachgerichtlichen Verfahren gegangen worden sind und nicht zum Erfolg geführt haben. Und dazu gehört dann eben bei einem Vorgehen gegen eine Beschlagnahme von Unterlagen nicht nur die Beschwerde zum LG sondern ggf. auch noch der Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Sicherstellung (§ 98 Abs. 2 Satz 2 StPO). Das gilt vor allem, wenn, was m.E. aus Entscheidung des BVerfG deutlich wird, die (vorläufige) Sicherstellung eindeutig zu lange – mehr als fünf Jahre () – gedauert und damit das Rechtsmittel wohl Erfolg gehabt hätte. Der Beschuldigte vergibt sich mit diesem Vorgehen ja auch nichts, denn: Denn sieht auch/schon das Fachgericht die Sicherstellung als zu lang und damit unverhältnismäßig an, hat er bereits auf dem Weg sein Ziel erreicht. Sieht das Fachgericht das nicht so, ist der Weg nach Karlsruhe ja nicht versperrt, sondern die Tür für eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde weit geöffnet

OWi I: Dauerbrenner Einsicht in Messunterlagen, oder: Verfassungsbeschwerde in Bayern und einige AG

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Und heute dann mal ein wenig OWi.

Und ich starte mit Entscheidungen zur (Akten)Einsicht, dem Dauerbrenner im OWi-Verfahren.

Zunächst der Hinweis auf den BayVerfGH, Beschl. v. 13.01.2022 – 61-VI-19. Ergangen ist er in einem Verfahren, in dem um beim OLG Bamberg um die (Akten)Einsicht in Unterlagen und Daten von Geschwindigkeitsmessungen gestritten worden ist. Die „Besonderheit“: Die Einsicht war im Verwaltungsverfahren nicht geltend gemacht und demgemäß auch kein Antrag nach 3 62 OWiG gestellt. Erst im gerichtlichen Verfahren ist Überlassung der Daten beantragt worden.

Das BayVerfGH hat die Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf den Grundsatz der materiellen Subsidiarität als unzulässig angesehen, weil eben nicht schon bei der Verwaltungsbehörde Einsicht beantragt worden ist. Insoweit m.E. nichts Neues.

Geltend gemacht worden war dann noch, das die Entscheidung über die Rechtsbeschwerde nicht gemäß § 80a Abs. 3 OWiG auf den Senat übertragen worden war und die Sache nicht nach § 121 Abs. 2 GVG dem BGH vorgelegt worden ist. Das sagt der BayverfGH: Zulässig, aber unbegründet:

„Entsprechend kommt hier ein Verstoß gegen Art. 86 Abs. 1 Satz 2 BV dadurch in Betracht, dass der Einzelrichter am Bayerischen Obersten Landesgericht die Sache nicht gemäß § 80 a Abs. 3 Satz 1 OWiG auf den mit drei Richtern besetzten Senat übertragen hat, der dann in eigener Verantwortung über eine Vorlage an den Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 2 GVG i. V. m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG hätte entscheiden müssen (vgl. Bär in Graf, BeckOK OWiG, § 80 a Rn. 11; Hadamitzky in Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Auflage 2018, § 80 a Rn. 10). Zu einer eigenständigen Vorlage der Rechtsbeschwerde gemäß § 121 Abs. 2 GVG wäre der Einzelrichter nicht befugt gewesen (BGH vom 28.7.1998 BGHSt 44, 144).

2. Vorliegend ist aber nicht davon auszugehen, dass der Richter, der den angegriffenen Beschluss erlassen hat, in willkürlicher, offensichtlich unhaltbarer Weise die Voraussetzungen des § 80 a Abs. 3 Satz 1 OWiG verneint hat……“

Und dann noch ein wenig von den AG:

Der Verteidiger hat auch bei einem standardisierten Messverfahren Anspruch auf Zurverfügungstellung des Schulungsnachweises des Messbeamten und einer Kopie der digitalen Falldaten im gerätespezifischen Formal nebst dazugehörigem öffentlichen Schlüssel (Token) für die gesamte Messreihe des Vorfallstages.

Benötigt der Verteidiger die Daten der kompletten Messserie, um die Vollständigkeit des Messfilms und das Vorliegen von Besonderheiten im Rahmen von Messungen zu überprüfen, ist die Bußgeldbehörde aufgrund der Entscheidung des BVerfG vom 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 – verpflichtet, die digitalen Daten der kompletten Messserie des Tattages an den Verteidiger herauszugeben. Ein Anspruch auf Einsicht in die sogenannte Lebensakte des Messgeräts besteht nicht.

Der Betroffene hat ein Recht auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen zu dem ihn betreffenden Messvorgang.

Strafrecht II: Wenn die Polizeibeamtin „im Schritt gekniffen“ wird, oder: Was ist mit der sexuellen Belästigung?

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstelle, handelt es sich um dne zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmten BGH, Beschl. v. 13.03.2018 – 4 StR 570/17. Das LG hat die Angeklagte wegen sexueller Belästigung gemäß § 184i Abs. 1 StGB zum Nachteil einer Polizeibeamtin verurteilt.

Dazu hat das LG folgende Feststellungen getroffen: Nachdem die Angeklagte wegen eines anderen Geschehens festgenommen worden war, wurde sie in den Räumen einer Polizeiwache – in Anwesenheit der geschädigten Polizeibeamtin – von einer weiteren Polizeibeamtin körperlich durchsucht. Die Angeklagte, der die Durchsuchung missfiel, rief der Geschädigten zu: „Und Du willst wohl auch gleich in meine Fotze gucken? Soll ich auch in Deine greifen?“ Dabei griff sie der Geschädigten mit einer schnellen Bewegung in den Schritt und kniff sie dort schmerzhaft. Die Geschädigte war hierdurch schockiert; der Vorfall war ihr peinlich, und sie ekelte sich sehr.

Der BGH hat die Verurteilung durch das LG wegen eines Verstoßes gegen § 184i Abs. 1 StGB beanstandet. Er führt in der recht umfangreich begründeten Entscheidung – daher hier heute mal eine redaktionelle Zusammenfassung – aus, dass zwar die objektiven und subjektiven Voraussetzungen des Straftatbestandes der sexuellen Belästigung im Sinne des § 184i Abs. 1 StGB erfüllt seien. Das LG habe indes nicht geprüft, ob der Strafbarkeit nach § 184i Abs. 1 StGB die Subsidiaritätsklausel dieser Vorschrift entgegenstehe.

Auslegungskriterien wie zum Begriff der sexuellen Handlung nach § 184h Nr. 1 StGB

  • Dabei geht der BGH in der in Literatur streitigen Frage der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der körperlichen Berührung „in sexuell bestimmter Weise“ i.S. von § 184i Abs. 1 StGB davon aus, dass das Vorliegen einer Berührung „in sexuell bestimmter Weise“ anhand der Auslegungskriterien zu bestimmen sei, welche die Rechtsprechung zum Begriff der sexuellen Handlung nach § 184h Nr. 1 StGB entwickelt hat (Fischer, StGB, 65. Aufl. 2018, § 184i Rn. 4 bis 5a; in diese Richtung auch BeckOK-StGB/Ziegler, Stand: 1. Februar 2018, § 184i Rn. 4 und 5); demnach könne eine Berührung sowohl objektiv – nach dem äußeren Erscheinungsbild – als auch subjektiv – nach den Umständen des Einzelfalls – sexuell bestimmt sein, wobei es allerdings nicht ausreiche, dass die Handlung allein nach der subjektiven Vorstellung des Täters sexuellen Charakter habe (Fischer, a.a.O.; a.A. – Bestimmung anhand objektiver Umstände und der Sexualbezug muss sich aus der Berührung als solcher ergeben MüKo-StGB/Renzikowski, 3. Aufl., § 184i Rn. 8; ders., NJW 2016, 3553, 3557; SK-StGB/Noltenius, 9. Aufl., § 184i Rn. 6; Hörnle, NStZ 2017, 13, 20; Hoven/Weigend JZ 2017, 182, 189; in diese Richtung auch Krug/Weber ArbR 2018, 59, 60). Mit Blick auf § 184h Nr. 1 StGB sprechen nach Auffassung des BGH für diese Auslegung insbesondere systematische Erwägungen. Zudem werde sie durch den Wortlaut sowie Sinn und Zweck der neuen Strafvorschrift gestützt. Eine Berührung in sexuell bestimmter Weise sei demnach zu bejahen, wenn sie einen Sexualbezug bereits objektiv, also allein gemessen an dem äußeren Erscheinungsbild, erkennen lässt. Darüber hinaus können auch ambivalente Berührungen, die für sich betrachtet nicht ohne Weiteres einen sexuellen Charakter aufweisen, tatbestandsmäßig sein. Dabei sei auf das Urteil eines objektiven Betrachters abzustellen, der alle Umstände des Einzelfalles kenne; hierbei sei auch zu berücksichtigen, ob der Täter von sexuellen Absichten geleitet war. Insofern gelte im Rahmen von § 184i Abs. 1 StGB nichts anderes als bei der Bestimmung des Sexualbezugs einer Handlung gemäß § 184h Nr. 1 StGB (vgl. hierzu die st.Rspr.; BGHSt 61, 173, 176; BGH NStZ 2002, 431, 432, 2017, 528; StV 2018, 231; StraFo 2015, 471).

Kneifen im Schritt Bezug zum Geschlechtlichen

  • Gemessen daran sei die Annahme des LG, die Angeklagte habe den Tatbestand des § 184i Abs. 1 StGB objektiv und subjektiv erfüllt, nicht zu beanstanden. Die Angeklagte habe die Geschädigte nach den Urteilsfeststellungen gezielt in den Schritt – also in den Bereich des primären Geschlechtsorgans – gekniffen. Hierdurch ergebe sich bereits nach dem äußeren Erscheinungsbild ein Bezug zum Geschlechtlichen (vgl. für Berührungen im Bereich der primären Geschlechtsorgane im Ergebnis übereinstimmend: BT-Drucks. 18/9097, S. 30; Fischer, a.a.O., § 184i Rn. 4; MüKo-StGB/Renzikowski, a.a.O., § 184i Rn. 8; Hörnle, NStZ 2017, 13, 20). Dieser sexuelle Bezug sei, ohne dass es hierauf noch maßgeblich ankäme, verstärkt worden durch die begleitende Äußerung der Angeklagten, aus welcher sich ergebe, dass gerade die Intimsphäre der Geschädigten als Reaktion auf die eigene, als störend empfundene körperliche Durchsuchung verletzt werden sollte. Da sich eine Berührung in sexuell bestimmter Weise bereits hinreichend aus den äußeren Umständen ergebe, sei es unerheblich, dass keine sexuelle Motivation der Angeklagten festgestellt sei, sondern sie naheliegend allein aus Renitenz und zur Provokation der Geschädigten handelte.

Aufgehoben hat der BGH, weil sich das LG nicht damit auseinander gesetzt hat, dass eine Strafbarkeit wegen sexueller Belästigung nach § 184i Abs. 1 StGB ausscheidet, wenn die Tat in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist. Aus der uneingeschränkt auf „andere Vorschriften“ verweisenden Subsidiaritätsklausel ergibt sich, dass § 184i Abs. 1 StGB von allen Strafvorschriften mit schwererer Strafandrohung verdrängt wird und nicht nur von solchen des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuches (vgl. Fischer, a.a.O., § 184i Rn. 16; MüKo-StGB/Renzikowski, a.a.O., § 184i Rn. 14; SK-StGB/Noltenius, a.a.O., § 184i Rn. 13). Zwar verweist die Gesetzesbegründung in diesem Zusammenhang nur auf Straftatbestände, die eine mit § 184i StGB „vergleichbare Schutzrichtung aufweisen“ (BT-Drucks. 18/9097, S. 30). Dieser gesetzgeberische Wille hat aber im Wortlaut des § 184i Abs. 1 StGB keinen Niederschlag gefunden und ist damit unbeachtlich, da der Wortlaut die äußerste Grenze der Auslegung ist (vgl. SK-StGB/Noltenius, a.a.O., § 184i Rn. 13; MüKo-StGB/Renzikowski, a.a.O.; vgl. zur entsprechend weiten Auslegung der Subsidiaritätsklausel im Rahmen von § 246 Abs. 1 StGB: BGHSt 47, 243 ff.; so auch zu § 125 Abs. 1 StGB a.F. BGHSt 43, 237, 238 f.).

Im LG-Urteil sind aber, obwohl sich das nach Auffassung des BGH aufgedrängt hat, etwaige vorrangige Tatbestände nicht geprüft worden. Aus den Feststellungen ergab sich, dass die Angeklagte die Geschädigte „schmerzhaft“ kniff, was das Vorliegen einer Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB – dieses Delikt ist mit schwererer Strafe bedroht als § 184i Abs. 1 StGB – nahelegt.

Und, wer sich fragt, ob die Angeklagte überhaupt „beschwert“ ist: Ja, das ist sie nach Auffassung des BGH. Denn die Verurteilung nach § 184i Abs. 1 StGB anstatt (möglicherweise) nach § 223 Abs. 1 StGB beschwere die Angeklagte trotz des höheren Strafrahmens der letztgenannten Vorschrift. Aus einem zu milden Schuldspruch ergebe sich nämlich dann eine Beschwer, wenn das vom Tatrichter angewandte Strafgesetz völlig verschieden ist von demjenigen, welches in Wahrheit verletzt wurde (vgl. BGHSt 8, 34, 37; LR-StPO/Franke, 26. Aufl., § 354 Rn. 22; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, § 354 Rn. 17). Dies müsse auch gelten, wenn der Strafbarkeit lediglich die formelle Subsidiarität einer Vorschrift entgegensteht, da auch das Nichteingreifen der Subsidiaritätsklausel Voraussetzung der Strafbarkeit ist.