Schlagwort-Archive: Amtsaufklärungspflicht

Absprache I: Die Amtsaufklärungspflicht gilt immer, oder: „Nachhilfe“ für AG Halle und OLG Naumburg

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Vorab: Heute ist „Weiberfastnacht“, also ab heute Ausnahmezustand im Rheinland und drum herum. Aus dem Anlass, allen die (mit)feiern, viel Spaß. Hier oben läuft alles normal – Gott sei Dank.

Und ich stellen heute hier StPO-Entscheidungen vor, und zwar alle drei Entscheidungen zur Verständigung (§ 257c StPO) und was damit zu tun hat. Alle drei Entscheidungen sind obergerichtliche Entscheidungen, alle drei „rügen“ die beteiligten Instanzgerichte.

Ich beginne mit dem BVerfG, Beschl. v. 20.12.2023 – 2 BvR 2103/20 – zur Verurteilung eines Angeklagten (allein) auf der Grundlage eines verständigungsbasierten Geständnisses. Der Beschluss hat in etwa folgenden Sachverhalt.

Das AG Halle (Saale) hat den Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Vorausgegangen war eine Verständigung zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten gem. § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO. Der Vorsitzende hatte für den Fall einer geständigen Einlassung dem Angeklagten eine Gesamtfreiheitsstrafe zwischen einem Jahr und einem Jahr und drei Monaten zugesichert, die zur Bewährung ausgesetzt werden solle. Der Angeklagte und der Vertreter der Staatsanwaltschaft stimmten der Verständigung zu. Der Pflichtverteidiger gab für den Angeklagten dann folgende Erklärung ab:

Herr D. bestätigt die Tatvorwürfe aus der Anklage (…). Herr D. war Geschäftsführer der Firma und beschäftigte viele Arbeitnehmer aus Osteuropa. Ob dieser Personenkreis unternehmerisch tätig war oder nicht, war ihm nicht wichtig. (…) Ihn hat nicht interessiert, ob die Arbeitnehmer anzumelden sind oder dies bereits geschah. Er hat sich um die Dinge nicht gekümmert, er nahm die Konsequenzen in Kauf. (…) Der Tatvorwurf wird als bestätigt eingeräumt (…).“

Der Angeklagte erklärte: „Das ist richtig so“.

Eine Beweisaufnahme zur Überprüfung der Einlassung fand dann nicht mehr statt. Die Angeklagten gegen das Urteil des AG eingelegte Sprungrevision hat das OLG Naumburg als unbegründet verworfen. Die Verfassungsbeschwerde des Angeklagten hatte Erfolg.

Ich stelle hier mal nicht Auszüge aus dem recht langen Beschluss des BVerfG ein, sondern empfehle den – dringend! – dem Selbststudium. Die Ausführungen lassen sich etwa wie folgt zusammenfassen:

  • Es liegt Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens vor.
  • § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO schließe jede Disposition über Gegenstand und Umfang der dem Gericht von Amts wegen obliegenden Pflicht zur Aufklärung des mit der Anklage vorgeworfenen Geschehens aus. Eine Verständigung kann niemals als solche die Grundlage eines Urteils bilden.
  • AG und OLG haben die Mindestanforderungen an die Wahrheitserforschung verkannt.
  • Die Qualität des Geständnisses ist/war insgesamt gering.
  • Das amtsgerichtliche Urteil lässt besorgen, dass sich der Tatrichter keine ausreichend fundierte Überzeugung von der Schadenshöhe verschafft hat.
  • Nach allem hätte sich dem AG die Erforderlichkeit einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts aufdrängen müssen.

Das sind deutliche Worte in/zu einem Fall, der dann doch überrascht. Nicht wegen der Entscheidung an sich, sondern wegen des zugrundeliegenden Sachverhalts. Das ist nämlich m.E. einer der klassischen Fälle, die die Rechtsprechung des BVerfG und auch die des BGH vermeiden wollte: Der „Deal“ geringe Strafe gegen schnellen Abschluss des Verfahrens bzw. Einräumen des zur Last gelegten Sachverhalts, ohne dass dieser und die geständige Einlassung des Angeklagten vom Tatgericht überprüft wird. Das BVerfG hat in seiner Rechtsprechung von Anfang an darauf hingewiesen, dass auch bei einer Verständigung die Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts davon nicht betroffen sein soll. das verständigungsbasierte Geständnis soll nicht allein die Verständigung Grundlage des Urteils sein. Vielmehr soll auch weiterhin die Überzeugung des Gerichts von dem von ihm im Urteil später festgestellten Sachverhalt erforderlich sein (vgl. BT-Drucks 16/12310, S. 13), so ausdrücklich im Verständigungsurteil v. 19.3.2013 (BVerfG (NJW 2013, 1058, 1063). Allein ein verständigungsbasiertes Geständnis könne eine Verurteilung nicht rechtfertigen (s.a. BGH NStZ 2014, 53). Vielmehr sei es zwingend erforderlich, die geständige Einlassung des Angeklagten im Zuge einer förmlichen Beweisaufnahme auf ihre Richtigkeit zu überprüfen (BVerfG, a.a.O., m.w.N.). Das Gericht darf also nicht vorschnell auf eine Urteilsabsprache bzw. eine Verständigung ausweichen, ohne zuvor pflichtgemäß die Anklage tatsächlich anhand der Akten und insbesondere auch rechtlich überprüft zu haben (vgl. u.a. BGH NStZ 2014, 53). Es darf also nicht etwa ohne nähere Überprüfung des Tatgeschehens eine bestimmte Sanktion zusagen. Das hat das AG übersehen und – was auch erstaunt – das OLG Naumburg im Revisionsverfahren ebenfalls. Ergebnis ist dann, dass jetzt noch einmal verhandelt werden muss. Schnelligkeit bei einer Entscheidung ist eben nicht immer gut.

Und dann mal wegen der Rechtsprechung zur Absprache/Verständigung: Die findet man <<Werbemodus an“ zusammengestellt in  Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl., 2022, Rn 120 ff. Zur Bestellung geht es hier <<Werbemodus aus>>.

Aufklärung II: Vernehmung der früheren Berufsrichter, oder: Was haben die Zeugen früher gesagt?

© aerogondo – Fotolia.com

Bei der zweiten Entscheidung betreffend Aufklärung(spflicht) handelt es sich um das BGH, Urt. v. 30.03.2023 – 4 StR 318/22.

Folgender Sachverhalt: Das LG hatte im ersten Rechtsgang die Angeklagten mit Urteil v. 09.01.2019 vom Vorwurf der schweren Misshandlung von Schutzbefohlenen freigesprochen. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft hat der BGH mit Urteil vom 30. 07.2020 das LG-Urteil mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des LG zurückverwiesen.

Im zweiten Rechtsgang hat das LG die Angeklagten dann erneut aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Dagegen die Revision der StA, die hinsichtlich der Angeklagten T. H. mit der Verfahrensrüge Erfolg hatte. Die Revision betreffend den Angeklagten M. H. war unbegründet.

Der Verfahrensrüge ders StA liegt folgendes Geschehen zugrunde: Im ersten Rechtsgang hatten sich beide Angeklagte zur Sache eingelassen. Die Eltern der beiden Angeklagten und die Ehefrau des Bruders des Angeklagten M. H. hatten als Zeugen Angaben gemacht. Im zweiten Rechtsgang haben beide Angeklagte weitgehend von ihrem Schweigerecht Gebrauch gebracht. Lediglich die Angeklagte T. H. hat sich über eine Verteidigererklärung dahin eingelassen, dass sie die Hebamme bzw. die Kinderärztin auf die Schwellung an L. s Brustkorb aufmerksam gemacht habe und nicht umgekehrt. Die mit den Angeklagten verwandten Zeugen haben sich im zweiten Rechtsgang auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen.

Der BGH moniert, dass die Berufsrichter aus dem ersten Rechtsgang nicht als Zeugen vernommen worden sind:

„2. Die Aufklärungsrüge die Angeklagte T.H. betreffend ist zulässig erhoben. Die Rüge genügt der durch § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO vorgeschriebenen Form. Insbesondere hat die Beschwerdeführerin die Beweismittel, deren Verwertung sie vermisst, und die zu erwartenden Beweisergebnisse jeweils konkret bezeichnet (vgl. BGH, Urteil vom 24. Februar 2021 – 6 StR 214/20 Rn. 3), indem sie mit dem Ziel, eine Aktivtäterschaft der Angeklagten T.H. zu beweisen, im Einzelnen vorgetragen hat, welche Bekundungen der namentlich benannten Berufsrichter über die Einlassungen der beiden Angeklagten und über die Angaben der Zeugen (Eltern der beiden Angeklagten, Ehefrau des Bruders des Angeklagten) in der Hauptverhandlung im ersten Rechtsgang zu erwarten waren.

3. Die Aufklärungsrüge ist begründet, denn das Landgericht hätte sich zu der Vernehmung der Berufsrichter des ersten Rechtsgangs gedrängt sehen müssen (§ 244 Abs. 2 StPO).

a) § 244 Abs. 2 StPO gebietet es, von Amts wegen Beweis zu erheben, wenn aus den Akten oder aus dem Stoff der Verhandlung Umstände und Möglichkeiten bekannt oder erkennbar sind, die bei verständiger Würdigung der Sachlage begründete Zweifel an der Richtigkeit der – auf Grund der bisherigen Beweisaufnahme erlangten – Überzeugung wecken müssen bzw. geeignet sind, noch vorhandene Zweifel, die einer Überzeugungsbildung entgegenstehen, auszuräumen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 2014 – 4 StR 208/14 Rn. 7 mwN). Ergibt die Beweisaufnahme weder den Nachweis noch die Widerlegung eines entscheidungserheblichen Umstands, so muss das Gericht, bevor es zu dem fraglichen Punkt zugunsten des Angeklagten entscheidet, von Amts wegen nach eventuellen weiteren Aufklärungsmöglichkeiten forschen und anordnen, dass bekannte oder erkennbare weitere, bisher nicht genutzte Beweismittel, die eine Aufklärung erwarten lassen, herbeigeschafft und gebraucht werden (vgl. BGH, Urteil vom 10. November 1959 – 1 StR 488/59, BGHSt 13, 326 Rn. 5 f.; Becker in Löwe-Rosenberg, 27. Aufl., § 244 Rn. 61).

b) Hieran gemessen war die Strafkammer gehalten, die aus dem Urteil im ersten Rechtsgang ersichtlichen Einlassungen der Angeklagten und Angaben der Zeugen durch Vernehmung der Berufsrichter zum Gegenstand der Hauptverhandlung zu machen. Die Vernehmung der Berufsrichter drängte sich auf, da für das Gericht im zweiten Rechtsgang das abweichende Einlassungs- bzw. Aussageverhalten der Angeklagten und Zeugen aus dem Urteil im ersten Rechtsgang erkennbar war und die unterbliebene Beweiserhebung zu einer anderen Sachverhaltsfeststellung hätte führen können. Denn die in das Wissen der benannten Zeugen gestellten früheren Äußerungen der Angeklagten und Zeugen können Feststellungen ermöglichen, die im Rahmen der Gesamtwürdigung der Beweisergebnisse wesentliche indizielle Bedeutung für eine (Aktiv-)Täterschaft der Angeklagten T. H. haben……..“

Der BGH hat dann an ein anderes LG zurückverwiesen. Ist vielleicht auch besser.

OWi II: Zu Entbindungsantrag/Verwerfungsurteil, oder: Attest, Aufklärungspflicht, Rüge, Entbindungsverzicht

Bild von Arek Socha auf Pixabay

Und im zweiten Posting dann zwei Entscheidungen zum verfahrensrechtlichen Dauerbrenner: Entbindungsantrag und/oder Verwerfung des Einspruchs, also §3 73, 74 OWiG. Beide  vorgestellten Entscheidungen stammen vom KG aus Berlin. Im Einzelnen:

    1. Für eine formgerechte Begründung der Verfahrensrüge der Verletzung des § 74 Abs. 2 OWiG müssen im Fall einer Erkrankung die Art der Erkrankung, die aktuell bestehende Symptomatik und die daraus zur Terminzeit resultierenden konkreten körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen dargelegt werden, die eine Beteiligung an der Hauptverhandlung unmöglich gemacht haben oder unzumutbar erscheinen lassen, und dass dies dem Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannt war oder im Rahmen seiner Aufklärungspflicht hätte bekannt sein müssen.
    2. Ein Betroffener ist nicht zur Glaubhaftmachung oder zum Nachweis der vorgebrachten Entschuldigungsgründe verpflichtet.
    3. Die bloße Mitteilung, der Betroffene sei (verhandlungsunfähig) erkrankt, bietet für sich genommen noch keinen Anhaltspunkt für eine genügende Entschuldigung und Anlass, im Freibeweis Feststellungen zur Verhandlungs(un)fähigkeit des Betroffenen zu treffen.
    4. Eine ärztliche Bescheinigung löst die gerichtliche Aufklärungspflicht aus, weil sich aus ihr in aller Regel hinreichende – wenn auch im Rahmen der gerichtlichen Nachforschungspflicht gegebenenfalls zu verifizierende – Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung ergeben.
    5. Soweit das Tatgericht trotz einer die „Verhandlungsunfähigkeit“ attestierenden ärztlichen Bescheinigung das Erscheinen des Betroffenen in der Hauptverhandlung für möglich und zumutbar hält, muss es im Urteil darlegen, warum es von der Unrichtigkeit der Bescheinigung überzeugt ist oder warum es die Krankheit in ihren Auswirkungen für so unbedeutend hält, dass sie einer Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht entgegensteht.

Ebenso wenig wie ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OVVIG bei entschuldigtem Ausbleiben ergehen darf, darf in Abwesenheit des Betroffenen eine Hauptverhandlung durchgeführt werden, wenn er teilnehmen will und ihm ein Erscheinen unmöglich oder unzumutbar ist und er deshalb Terminsverlegung beantragt hat. Das gilt selbst dann, wenn der Betroffene durch einen Verteidiger vertreten, ist, es sei denn, dass dieser sich gleichwohl mit einer Verhandlung in Abwesenheit des Betroffenen einverstanden erklärt.

Etwas zu schnell – Geständnis hebelt Aufklärungspflicht nicht aus…

© sss78 – Fotolia.com

© sss78 – Fotolia.com

Eine in der Praxis häufigere Verfahrenssituation ist Ausgangspunkt für den BGH, Beschl. v. 05.11.2013 – 2 StR 265/13 – gewesen.  Das LG Koblenz hat den Angeklagten u.a. wegen Geiselnahme in Tateinheit mit Körperverletzung verurteilt. Seine Feststellungen zur Tatbegehung durch den Angeklagten und zu den Einzelheiten des Geschehens hat das LG auf die durch den Angeklagten erklärte Bestätigung der Richtigkeit des Vortrags seines Verteidigers zur Sache gestützt. Dadurch habe sich der Angeklagte so schwer belastet, dass die Strafkammer „keine weitere Veranlassung“ gesehen habe, „das Geständnis auf eine unzutreffende Selbstbezichtigung hin“ zu überprüfen. „Ausdrücklich offen blieb bei der Einlassung, ob und gegebenenfalls wer und wie sich weitere Personen an den Tatgeschehen in zwei ausgeurteilten Fällen beteiligten oder sonst daran partizipierten, wobei der Angeklagte keinen Zweifel daran ließ, dass er aus Eigennutz die bestimmende Rolle -jeweils einem Alleintäter gleichkommend – einnahm“. Die Beantwortung ergänzender Fragen durch die Strafkammer oder durch andere Verfahrensbeteiligte hatte der Angeklagte abgelehnt.

 Dem BGH reicht das so nicht und er erinnert das LG an seine Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO):

„Diese Ausführungen belegen, dass die Strafkammer sich ihre Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten auf unzureichender Basis verschafft hat, was der Senat bereits auf die Sachrüge zu berücksichtigen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 15. April 2013 – 3 StR 35/13, StV 2013, 684).

Aus dem verfassungsrechtlich verankerten Schuldprinzip folgt im Strafprozess die Verpflichtung der Gerichte, von Amts wegen den wahren Sachverhalt zu erforschen (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 u.a., NJW 2013, 1058, 1060). Die Amtsaufklärungspflicht darf schon wegen der Gesetzesbindung des Richters (Artz. 20 Abs. 3 GG) nicht dem Interesse an einer einfachen und schnellstmöglichen Erledigung des Verfahrens geopfert werden. Es ist unzulässig, dem Urteil einen Sachverhalt zu Grunde zu legen, der nicht auf einer Überzeugungsbildung unter Ausschöpfung des verfügbaren Beweismaterials beruht. Dies gilt auch dann, wenn sich der Angeklagte geständig gezeigt hat.

Zwar unterfällt auch die Bewertung eines Geständnisses dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung gemäß § 261 StPO. Das Tatgericht muss aber, will es die Verurteilung des Angeklagten auf dessen Einlassung stützen, von deren Richtigkeit überzeugt sein (vgl. Senat, Urteil vom 10. Juni 1998 – 2 StR 156/98, BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 31). Es ist deshalb stets zu untersuchen, ob das Geständnis den Aufklärungsbedarf hinsichtlich der erforderlichen Feststellungen zur Tat erfüllt, ob es in sich stimmig ist und auch im Hinblick auf sonstige Erkenntnisse keinen Glaubhaftigkeitsbedenken unterliegt. Durchgreifende rechtliche Bedenken bestehen nach diesem Maßstab gegen die hier vorliegende Ablehnung einer Geständnisüberprüfung durch die Strafkammer, die sie im Hinblick darauf erklärt hat, dass die anwaltliche Erklärung zur Sache „nach gemeinsamer Aufarbeitung der Anklagevorwürfe“ mit dem Angeklagten erfolgt sei. Diese Vorgehensweise der Verteidigung außerhalb der Hauptverhandlung gestattet dem Gericht keine Nachprüfung der Gründe für die Einzeltaten der anwaltlich formulierten Sacheinlassung. Es genügt auch nicht, das Geständnis des Angeklagten durch bloßen Abgleich des Erklärungsinhalts mit der Aktenlage zu überprüfen, weil dies keine hinreichende Grundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung darstellt (vgl. BVerfG, aaO, NJW 2013, 1058, 1063).

Da der Angeklagte auch keine ergänzenden Fragen des Gerichts und der Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung an ihn zugelassen hat, ist bereits ein wesentliches Mittel für die Geständnisüberprüfung, die dem Gericht im Hinblick auf seine Aufklärungspflicht nicht zur Disposition gestellt ist, entfallen. Andere Mittel hat das Landgericht nicht genutzt. Dies wiegt hier umso schwerer, als gerade bei den schwersten Anklagevorwürfen ausdrücklich offen geblieben ist, ob und wie eine weitere Person an der Tatbegehung mitgewirkt hat.“

Ganz so einfach und so schnell, wie das LG es sich gedacht hat, geht es dann doch nicht. Wenigstens ein bisschen Aufklärung muss sein….

Und: Ceterum censeo: Hier geht es zur Abstimmung Beste Jurablogs Strafrecht 2014 – wir sind dabei, die Abstimmung läuft

„Horrorverfahren“ mit 53.494 Geschädigten – wie geht man damit um?

Ein „Horrorverfahren“ war beim LG Stuttgart anhängig. Es ging um Betrügereien in Zusammenhaag mit Kreditvermittlungen in einer Vielzahl von Fällen, und zwar insgesamt 53.494. Im Verfahren hat das LG sich dann auf die Feststellungen und Beweisaufnahme zu 15 Fällen beschränkt und die Angeklagten wegen eines Betruges in jeweils tateinheitlich begangenen fünfzehn vollendeten und im Übrigen in 53.479 versuchten Fällen verurteilt. In der auf die Einvernahme von fünfzehn Kunden beschränkten Beweisaufnahme hat das LG eine Irrtumserregung  festgestellt. In den übrigen 53.479 Fällen über Rechnungsbeträge von insgesamt mehr als 2,8 Mio. Euro ist das LG mangels festgestellter Irrtumserregung lediglich von versuchter Täuschung der Kunden ausgegangen; es hat eine erstrebte Bereicherung von etwa 2,5 Mio. Euro angenommen.

Der Hintergrund dieser Vorgehensweise liegt auf der Hand: Das LG wollte nicht, was nachvollziebar ist, möglicherweise weitere 53.479 Zeugen vernehmen müssen.Der BGH hat das im BGH, Beschl. v. 06.02.2013 – 1 StR 263/12 – ergänzt durch einen Leitsatz hier – beanstandet, aber gleich auch „Handlungsanweisungen“ gegeben:

„Näherer Erörterung bedarf lediglich die Vorgehensweise des Landgerichts, nur fünfzehn Geschädigte zu vernehmen und im Übrigen hinsichtlich der weit überwiegenden Zahl der tateinheitlich begangenen Taten „aus verfahrensökonomischen Gründen“ lediglich Tatversuch anzunehmen (UA S. 914, 917). Das Landgericht sah sich ersichtlich nur auf diesem Wege in der Lage, die Hauptverhandlung, die bereits nahezu fünf Monate gedauert hatte, in angemessener Zeit zu beenden.

a) Die vom Landgericht mit dem Begriff der „Prozessökonomie“ be-schriebene Notwendigkeit, die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege zu erhalten (vgl. dazu auch Landau, Die Pflicht des Staates zum Erhalt einer funkti-onstüchtigen Strafrechtspflege, NStZ 2007, 121), besteht. Jedoch muss ein Tatgericht im Rahmen der Beweisaufnahme die in der Strafprozessordnung dafür bereit gehaltenen Wege beschreiten. Ein solcher Weg ist etwa die Beschränkung des Verfahrensstoffes gemäß den §§ 154, 154a StPO, die allerdings die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft voraussetzen. Eine einseitige Beschränkung der Strafverfolgung auf bloßen Tatversuch ohne Zustimmung der Staatsanwaltschaft, wie sie das Landgericht hier – freilich im Rahmen gleichartiger Tateinheit mit vollendeten Delikten – vorgenommen hat, sieht die Strafprozessordnung jedoch nicht vor.

b) Es trifft allerdings zu, dass in Fällen eines hohen Gesamtschadens, der sich aus einer sehr großen Anzahl von Kleinschäden zusammensetzt, die Möglichkeiten einer sinnvollen Verfahrensbeschränkung eingeschränkt sind. Denn dann sind keine Taten mit höheren Einzelschäden vorhanden, auf die das Verfahren sinnvoll beschränkt werden könnte.

Dies bedeutet aber nicht, dass es einem Gericht deshalb – um überhaupt in angemessener Zeit zu einem Verfahrensabschluss gelangen zu können – ohne weiteres erlaubt wäre, die Beweiserhebung über den Taterfolg zu unter-lassen und lediglich wegen Versuches zu verurteilen. Vielmehr hat das Tatgericht die von der Anklage umfasste prozessuale Tat (§ 264 StPO) im Rahmen seiner gerichtlichen Kognitionspflicht nach den für die Beweisaufnahme gelten-den Regeln der Strafprozessordnung (vgl. § 244 StPO) aufzuklären. Die richter-liche Amtsaufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) gebietet dabei, zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind...“

Um aus dem Dilemma herauszukommen, bieten sich nach Auffassung des BGH an:

  • Grds. kann in Fällen eines normativ geprägten Vorstellungsbildes es insgesamt ausreichen, nur einige Zeugen/Geschädigte zu vernehmen, wenn sich dabei das Ergebnis hinsichtlich Irrtumserregung und Vermeidung einer Schädigung des eigenen Vermögens bestätigt findet.
  • Ist die Beweisaufnahme auf eine Vielzahl Geschädigter zu erstrecken, besteht zudem die Möglichkeit, bereits im Ermittlungsverfahren durch Fragebögen zu ermitteln, aus welchen Gründen die Leistenden die ihr Vermögen schädigende Verfügung vorgenommen haben. Das Ergebnis dieser Erhebung kann dann – etwa nach Maßgabe des § 251 StPO – in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Hierauf kann dann auch die Überzeugung des Gerichts gestützt werden, ob und ggf.in welchen Fällen die Leistenden eine Vermögensverfügung irrtumsbedingt vorgenommen haben.
  • Ob es in derartigen Fällen dann noch einer persönlichen Vernehmung von Geschädigten bedarf, entscheidet sich nach den Erfordernissen des Amtsaufklärungsgrundsatzes (§ 244 Abs. 2 StPO) und des Beweisantragsrechts (insb. § 244 Abs. 3 StPO). In Fällen eines normativ geprägten Vorstellungsbildes kommt dabei die Ablehnung des Antrags auf die Vernehmung einer größe-ren Zahl von Geschädigten als Zeugen in Betracht (vgl. BGH, Urteil vom 17. Juli 2009 – 5 StR 394/08, wistra 2009, 433, 434).