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Rechtsfolge II: „Du hast nicht Abstand genommen“, oder: Unzulässige Doppelverwertung

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Doppelt, Kurve

Im zweiten Posting jetzt der BGH, Beschl. v. 23.05.2023 – 2 StR 428/22, eine klassische „Strafzumessungsentscheidung“.

Das LG hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Der Angeklagte hatte mit seiner Revision hinsichtlich der Rechtsfolgen Erfolg:

„3. Hingegen begegnet der Strafausspruch durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Soweit die Strafkammer zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt hat, des sich über einen langen, mehrere Stunden andauernden Tatzeitraums habe ihm – trotz seines eingeschränkten Konfliktbewältigungspotentials – zahlreiche Gelegenheiten geboten, von der Einwirkung auf seine Lebensgefährtin Abstand zu nehmen, besorgt der Senat, dass das Landgericht damit fehlerhaft dem Angeklagten entgegen § 46 Abs. 3 StGB zur Last gelegt hat, dass er die Tat überhaupt vollendete, anstatt davon Abstand zu nehmen und damit vom Versuch der Tötung zurückzutreten (vgl. BGH, Beschluss vom 27. November 2019 – 5 StR 467/19; ausf. mit weiteren Nachweisen zur Rspr. MK-Maier, StGB, 4. Aufl., § 46, Rn. 540). Das Landgericht beschränkt sich insoweit – wie die weitere Formulierung belegt, der Angeklagte habe sich über offenkundige, körperliche Ausfallerscheinungen hinweggesetzt, ohne sich hierdurch in seiner Tatbegehung beirren zu lassen – nicht lediglich darauf, das Tatunrecht in seiner konkreten Ausgestaltung in den Blick zu nehmen. Vielmehr würdigt es zu Lasten des zunächst mit Körperverletzungsvorsatz handelnden Angeklagten, dass dieser schließlich den Todeserfolg vorsätzlich herbeigeführt hat. Dies verstößt gegen § 46 Abs. 3 StGB.

b) Im Hinblick auf die Erwägung des Landgerichts, der Angeklagte habe seiner Tochter durch die Tat seine Mutter genommen, berücksichtigt es das mit nahezu jeder Tötung einhergehende Leid der Angehörigen. Dies stellt – wenn es sich nicht um besondere Auswirkungen der Tat handelt – keinen Strafschärfungsgrund dar (st. Rspr.; vgl. Senat, NJW 2017, 1253, 1255; zuletzt BGH, Urteil vom 4. April 2023 – 1 StR 488/22).“

OWi I: Hier mal wieder Fortbildung durch das OLG, oder: Die Grundsätze der Lichtbildidentifizierung

Heute will ich dann mal wieder drei OLG-Entscheidungen zu OWi-Fragen vorstellen, die bei mir in den letzten Tagen eingetrudelt sind. Alle drei Entscheidungen enthalten aber nichts Neues, sondern behandeln Fragen, die in der Rechtsprechung der OLG schon länger geklärt sind.  Was mich bei solchen Entscheidungen immer wundert, ist der Umstand, dass diese „alte“ Rechtsprechung offenbar aber nicht bei allen AG angekommen bzw. dort bekannt ist, ich will nicht behaupten, dass man sie kennt, aber nicht beachtet.

Ein „schönes“ Beispiel ist der gleich die erste Entscheidung, der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.07.2023 – 1 ORBs 77/23. Das AG hat den Betroffenen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 600,00 EUR verurteilt und ein dreimonatiges Fahrverbot verhängt. Dagegen wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, die beim OLG Erfolg hat. Dem OLG reichen die Ausführungen des AG zur Täteridentifizierung nicht:

„Das zulässige Rechtsmittel hat schon mit der Sachrüge (jedenfalls vorläufig) Erfolg, so dass es eines Eingehens auf die zugleich erhobene Verfahrensrüge nicht bedarf. Das Urteil unterliegt der Aufhebung, weil die Beweiswürdigung zur Identität des Betroffenen mit dem bei Begehung des Verkehrsverstoßes abgelichteten Fahrzeugführer lückenhaft ist und deshalb revisionsrechtlicher Überprüfung nicht standhält.

1. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts soll der Betroffene am mit einem PKW der Marke pp. statt der mit der erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h nach Abzug der an-zurechnenden Toleranz mit einer Geschwindigkeit von 172 km/h befahren haben. Seine Überzeugung von der Fahrereigenschaft des Betroffenen stützt das Amtsgericht auf folgende Erwägungen:

„Auf den Lichtbildern Seiten I, II und 1 ist das vom System PoliScan Speed gemachte Foto zu sehen, auf dem der PKW und der Fahrzeugführer gut zu erkennen sind. Der Auswerterahmen des Messgeräts liegt ordnungsgemäß auf der Front des Fahrzeuges auf und erfasst sowohl das Kennzeichen, als auch einen Teil der Fahrbahn. Auf der Ausschnittsvergrößerung, auf der der Fahrzeugführer zu erkennen ist, war der Betroffene zwanglos als Fahrzeugführer zu erkennen. Hohe Stirn, rundes Gesicht, relativ große Ohren sind die Kennzeichen, die der Fahrzeugführer aufweist, aber auch der Betroffene. Der Betroffene war für den erkennenden Richter so eindeutig zu identifizieren, dass es der Einholung eines Sachverständigengutachtens hierzu nicht bedurfte.“

Zur Sache selbst heißt es im Rahmen der Beweiswürdigung weiter:

„Nach dem in der Hauptverhandlung verlesenen Messprotokoll Blatt 3 der Akten, wurde die Messstelle ordnungsgemäß eingerichtet und es ergaben sich keine Be-sonderheiten. Nach der Übersicht der zur Tatzeit geltenden Geschwindigkeitsbegrenzung auf der variablen Anzeige Blatt 4 der Akten waren zur Tatzeit 100 km/h an der Messstelle erlaubt, wie auch sonst die gesamte Zeit, was die Frage aufwirft, welchen Sinn eigentlich die variable Anzeige hat. Das Gerät war jedenfalls geeicht., Blatt 5 der Akten, in der Hauptverhandlung auszugsweise verlesen. Eine Dienstanweisung zur Einrichtung der Messstelle gab es auch, Blatt 6 der Akten, in der Hauptverhandlung auszugsweise verlesen. Die Standorte der Verkehrszeichen ergeben sich aus der Aufstellung Blatt 7 der Akten, in der Hauptverhandlung auszugsweise verlesen, danach gab es ein Verkehrszeichen in Höhe des Kilometers 90.3 und in Höhe des Kilometers 89,2, der Standort des Messgeräts, war dann in Höhe des Kilometers 87.982. Das ist in Ordnung.”

2. Die vorstehend wiedergegebenen Ausführungen lassen nicht in der erforderlichen Weise erkennen, ob das Amtsgericht sich rechtsfehlerfrei von der Täterschaft des Betroffenen überzeugt hat.

a) Zwar hat über die Frage der Identifizierung eines Betroffenen als die auf dem Messfoto abgebildete Person allein der Tatrichter zu entscheiden. Indes müssen die Urteilsgründe so gefasst sein, dass das Rechtsbeschwerdegericht prüfen kann, ob das Messfoto überhaupt geeignet ist, die Identifizierung einer Person zu ermöglichen (BGHSt 41, 376, 382).

Zur Erfüllung dieser Anforderungen kann der Tatrichter in den Urteilsgründen auf das in der Akte befindliche Foto gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i. V. m. § 71 Abs. 1 OWiG wegen der Einzelheiten verweisen. Die Verweisung muss deutlich und zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht werden (BGH a. a. 0.; OLG Düsseldorf NZV 1994, 202; Thür. OLG NZV 2008, 165). Macht der Tatrichter von der Möglichkeit des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO Gebrauch, so sind darüberhinausgehende Ausführungen zur konkreten Beschreibung des abgebildeten Fahrzeugführers entbehrlich, wenn das Foto — weil es die einzelnen Gesichtszüge erkennen lässt — zur Identifizierung uneingeschränkt geeignet ist (BGHSt 41, 376, 383; Thür. OLG a.a.O.).

Sieht der Tatrichter hingegen von der die Abfassung der Urteilsgründe erleichternden Verweisung auf das Beweisfoto ab, so genügt es weder, wenn er das Ergebnis seiner Überzeugungsbildung mitteilt, noch, wenn er – wie hier – die von ihm zur Identifizierung herangezogenen Merkmale auflistet. Vielmehr muss er dem Rechtsmittelgericht, dem das Foto dann nicht als Anschauungsobjekt zur Verfügung steht, durch eine entsprechend ausführliche Beschreibung die Prüfung ermöglichen, ob es für eine Identifizierung geeignet ist. Das Urteil muss dann Ausführungen zur Bildqualität, insbesondere zur Bildschärfe, enthalten und die abgebildete Person oder jedenfalls mehrere ldentifizierungsmerkmale (in ihren charakteristischen Eigenarten) so präzise beschreiben, dass dem Rechtsbeschwerdegericht anhand der Beschreibung in gleicher Weise wie bei Betrachtung des Fotos die Prüfung dessen Ergiebigkeit ermöglicht wird (BGHSt 41, 376, 384 f.).

b) Gemessen an diesen Grundsätzen genügt das Urteil den Darlegungserfordernissen nicht. Es enthält weder eine wirksame Bezugnahme auf die in den Akten befindliche Kopie des Radarfotos im Sinne des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO in Verbindung mit § 71 Abs. 1 OWiG noch eine Beschreibung, die dem Senat die Prüfung ermöglicht, ob diese Kopie für eine Identifizierung geeignet ist.

c) Die Bezugnahme auf ein Radarfoto muss in den Urteilsgründen deutlich und zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht werden (BGHSt 41, 376, 382). Das muss nicht in *der Weise geschehen; dass die Vorschrift des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO angeführt und ihr Wortlaut verwendet wird, obwohl sich dieses Vorgehen als die kürzeste und deutlichste Form der Verweisung aufdrängt (Senat NZV 2007, 254, 255); OLG Hamm NStZ-RR 1998, 238 jeweils m.w.N.). Den Gründen muss aber eindeutig zu entnehmen sein, dass nicht nur der Vorgang der Beweiserhebung beschrieben, sondern durch die entsprechenden Ausführungen das Foto zum Bestandteil der Urteilsurkunde gemacht werden soll (Senat a.a.O.; OLG Hamm a.a.O.).

Hier verweist das angefochtene Urteil weder ausdrücklich auf § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO, noch verwendet es den Wortlaut dieser Vorschrift. Den Gründen kann auch sonst nicht entnommen werden, dass das Foto durch Bezugnahme Teil der Urteilsurkunde sein soll. Die bloße Mitteilung der Fundstelle in den Akten — hier: „Seiten 1, II und 1″ — reicht dazu in der Regel nicht aus (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. [2023], § 267 Rn. 8 m.w.N.). Zwar mag im Einzelfall aus der Angabe der Blattzahl darauf geschlossen werden können, dass der Tatrichter das Rechtsmittelgericht dazu auffordern wollte, sich durch die Betrachtung der an entsprechender Stelle zu findenden Abbildung einen eigenen Eindruck zu verschaffen, weil die Angabe der Fundstelle sonst keinen Sinn machen würde (so BGH Beschluss vom 28. Januar 2016 — 3 StR 425/15). Ein solches Bewusstsein kann dem Tatrichter aber nicht unterstellt werden, wenn — wie im angefochtenen Urteil — auch die Fundstellen einer Vielzahl in der Hauptverhandlung verlesener Urkunden angegeben werden, die keinesfalls durch Bezugnahme Bestandteil der Urteilsgründe werden können.

d) Die Ausführungen zum Vergleich des Betroffenen mit der auf dem Lichtbild abgebildeten Person sind für den Senat nicht nachvollziehbar, weil sie sich in einer Aufzählung dreier wenig markanter, vom Tatrichter für übereinstimmend erachteter physiognomischer Merkmale erschöpfen, im Übrigen aber weder Aufschluss über die Bildqualität geben noch die erforderliche ausführliche Beschreibung der auf dem Foto erkennbaren IdentifizierungsMerkmale der abgelichteten Person enthalten.

Aufgrund dieser nur lückenhaften Ausführungen vermag der Senat nicht zu überprüfen, ob die Verurteilung des Betroffenen zu Recht erfolgt ist.“

Also kleine Fortbildung des OLG in Sachen Identifizierung anhand eines Lichtbildes. Und zur Ablehnung von Beweisanträgen wegen Verspätung legt das OLG dann noch einen drauf:

„4. Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich ergänzend darauf hin, dass auch die mit der Verfahrensrüge beanstandete Behandlung des Beweisbegehrens rechtlichen Bedenken begegnet.

Die Ablehnung von Beweisanträgen nach § 77 Abs. 2 Nr. 2, § 244 Abs. 3, Abs. 4 S. 1 StPO hat auch im Bußgeldverfahren durch begründeten Gerichtsbeschluss zu erfolgen, wobei sich die Begründung nicht auf eine Wiedergabe des Gesetzestextes beschränken darf (BGH Beschl. v. 24.10.1979, NStZ 1981, 96 [Pf/M]; OLG Köln VRS 74, 372; 75, 119; VRS 88, 203). Mindestvoraussetzung ist, dass der Antragsteller über die zur Ablehnung führenden tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen des Gerichts aufgeklärt und dadurch in die Lage versetzt wird, die weitere Verfolgung seiner Rechte entsprechend einzurichten. (st. Rspr., vgl. etwa BGHSt. 19, 24, 26 = NJW 1963, 1788; BGH NStZ 1983, 568; OLG Düsseldorf NJW 1970, 625; OLG Köln VRS 39, 70; KG VRS 39, 434; OLG Koblenz VRS 52, 206). Darüber hinaus muss die Begründung auch so beschaffen sein, dass sie im Falle der Rechtsbeschwerde dem Rechtsbeschwerdegericht die rechtliche Überprüfung der Entscheidung ermöglicht (BGHSt. 2, 284, 286 = NJW 1952, 714; BayObLG DAR 1974 187 [Rü]).

Bei der Zurückweisung eines Beweisantrages wegen verspäteten Vorbringens (§ 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG) ist im Beschluss zu begründen, weshalb nach Auffassung des Gerichts für die späte Antragstellung kein verständiger Grund vorliegt. Zur rechtlichen Überprüfung des Beschlusses ist in der Begründung auch mitzuteilen, in welchem Verfahrensstadium der Antrag gestellt worden ist. Schließlich muss der Beschluss darlegen, dass und weshalb eine Beweiserhebung zur Aussetzung der Hauptverhandlung führen würde und dass diese Folge bei rechtzeitigem Vorbringen vermieden worden wäre.“

Vielleicht hat es ja geholfen…..

StPO III: Unglaubhafte bestreitende Einlassung, oder: „Wenn es stimmt, hättest du dich eher eingelassen.“

Smiley

Und dann noch der BGH, Beschl. v. 27.04.2023 – 5 StR 52/23 – mit einer „klassischen“ Problemati, bei der man sich wieder mal fragt: Warum?

Das LG hat den Angeklagten wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung  verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Dagegen die Revision des Angeklagten, die ein Selbstläufer ist/war. Der BGH hat aufgehoben:

„Nach den Feststellungen des Landgerichts sprach die Geschädigte den Angeklagten am 6. September 2021 auf die Zahlung seiner Schulden in Höhe von zwei Euro an. Um sie zum Forderungsverzicht zu bewegen, sprühte er ihr unvermittelt Pfefferspray ins Gesicht und forderte sie vergeblich zum Weggehen auf. Daraufhin versetzte er ihr mit der Metallschnalle seines Ledergürtels mehrere Schläge auf Kopf und Oberkörper; sie erlitt eine Platzwunde am Hinterkopf und Schwellungen an den Händen. Nach dem letzten Schlag hielt der Angeklagte es für möglich, alles getan zu haben, um die Geschädigte endgültig zum Verzicht auf ihre Forderung zu bewegen. Dies war aber entgegen seiner Erwartung nicht der Fall.

Der Angeklagte hat angegeben, er habe keine Schulden bei der Geschädigten gehabt, vielmehr habe sie ihm seinen Rucksack weggenommen. Als er sich diesen zurückholen wollte, habe sie ihn geschubst und geschlagen, so dass er zu Boden gegangen sei. Um ihre Angriffe abzuwehren, habe er sie mit dem Gürtel geschlagen.

Das Landgericht hat diese bestreitende Einlassung als unglaubhaft angesehen. Denn für den Fall, dass seine Schilderung zuträfe, sei zu erwarten gewesen, dass er diese bereits zu einem früheren Zeitpunkt des Verfahrens zu seiner Verteidigung gemacht hätte und nicht erst, nachdem er sich bereits seit über drei Monaten in Untersuchungshaft befunden hatte.

Diese Erwägung verstößt gegen den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten. Diesem kann der Zeitpunkt, zu dem er erstmals eine entlastende Einlassung vorbringt, nicht zum Nachteil gereichen.

Der Grundsatz, dass niemand im Strafverfahren gegen sich selbst auszusagen braucht, insoweit also ein Schweigerecht besteht, ist notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens. Es steht dem Angeklagten frei, sich zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen (vgl. § 136 Abs. 1 Satz 2, § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO). Macht ein Angeklagter von seinem Schweigerecht Gebrauch, so darf dies nicht zu seinem Nachteil gewertet werden. Der unbefangene Gebrauch dieses Schweigerechts wäre nicht gewährleistet, wenn der Angeklagte die Prüfung und Bewertung der Gründe für sein Aussageverhalten befürchten müsste. Deshalb dürfen weder aus einer durchgängigen noch aus einer anfänglichen Aussageverweigerung eines Angeklagten – und damit auch nicht aus dem Zeitpunkt, zu dem er sich erstmals einlässt – nachteilige Schlüsse gezogen werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 1. Juni 2022 – 1 StR 139/22 Rn. 12; vom 23. März 2021 – 3 StR 68/21 Rn. 11, jeweils mwN).

Dem Urteil lässt sich entnehmen, dass der Angeklagte sich erstmals gegenüber dem Sachverständigen geäußert hat. Dass er nicht schon früher geltend gemacht hat, in Notwehr gehandelt zu haben, darf deshalb bei der Bewertung seiner Aussage keine Berücksichtigung finden. Dieser Rechtsfehler ist auf die Sachrüge hin zu beachten (BGH, Beschluss vom 13. Oktober 2015 – 3 StR 344/15, NStZ 2016, 220).

Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei rechtsfehlerfreier Würdigung der Einlassung des Angeklagten zu einer anderen, dem Angeklagten günstigeren Überzeugung vom Tatablauf gelangt wäre (§ 337 Abs. 1 StPO).“

Oh Mann.

Verkehrsrecht I: Geschwindigkeitsfeststellung, oder: Absichtsmerkmal beim Alleinrennen

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Ich habe länger keinen „Verkehrsrechtstag“ 🙂 mehr gemacht. Den bringe ich dann heute.

Zunächst hier der KG, Beschl. v. 08.05.2023 – 3 ORs 22/23 – 161 Ss 60/23 – zur Geschwindigkeitsfeststellung beim sog. „Alleinrennens“ (§ 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB).

Das KG hat die Revision des Angeklagten nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen. Es hat zur einer Stellungnahme des Verteidigers nur „ergänzend“ Stellung genommen: nur ergänzende

„Als unproblematisch erweisen sich die äußeren Tatbestandsmerkmale des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB und der vom Landgericht festgestellte allgemeine Tatbestandsvorsatz. Die Feststellungen rechtfertigen auch die Bewertung der Tat als rücksichtslos. Der Erörterung bedarf lediglich Folgendes:

1. Im Grundsatz zutreffend problematisiert die Revision, dass die vom Landgericht festgestellten Geschwindigkeiten von zunächst 120 km/h, dann 149 km/h, hiernach wieder 120 km/h und schließlich 177 km/h (bei erlaubten 80 km/h) unorthodox festgestellt worden sind. Denn das Urteil teilt zwar mit, das „geeichte Messgerät ProViDa“ sei im verfolgenden Polizeifahrzeug eingeschaltet gewesen, „um die gefahrene Geschwindigkeit zu messen und hierüber die Geschwindigkeit des Angeklagten zu bestimmen“ (UA S. 5). Die Urteilsgründe verhalten sich aber nicht zum mit dem geeichten Gerät verwendeten Messverfahren (ProViDa), ein elektronisches Messverfahren zur Bestimmung der Durchschnittsgeschwindigkeit von Fahrzeugen. Die Gründe enthalten auch nichts zu der, wie senatsbekannt, hiermit üblicherweise verbundenen Auswertung durch eine so genannte Videodistanzanalysesoftware (ViDistA) und namentlich nichts dazu, welche (Durchschnitts-) Geschwindigkeit über dieses standardisierte Messverfahren gegebenenfalls beweissicher ermittelt worden ist. Vielmehr weisen die Urteilsfeststellungen nur aus, welche Werte der polizeiliche Zeuge auf dem Gerätedisplay situativ abgelesen hat. Diese belegen aber für sich betrachtet und ohne Weg-Zeit-Berechnung nur die vom Polizeifahrzeug gefahrene Geschwindigkeit, hingegen nicht diejenige des vorausfahrenden Angeklagten.

Diese Darstellung erweist sich aber im Ergebnis als nicht rechtsfehlerhaft. Es gibt nämlich keinen Numerus Clausus der Verfahren zur Geschwindigkeitsermittlung. Es besteht auch keine Regel, der zufolge ein Messverfahren ausschließlich seiner (komplexen) Bestimmung nach verwendet werden darf. Vielmehr gilt auch hier der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO), welche für das Revisionsgericht nachvollziehbar darzulegen ist (§ 267 Abs. 1 StPO).

Die sich hieraus ergebenden Anforderungen erfüllt das Urteil. Es teilt nämlich mit, dass sich der zunächst „etwa gleichbleibende Abstand“ des verfolgenden Polizeifahrzeugs zum vom Angeklagten geführten PKW Porsche 911 im Zeitpunkt des Ablesens des höchsten Geschwindigkeitswertes (177 km/h) noch vergrößerte (UA S. 4 und 6 oben). Da das Urteil auch angibt, dass das Messgerät geeicht war (UA S. 5), kann der Senat die Bewertung des Landgerichts nachvollziehen, der Angeklagte habe gegen Ende der etwa 3.500 Meter langen Strecke tatsächlich die Geschwindigkeit von 177 km/h erreicht. Der Einwand der Revision, „dass Tachometer immer vorgestellt sind“ (RB S. 2), geht angesichts der festgestellten Eichung hier fehl.

2. Die Feststellungen weisen auch aus, dass der Angeklagte in der Absicht handelte, „eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“ (§ 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB) (UA S. 3). Dass die Strafkammer hierbei eine Formulierung verwendet, die fast dem Gesetzeswortlaut entspricht, ist hinzunehmen. Zum einen wird die gesetzliche Phrase um tatsächliche Merkmale ergänzt („mit seinem hochmotorisierten PKW über eine längere Wegstrecke bei der konkret vorliegenden Verkehrslage“ [UA S. 3]). Zum anderen enthält auch die Beweiswürdigung weitere tatsächliche Eigenschaften des gesetzlichen Absichtsmerkmals (hierzu nachfolgend).

3. Die Absicht, „eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“, wird auch durch die Beweiswürdigung getragen.

a) Zur Erfüllung des tatbestandlichen Absichtsmerkmals muss der Täter nicht das Ziel verfolgen, die Möglichkeiten seines Fahrzeugs „voll auszureizen“. Ein solches Erfordernis würde den Täter, der ein hochmotorisiertes Fahrzeug führt und sehr hohe Geschwindigkeiten erreichen kann, ohne an das Limit der technischen Leistungsfähigkeit zu gehen, unangemessen und sinnwidrig begünstigen (vgl. Senat NZV 2019 314 [m. zust. Anm. Quarch]). Das Gesetz stellt hier auf die „relativ höchstmöglich erzielbare Geschwindigkeit“ ab (vgl. Senat a.a.O.; BeckOK StGB/Kulhanek, 56. Ed., § 315d Rn. 35; MüKo/Pegel, StGB 4. Aufl., § 315d Rn. 26; vgl. auch BT-Drs. 18/12964, 5). Dies fasst insbesondere die fahrzeugspezifische Beschleunigung und Höchstgeschwindigkeit (wobei diese nicht erreicht sein muss), das subjektive Geschwindigkeitsempfinden, die Verkehrslage und die Witterungsbedingungen zusammen (BT-Drs. 18/12964, 5, vgl. auch Senat a.a.O.). Auf diese Weise sollen der nachgestellte Renncharakter manifestiert, bloße Geschwindigkeitsüberschreitungen hingegen nicht von der Strafbarkeit umfasst werden, auch wenn sie erheblich sind (BT-Drs. 18/12964, 6). Gerade nicht erforderlich ist demnach, dass der Täter tatsächlich mit der fahrzeugspezifisch höchstmöglichen Geschwindigkeit gefahren ist (vgl. Schönke/Schröder/Hecker, StGB 30. Aufl., § 315d Rn. 9).

b) Nachvollziehbar hat die Strafkammer aus der nach außen erkennbar gewordenen Fahrweise des Angeklagten auf die nach diesen Maßgaben bestimmte Absicht geschlossen, „eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“. Als tatsächlich zweifelhaft mag dabei erscheinen, ob die frappierend hohe und die zulässige Höchstgeschwindigkeit um fast 100 km/h und mehr als 120% überschreitende Geschwindigkeit allein eine tragfähige Grundlage gewesen wäre, auf das gesetzliche Absichtsmerkmal zu schließen. Das Landgericht hat seine Schlussfolgerung auf die innere Tatseite aber auf weitere äußere Umstände gestützt. Zum einen hat es eine äußerst bedrängende Fahrweise festgestellt: Der Angeklagte fuhr nämlich über einen Großteil der Strecke mit einem Abstand von nur 20 bis 25 Meter hinter einem PKW, wobei letzterer nach dem ersten „Auffahren“ des Angeklagten von 120 auf 149 km/h beschleunigt wurde (UA S. 3). Zum anderen beschleunigte der Angeklagte sein Fahrzeug „sofort stark“ (UA S. 4) von 120 auf 177 km/h, nachdem das vorausfahrende Fahrzeug die linke Fahrspur verlassen hatte. Eine noch höhere Geschwindigkeit, so teilt das Urteil als glaubhafte Bekundung des polizeilichen Zeugen mit, sei „in Anbetracht der Verkehrslage“ unmöglich gewesen (UA S. 6). Der Zusammenhang der Feststellungen legt zudem nahe, dass dem Angeklagten eine noch höhere Geschwindigkeit auch deshalb nicht möglich gewesen wäre, weil er nach Erreichen der 177 km/h die Autobahn an der Anschlussstelle Späthstraße verließ. Dies räumt auch, ohne dass es darauf ankäme, die Verteidigung in ihrer Stellungnahme vom 3. Mai 2023 ein. Die Einwendung der Revision, „ein Porsche“ sei technisch in der Lage, „höchste Geschwindigkeiten (bis über 300 km/h) zu halten“ (RB S. 2), mag sachlich allgemein zutreffen, geht aber an den hier getroffenen tatsächlichen Feststellungen, nach denen eine höhere Geschwindigkeit als 177 km/h situationsbedingt nicht möglich war, vorbei. Unverständlich bleibt in diesem Zusammenhang auch die Erklärung der Revision, die vom Angeklagten erreichte Geschwindigkeit sei „erforderlich“ gewesen, um „die nächste Ausfahrt zu erreichen“ (Gegenerklärung vom 3. Mai 2023).

c) Die durch das Landgericht vom äußeren Tatgeschehen auf die „Höchstgeschwindigkeitserzielungsabsicht“ gezogene Schlussfolgerung erweist sich damit als möglich und vertretbar. Sie entzieht sich mithin revisionsrechtlicher Intervention.“

 

 

 

Bewährung I: Zweimal „besondere Umstände“, oder: Bewährungsgrund- und Reststrafenaussetzung

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Heute dann ein Tag mit Bewährungsentscheidungen.

Zunächst hier dann zwei Entscheidungen zu „besonderen Umständen“, und zwar einmal zu § 56 Abs. 2 StGB – also „Bewährungsgrundaussetzung“ – und einmal zu § 57 Abs. 2 StGB – also Reststrafenaussetzung. Und zwar:

1. Die Beurteilung, ob besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB vorliegen, die für die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr erforderlich sind, hat das Tatgericht aufgrund einer Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Angeklagten vorzunehmen.

2. Besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB sind Milderungsgründe von besonderem Gewicht, was sich auch aus dem Zusammentreffen durchschnittlicher Milderungsgründe ergeben kann.

3. Die Versagung einer Strafaussetzung zur Bewährung hält der revisionsgerichtlichen Nachprüfung nicht stand, wenn das Tatgericht trotz Vorliegens mehrerer gewichtiger Milderungsgründe diesen ohne Begründung von vornherein jede Bedeutung für die nach § 56 Abs. 2 StGB zutreffende Entscheidung abspricht und auch die gebotene Gesamtbetrachtung unterlässt.

4. Will das Tatgericht die Versagung einer Strafaussetzung zur Bewährung darauf stützen, dass die Verteidigung der Rechtsordnung die Vollstreckung der Freiheitsstrafe im Sinne des § 56 Abs. 3 StGB gebietet, ist auch hierfür eine umfassende Gesamtwürdigung von Tat und Täter erforderlich.

Ergibt das kriminalprognostische Gutachten, dass die positive Entwicklung des Verurteilten während des Strafvollzuges erheblich über das Maß hinausgeht, was zur Erstellung einer günstigen Prognose erforderlich ist, kann – insbesondere bei Zusammentreffen mit weiteren Milderungsgründen – auch das Vorliegen besonderer Umstände im Sinne des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB zu bejahen sein.