Archiv der Kategorie: Urteil

Bewährung III: Kein Widerruf der Strafaussetzung, oder: Unwirksamer Verlängerungsbeschluss

Bild von Immo Schulz-Gerlach auf Pixabay

Und dann noch die dritte Entscheidung. Erneut OLG Hamm, und zwar der OLG Hamm, Beschl. v. 27.08.2024 – 3 Ws 295/24 – zum Widerruf von Strafaussetzung zur Bewährung. In dem Verfahren war die Strafaussetzung wiederrufen worden aufgrund einer Straftat, die in der verlängerten Bewährungszeit begangen worden war. Das OLG hat da beanstandet, weil der Verlängerungsbeschluss unwirksam war:

„1. Die sofortige Beschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Widerrufsbeschlusses der 19. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bielefeld vom 19. Juni 2024 und zur Zurückweisung des Widerrufsantrages der Staatsanwaltschaft Wuppertal vom 29. April 2024.

a) Gemäß § 57 Abs. 5 S. 1 StGB i. V. m. § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB widerruft das Gericht die Straf- bzw. Strafrestaussetzung, wenn die verurteilte Person in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat.

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

aa) Die am 11. Oktober 2023 begangene Tat, die Gegenstand der Verurteilung vom 15. Februar 2024 durch das Amtsgerichts Wuppertal war, kann den Widerruf der Strafrestaussetzung zur Bewährung nicht begründen. Die Tat lag tatsächlich außerhalb der Bewährungszeit. Der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bielefeld vom 24. Mai 2022, mit dem die Verlängerung der am 21. September 2022 endenden Bewährungszeit bis zum 21. September 2024 angeordnet worden ist, erweist sich als rechtswidrig mit der Folge, dass die Bewährungszeit tatsächlich bereits mit Ablauf des 21. September 2022 endete. Die zeitlich deutlich später begangene Anlasstat vom 11. Oktober 2023 fiel nicht mehr in die Bewährungszeit und konnte demnach von der Strafvollstreckungskammer nicht als Widerrufsgrund herangezogen werden. Der Verlängerungsbeschluss vom 24.05.2022 war zu Unrecht ergangen, was im vorliegenden Widerrufsverfahren incident mit zu prüfen ist.

(1) In der Rechtsprechung unbestritten ist, dass Verstöße gegen Auflagen und Weisungen gemäß § 56b StGB und § 56c StGB im Rahmen des Bewährungsverfahrens nur dann zum Widerruf der Strafaussetzung führen können, wenn sie rechtlicher Nachprüfung standhalten. (MüKoStGB/Groß/Kett-Straub, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f, beck-online; Hubrach in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Auflage, § 56f StGB, Rn. 18; OLG Hamm, Beschluss vom 18. Juli 2017 – III-3 Ws 301/17; KG Berlin, Beschluss vom 30. Oktober 2020 – 5 Ws 198-199/20 -, jeweils juris). Denn nach dem Rechtsstaatsprinzip können derart einschneidende Entscheidungen nur auf rechtlich einwandfreier Grundlage getroffen werden (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 12. Februar 1993 – 1 Ws 73 – 75/93 -, juris). Das Gericht ist deshalb im Widerrufsverfahren gehalten, von Amts wegen prüfen, ob die erteilten Weisungen und Auflagen überhaupt rechtlich zulässig sind, auch wenn der Verurteilte die Weisung nicht angefochten oder beanstandet hatte (OLG Frankfurt, Beschluss vom 23. März 2010 – 3 Ws 241/10 -, juris; OLG Zweibrücken, a.a.O.).

(2) Dieselben Grundsätze gelten, wenn das Gericht für die Widerrufsentscheidung auf Widerrufsgründe in Form von begangenen Auflagen- bzw. Weisungsverstößen oder Straftaten (§ 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis Nr. 3 StGB) zurückgreift, die nur deshalb „formal“ in die Bewährungszeit fallen, weil diese zwischenzeitlich – in unzulässiger Weise – verlängert worden ist. Dies ist anerkannt insbesondere in Fällen, in denen die Bewährungszeit unrechtmäßiger Weise über das gesetzlich in § 56f Abs. 2 S. 2 StGB vorgesehene Höchstmaß hinaus verlängert worden ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 14. Juni 2000 – 2 Ws 147-149/2000 -, juris).

(3) Nichts anderes kann aufgrund der vergleichbaren prozessualen Ausgangssituation gelten, wenn zwar nicht die gesetzliche Höchstfrist überschritten worden ist, der formell wirksame Verlängerungsbeschluss hingegen aus anderen Gründen einer rechtlichen Überprüfung nicht standhält. Ein Verlängerungsbeschluss, der auf keiner bzw. einer rechtswidrigen Grundlage beruht, kann keine Basis für einen Widerruf der Strafaussetzung sein. Es wäre nämlich unverhältnismäßig, insbesondere mit dem Freiheitsgrundrecht eines Verurteilten nicht vereinbar, die Strafaussetzung zu widerrufen, obwohl die materiellen Voraussetzungen für einen Bewährungswiderruf nicht gegeben sind. (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 06. Oktober 2011 – 1 Ws 151/11, beck-online in einem Fall, in dem die zur Verlängerung führende „Anlasstat“ nicht strafbar war vgl. aus Hurbach in LK-StGB, 13 Auflage, § 56f, Rn. 46). Dafür, dass inzident im Rahmen der Widerrufsentscheidung auch die Zulässigkeit einer vorherigen Verlängerungsentscheidung zu prüfen ist, spricht schließlich aber auch, dass der Verlängerungsbeschluss jederzeit bereits auf die einfache – fristungebundene – Beschwerde des Verurteilten gemäß § 453 Abs. 2 StPO der Aufhebung unterliegt. Einem Widerruf der Strafaussetzung wegen einer innerhalb der unzulässig verlängerten Bewährungszeit begangenen Verfehlung im Sinne der § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis Nr. 3 StGB ist damit von vornherein die Grundlage entzogen. Zugunsten des Beschwerdeführers dürfte jedenfalls in entsprechender Anwendung des Rechtsgedankens des § 300 StPO und im Sinne eines effektiven Rechtsschutzes davon auszugehen sei, dass er (spätestens) mit seiner sofortigen Beschwerde gegen die Widerrufsentscheidung zugleich auch eine Überprüfung der zugrundeliegenden Verlängerungsentscheidung im Rahmen einer notfalls zugleich eingelegten einfachen Beschwerde begehrt, so dass eine Inzidentprüfung der Zulässigkeit der Verlängerungsentscheidung auch aus diesem Grunde zwingend erscheint.

bb) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe erweist sich im vorliegenden Fall der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bielefeld vom 24. Mai 2022, mit dem die am 21. September 2022 endende Bewährungszeit um weitere 2 Jahre, mithin bis zum 21. September 2024, verlängert worden ist, als rechtswidrig. Denn die Verlängerungsentscheidung beruht ausschließlich auf der durch Urteil des Amtsgerichts Castrop-Rauxel vom 26. August 2021 festgestellten Straftat vom 30. Dezember 2019. Ebenjenen Verlängerungsgrund hatte die Strafvollstreckungskammer allerdings bereits in ihrem zuvor gefassten Verlängerungsbeschluss vom 04. November 2021 herangezogen.

Ein Bewährungsverstoß, der in der Vergangenheit bereits Anlass für eine gerichtliche Maßnahme nach § 56f Abs. 2 StGB war, ist indessen „verbraucht“ und steht daher als alleinige Grundlage für eine spätere Entscheidung nicht mehr zur Verfügung (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 2. Juli 1996 – 3 Ws 552/96 -, juris), es sei denn, er ist – was hier aber nicht der Fall ist – erst nachträglich bekannt geworden (vgl. Hubrach in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Auflage, § 56f StGB Rn. 45 mit Verweis u. a. auf OLG Karlsruhe Beschluss vom 09. März 2020 – 3 Ws 34/20-, juris). Der Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 24. Mai 2022 erweist sich deshalb als rechtswidrig und konnte eine Verlängerung der Bewährungszeit tatsächlich nicht bewirken.

Da die Bewährungszeit vor diesem Hintergrund bereits am 21. September 2022 endete, konnte der mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bielefeld vom 19. Juni 2024 ausgesprochene Widerruf nicht auf die deutlich später, nämlich am 11. Oktober 2023 begangene und damit außerhalb der Bewährungszeit liegende Straftat gestützt werden.

b) Soweit die Strafvollstreckungskammer in ihrem angefochtenen Beschluss zur Begründung des Widerrufs ergänzend auf ein weiteres laufendes Strafverfahren Bezug nimmt, in dem am 11. Dezember 2023 gegen die Beschwerdeführerin Anklage beim Amtsgericht Wuppertal erhoben worden ist, kann hierauf ein Widerruf der Strafaussetzung nicht gestützt werden, weil kein Widerrufsgrund vorliegt. Zum einen ist das Strafverfahren nach Angaben der Bewährungshelferin in ihrem Bericht vom 07. Juni 2024 bereits am 27. Mai 2024 nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Zum anderen betraf die Anklage einen Diebstahlvorwurf vom 03. August 2023, der mithin ebenfalls außerhalb der Bewährungszeit liegt.

2. Die Strafvollstreckungskammer wird nach Maßgabe der obigen Ausführungen nunmehr zu prüfen haben, ob anderweitige – ggfls. noch nicht aktenkundige – Widerrufsgründe bestehen oder aber die zur Bewährung ausgesetzte Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Wuppertal vom 26. August 2015 aufgrund der abgelaufenen Bewährungszeit nunmehr gemäß § 56g Abs. 1 StGB erlassen ist.“

Bewährung II: Anforderungen an „Legalprognose“, oder: Was sind „besondere Umstände“?

© rcx – Fotolia.com

Im zweiten Posting komme ich dann noch einmal auf das OLG Hamm, Urt. v. 19.09.2024 – 5 ORs 37/24 – zurück, über das ich neulich schon berichtet hatte (vgl. Strafe III: TOA nach Böllerwurf im Fußballstadion, oder: Wiedergutmachung bei mehreren Geschädigten?). In der Entscheidung hat das OLG auch zur Frage der Bewährung, und zwar sowohl zur „Legalsprognose“ als auch zum Vorliegen „besonderer Umstände“ i.S. von § 56 Abs. 2 StGB  Stellung genommen, und zwar wie folgt:

„c) Schließlich hat das Landgericht auch die Strafaussetzung zur Bewährung nicht rechtsfehlerfrei begründet. Auch bezüglich der Strafaussetzung zur Bewährung kann das Revisionsgericht nur unter den oben genannten Voraussetzungen zur Strafzumessung eingreifen (OLG Hamm, Urteil vom 21.03.2017 – III-4 RVs 18/17 -, Rn. 15, juris). Vorliegend erweist sich sowohl die Beurteilung der Legalprognose nach § 56 Abs. 1 StGB als auch die Bejahung der besonderen Umstände nach § 56 Abs. 2 StGB als rechtsfehlerhaft.

aa) Nach § 56 Abs. 1 StGB ist eine Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, wenn zu erwarten ist, dass der Angeklagte sich schon die Verurteilung selbst zur Warnung dienen lassen und auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Grundlage der Prognose des Tatgerichts müssen sämtliche Umstände sein, die Rückschlüsse auf die künftige Straflosigkeit des Angeklagten ohne Einwirkung des Strafvollzugs zulassen, insbesondere die in § 56 Abs. 1 S. 2 StGB „namentlich“ aufgeführten. Dabei ist für die günstige Prognose keine sichere Erwartung eines straffreien Lebens erforderlich. Es reicht schon die durch Tatsachen begründete Wahrscheinlichkeit aus, dass der Angeklagte künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird (ständige Rechtsprechung; zuletzt: OLG Braunschweig, Urteil vom 22.03.2023 – 1 Ss 40/22 -, Rn. 40, juris).

bb) Besondere Umstände im Sinne im Sinne von § 56 Abs. 2 StGB sind solche, die im Vergleich mit gewöhnlichen, durchschnittlichen, allgemeinen oder einfachen Milderungsgründen von besonderem Gewicht sind und eine Strafaussetzung trotz des erheblichen Unrechtsgehalts und Schuldgehalts der Taten, wie er sich in der Höhe der Strafe widerspiegelt, als nicht unangebracht und den vom Strafrecht geschützten Interessen nicht zuwiderlaufend erscheinen lassen. Dazu können auch solche gehören, die schon für die Prognose nach § 56 Abs. 1 StGB zu berücksichtigen waren. Wenn auch einzelne durchschnittliche Milderungsgründe eine Aussetzung nicht rechtfertigen, verlangt § 56 Abs. 2 StGB keine „ganz außergewöhnlichen“ Umstände. Vielmehr können sich dessen Voraussetzungen auch aus dem Zusammentreffen durchschnittlicher Milderungsgründe ergeben. Die besonderen Umstände müssen jedoch umso gewichtiger sein, je näher die Strafe an der Obergrenze von zwei Jahren liegt. Bei der Prüfung ist eine Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Angeklagten in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise vorzunehmen (ständige Rechtsprechung; zuletzt: OLG Braunschweig, Urteil vom 22.03.2023 – 1 Ss 40/22 -, Rn. 45, juris).

cc) Ausgehend von diesem Maßstab hält weder die Beurteilung der Legalprognose noch die Bejahung besonderer Umstände rechtlicher Nachprüfung stand.

Es lässt sich bereits nicht nachvollziehen, aus welchen Gründen das Landgericht von einer Stabilisierung der familiären Verhältnisse des Angeklagten ausgegangen ist. Nach den persönlichen Feststellungen ist der Angeklagte stets einer geregelten Tätigkeit nachgegangen und war bereits im Tatzeitpunkt Vater einer Tochter. Dass er gegenwärtig mit seinem Einkommen zum Familienunterhalt beiträgt und zwischenzeitlich Vater eines Sohnes geworden ist, hat seine Lebenssituation nicht grundlegend verändert.

Ferner erschließt sich nicht, aus welchen Gründen das Landgericht meint, dass der Angeklagte nunmehr seine Alkoholproblematik im Griff habe. Diesbezüglich wird lediglich ausgeführt, dass dieser auf Alkohol verzichte und psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen habe. Weder werden der Umfang und der Behandlungsverlauf der psychotherapeutischen Unterstützung dargelegt, noch wird die Einlassung des Angeklagten, dass er mittlerweile keinen Alkohol mehr trinke, sowie die Belastbarkeit einer etwaigen Alkoholabstinenz kritisch überprüft.

Schließlich wird den verfestigten kriminellen Neigungen des Angeklagten zu geringe Bedeutung beigemessen. So stand der mehrfach vorbestrafte Angeklagte im Tatzeitpunkt nicht nur in zwei Strafverfahren unter laufender Bewährung, so dass ihm gleich doppeltes Bewährungsversagen zur Last fällt. Er hat zudem nach seiner Haftverschonung im Februar 2022 bereits im August 2022 eine weitere Straftat begangen. Hierdurch hat er eindrücklich seine rechtsfeindliche Einstellung dokumentiert. Damit liegen ganz erhebliche Strafschärfungsgründe vor. Diese stehen ersichtlich nicht nur einer positiven Legalprognose im Sinne von § 56 Abs. 1 StGB, sondern auch Milderungsgründen von besonderem Gewicht im Sinne von § 56 Abs. 2 StGB entgegen.“

Bewährung I: Erörterungen der Wirkungen der U-Haft, oder: Anforderungen an die Kriminalprognose

Bild von nvodicka auf Pixabay

Am Monatsende kommen dann heute hier drei Postings zur Bewährung.

Als erste Entscheidung kommt der BGH, Beschl. v. 16.07.2024 – 2 StR 263/24. Das LG hat den Angeklagten wegen versuchter Nötigung „in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt und von einem weiteren Vorwurf freigesprochen. Dagegen die Revision des Angeklagten, mit der er hinsichtlich der Frage der Bewährung Erfolg hatte:

„Rechtlich zu beanstanden ist aber, unbeschadet des hierbei bestehenden Beurteilungsspielraums des Tatgerichts (vgl. BGH, Urteil vom 10. Februar 2022 – 1 StR 437/21, StV 2022, 642, 643 Rn. 5 mwN), die Versagung der Strafaussetzung zur Bewährung.

1. Die Strafkammer hat eine positive „Sozialprognose“ im Sinne des § 56 Abs. 1 StGB verneint. Sie hat zu Ungunsten des Angeklagten ausgeführt, er sei zwar in Deutschland bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten, sei aber nach der Außervollzugsetzung des Haftbefehls im Juni 2022 den ihm erteilten Weisungen – bei denen es sich um solche nach § 116 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 StPO handelte – nicht nachgekommen. Auch für die Annahme des Fehlens besonderer Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB falle entscheidend zu Lasten des Angeklagten ins Gewicht, dass keine positive „Sozialprognose“ bestehe.

2. Diese Begründung leidet an einem rechtlich erheblichen Erörterungsmangel. Obschon das Landgericht den Angeklagten im Rahmen der Strafzumessung als haftempfindlich behandelt hat, hat es sich nicht mit möglichen spezialpräventiven Wirkungen der Untersuchungshaft befasst, die nach der erneuten Festnahme des Angeklagten zum Zeitpunkt des Urteils bereits seit über sieben Monaten andauerte (vgl. BGH, Urteil vom 10. Februar 2022 – 1 StR 437/21, StV 2022, 642, 644 Rn. 15; Beschlüsse vom 29. Mai 1990 – 5 StR 174/90 Rn. 7; vom 23. März 1995 – 4 StR 118/95, StV 1995, 414, 415, und vom 11. Januar 2022 – 6 StR 493/21, Rn. 3; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 215).

3. Der Senat sieht Veranlassung zu dem Hinweis, dass es für die Kriminalprognose gemäß § 56 Abs. 1 und 2 StGB allein darauf ankommt, ob ohne Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe zu erwarten ist, dass der Täter sich in Zukunft nicht mehr strafbar machen wird. Allgemeines Wohlverhalten wird hierfür nicht verlangt. Das Erfordernis einer „ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben“ umfassenden günstigen Sozialprognose hat das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 (BGBl. I, S. 645, 647) bereits mit Wirkung zum 1. Januar 1970 aufgegeben (BGH, Urteile vom 4. November 2021 – 6 StR 12/20, wistra 2022, 167, 172 Rn. 119, und vom 10. Februar 2022 – 1 StR 437/21, StV 2022, 642, 643 Rn. 8 mwN; MüKo-StGB/Groß/Kett-Straub, 4. Aufl., § 56 Rn. 16).

Damit ist es nicht ohne weiteres zu vereinbaren, die Verneinung einer positiven Prognose entscheidend auf den bloßen Ungehorsam des Angeklagten gegen die ihm im Rahmen der Haftverschonung erteilten Anweisungen zu stützen, ohne die Bedeutung seiner Verstöße gegen Melde- und Aufenthaltspflichten für die Erwartung künftiger straffreier Führung zu bewerten.“

Kostenentscheidung nach Entfallen der Einziehung, oder: Auswirkungen zugunsten des Angeklagten

Bild von teetasse auf Pixabay

Die zweite Entscheidung kommt dann mit dem BGH, Beschl. v. 27.08.2024 – 5 StR 240/24 – auch vom BGH. Der hat dann auch noch einmal zur Kostenentscheidung beim Entfallen einer Einziehungsanordnung Stellung genommen.

Das LG hatte den Angeklagten wegen Beihilfe zum schweren Raub und wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und gegen ihn die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 10.000 EUR angeordnet, wobei er insoweit als Gesamtschuldner haften sollte. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt; mit seiner sofortigen Beschwerde hat er die Kostenentscheidung des Urteils angegriffen, soweit ihm seine notwendigen Auslagen insgesamt auferlegt worden sind.

Der BGH hat das Urteil des LG wegen des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln und im Gesamtstrafenausspruch aufgehoben, die weitergehende Revision hat er verworfen. Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten hat er die Kostenentscheidung des LG-Urteils dahin ergänzt, dass der Angeklagte seine notwendigen Auslagen hinsichtlich der Einziehung nur insoweit trägt, als diese angeordnet worden ist; im Übrigen trägt diese Auslagen die Staatskasse. Im Umfang der Aufhebung hat der BGH dann die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision und der sofortigen Beschwerde, an das LG zurückverwiesen:

„4. Die sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung des angefochtenen Urteils hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg.

Für die Verteidigung gegen die Einziehung ist dem Verteidiger eine zusätzliche Gebühr nach Nr. 4142 der Anlage 1 Teil 4 Abschnitt 1 Unterabschnitt 5 zum RVG (im Folgenden VV-RVG) entstanden, die – in Abweichung vom allgemeinen strafprozessualen Vergütungssystem nach Pauschalsätzen – nach dem (Gegenstands-)Wert der Einziehung berechnet wird (§§ 13, 49 RVG). Dieser betrug entsprechend der Anklageschrift mehr als 217.000 Euro; aus diesem Wert ist die Gebühr zu berechnen (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 26. Oktober 2023 – 3 Ws 66/23). Tatsächlich eingezogen wurde bei dem Angeklagten aber nur ein Betrag in Höhe von 10.000 Euro; insoweit wäre eine geringere Gebühr angefallen (vgl. Anlage 2 RVG zu § 13 Abs. 1 Satz 3 RVG; § 49 RVG).

Das – hier weitgehende – Entfallen der von der Staatsanwaltschaft begehrten Einziehungsanordnung muss sich, wenn die Tragung der gesamten Kosten (vgl. § 465 Abs. 1 StPO) durch den Angeklagten unbillig wäre, bei der Kostenentscheidung zugunsten des Angeklagten auswirken (BayObLG, StraFo 2024, 74, 75; vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 14. Oktober 2020 – 5 StR 229/19; vom 25. Februar 2021 – 1 StR 423/20, NJW 2021, 1829; vom 13. Oktober 2021 – 4 StR 270/21 Rn. 2; vom 1. Februar 2024 – 5 StR 93/23, wistra 2024, 344, 345). Dies hat der Senat nach dem Rechtsgedanken des § 465 Abs. 2 Satz 2 StPO für die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens jedenfalls dann zu beachten, wenn – wie hier – eine zulässige Kostenbeschwerde erhoben ist und die tatgerichtliche Einziehungsanordnung aus Rechtsgründen niedriger als ursprünglich beantragt ausfällt, ohne dass von der Einziehung nach § 421 StPO abgesehen wird (zur Behandlung der Kosten im Revisionsverfahren, insbesondere wenn nach § 421 StPO von der Einziehung abgesehen wird BGH, Beschlüsse vom 26. Mai 2021 – 5 StR 458/20, NStZ-RR 2021, 229, 230; vom 8. Dezember 2021 – 5 StR 296/21, NStZ-RR 2022, 160; vgl. zur Kostenentscheidung bei Absehen von der Einziehung auch KG Berlin, wistra 2024, 130, 131).

Hier wäre es unbillig, den Angeklagten mit den gesamten Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens zu belasten, weil die Entscheidung über die Einziehung in erheblichem Umfang zu seinen Gunsten ausgegangen ist und durch die ursprüngliche Beantragung höhere notwendige Auslagen nach § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO entstanden sind. Da diese Kosten mit Blick auf ihre zusätzliche Entstehung (vgl. Nr. 4142 VV-RVG) ohne weiteres identifizier- und bezifferbar sind, hat der Senat insoweit eine Entscheidung über die Kostentragungspflicht getroffen und von einer Verteilung nach Bruchteilen (vgl. § 464d StPO) abgesehen. Der Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung steht dem nicht entgegen, da sich für das Strafverfahren und das vermögensordnende, quasi-kondiktorische Einziehungsverfahren (vgl. Habetha, NJW 2021, 1830, 1831) mit Fest- und Wertgebühren unterschiedliche Gebühren- und Vergütungssysteme gegenüberstehen (vgl. BayObLG, StraFo 2024, 74, 79).“

Die Entscheidung liegt auf der Linie der obergerichtlichen Rechtsprechung in der Frage. Diese hat für den Angeklagten und auch den Verteidiger erhebliche Bedeutung, da er, wenn der Staatskasse ein Teil der notwendigen Auslagen auferlegt wird, diese gegenüber der Staatskasse geltend machen kann, wobei er – als Pflichtverteidiger –  nicht an die Beschränkungen aus § 49 RVG gebunden ist.

Interessant ist die Entscheidung des BGH auch wegen der Ausführungen zum Gebührenanspruch des Verteidigers. Denn mit denen bestätigt der BGH – inzidenter – noch einmal die h.M. in der Rechtsprechung. wonach sich die Höhe der Verfahrensgebühr Nr. 4142 VV RVG nach den zum Zeitpunkt des Entstehens der Gebühr erkennbaren Anhaltspunkten in der Verfahrensakte richtet.

Kann man übrigens alles nachlesen bei <<Werbemodus an>> Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021 <<Werbemodus aus>>.

SV I: Sachverständigengutachten im Urteil, oder: Unterbringung in einer Entziehungsanstalt

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Und heute dann drei Entscheidungen zum Sachverständigen bzw. zu Sachverständigenfragen.

Ich beginne mit dem OLG Braunschweig, Beschl. v. 02.09.2024 – 1 ORs 24/24. Der verhält sich zur Unterbringung nach § 64 StGB nach neuem Recht. Insoweit hier nur mein Leitsatz:

Für die festzustellende Erfolgsaussicht nach § 64 Satz 2 StGB n.F. ist es nunmehr erforderlich, dass der Behandlungserfolg „aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu erwarten“ ist. Die Anforderungen an eine günstige Behandlungsprognose sind „moderat angehoben“ worden, indem nunmehr eine „Wahrscheinlichkeit höheren Grades“ gegeben sein muss; im Übrigen bleibt es dabei, dass die Beurteilung der Erfolgsaussicht im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen maßgebenden Umstände vorzunehmen ist.

Und zu der Sarstellung eines Sachverständigengutachtens im Urteil bekräftigt das OLG noch einmal die ständigen Rechtsprechung der Obergerichte in der Frage, nämlich:

Den Ausführungen des Landgerichts lässt sich indes die gebotene Auseinandersetzung mit den festgestellten prognoseungünstigen wie auch prognosegünstigen Faktoren nicht entnehmen.

„Das Landgericht hat insoweit der „grundsätzlich vorhandenen Therapiewilligkeit des Angeklagten“ als (einzigem) prognosegünstigen Umstand „insbesondere die zahlreichen erfolglosen Therapieversuche in den letzten Jahren“ sowie den Umstand, dass „selbst im hochstrukturierten Setting der stationären Therapie kein konkreter Behandlungserfolg habe erzielt werden können“ als gegen eine günstige Behandlungsprognose sprechenden Umstände gegenübergestellt. Im Übrigen hat die Kammer zu der fehlenden Erfolgsaussicht (nur) ausgeführt, dass nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen, denen sich die Kammer nach eigener kritischer Würdigung anschließe, keine tatsächlich begründete Erwartung eines Behandlungserfolgs einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gern. § 64 StGB bestehe (UA S. 16). Schließt sich der Tatrichter – wie hier – den Ausführungen eines Sachverständigen an, müssen dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 19. Januar 2017, 4 StR 595/16, juris, Rn. 8; vom 28. Januar 2016, 3 StR 521/15, juris, Rn. 4.; vom 27. Januar 2016, 2 StR 314/15, juris, Rn. 6; vom 17. Juni 2014, 4 StR 171/14, juris, Rn. 7). Daran fehlt es hier.“