Archiv der Kategorie: Straßenverkehrsrecht

OWi I: 3 x VerfGH BW zur Einsicht in Messunterlagen, oder: ESO ES 3.0, PoliScan Speed Ml., TraffiStar S 330

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Und dann geht es weiter mit einem OWi-Tag.

Den eröffne ich heute mit drei Entscheidungen des VerfGH Baden-Württemberg noch einmal/immer noch zur Einsicht in Messunterlagen durch den Verteidiger. Mich erstaunt, dass die mit dem – vom BVerfG zumindest teilweise bejahten Einsichtsrecht des Verteidigers/Betroffenen  zusammenhängenden Fragen in der Praxis immer noch eine Rolle spielen und dass die Rechtsprechung der Verfassungsgerichte an der Stelle immer noch nicht umgesetzt wird. Denn wäre das der Fall, müssten nicht immer wieder doch auch noch die Verfassungsgerichte eingesetzt werden. Das zeigen diese drei aktuelle Entscheidungen des VerfGH Baden-Württemberg vom 27.01.2025.

Ich stelle hier nun die in einigen Passagen wortgleichen Beschlüsse nicht einzelnen ein, sondern en bloc. Wer davon etwas braucht findet sie bei den Volltexten. Es gilt Folgendes:

In dem Verfahren VerfGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 27.01.2025 – 1 VB 11/23 – ging es um den OLG Stuttgart, Beschluss v. 20.01.2023 – 1 Rb 28 Ss 757/22, dem eine Geschwindigkeitsmessung mit dem Einseitensensor-Messgerät ESO ES 3.0 zugrunde gelegen hat. Der Betroffene hatte Zugang zu bestimmten Unterlagen und Messdaten verlangt, ohne Erfolg.

Anders der VerfGH Baden-Württemberg. Danach folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren für den Betroffenen grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen, wie namentlich den Rohmessdaten der Geschwindigkeitsmessung sowie den Wartungs- und Reparaturunterlagen des verwendeten Messgeräts, folgt. Dieser Anspruch verpflichtet nicht etwa das Gericht, die geforderten Unterlagen aufgrund seiner Aufklärungspflicht beizuziehen und zu prüfen, sondern entspringt allein dem Recht des Betroffenen, die Grundlagen des gegen ihn erhobenen Vorwurfs einzusehen und selbst zu prüfen. Unerheblich ist hierbei nach Auffassung des VerfGH ggf., wenn sich den Akten keine Hinweise auf das Vorhandensein der von dem Betroffenen begehrten Wartungs- und Instandsetzungsunterlagen entnehmen lassen und laut dem Messprotokoll an dem Messgerät seit der letzten Eichung keine Reparaturen oder Wartungsarbeiten durchgeführt worden sind.

Dem VerfGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 27.01.2025 – 1 VB 36/22 hat der OLG Stuttgart, Beschl. v. 05.04.2022 – 4 Rb 13 Ss 197/22 – zugrunde gelegen. Gemessen worden war mit dem Messgeräts PoliScan Speed Ml. Der VerfGH betont auch in dieser Entscheidung noch einmal das Recht auf ein faires Verfahren, aus dem der Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgt. Maßgeblich für das Einsichtsrecht des Betroffenen sei auch ggf. nicht der Umstand, ob für das betroffene Messgerät eine „Lebensakte“ geführt wird oder ob die bei der Polizeidienststelle für das Gerät möglicherweise vorhandenen Unterlagen so bezeichnet werden. Entscheidend ist vielmehr, ob für den vom Einsichtsrecht umfassten Zeitraum, der mit der letzten Eichung vor dem Tattag beginnt und am Tage des Ablaufs der Eichfrist endet, Wartungs- und Reparaturdokumentationen – bei der Verwaltungsbehörde oder der ihr zuarbeitenden Polizeidienststell – vorliegen.

In dem VerfGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 27.01.2025 – 1 VB 173/21 – ging es schließlich um den OLG Stuttgart, Beschl. v. 12.11.2021 – 4 Rb 23 Ss 736/21. Gemessen worden war mit dem Messgerät TraffiStar S 330. Verlangt worden waren u.a. unter anderem „digitale Falldaten der gesamten Messreihe mit Statistikdatei/Logdatei, Public Key der Messanlage“ und „vorhandene Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen der Messanlage inkl. ggf. vorhandener Lebensakte. Der VerfGH weist darauf hin, dass der Betroffene namentlich die digitalen Falldaten der Messreihe aller Fahrspuren mit Statistikdatei verlangen kann. Die Verteidigung könne grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen.

Kollision Rechtseinbieger mit Fahrbahnverenger, oder: Befahren der linken Fahrbahnhälfte

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Und im zweiten Posting dann noch einmal etwas zur Haftungsverteilung nach dem StVG, und zwar das OLG Saarbrücken, Urt. v. 13.12.2024 – 3 U 23/24. Es geht um die Haftungsverteilung bei der Kollision eines nach rechts in eine bevorrechtigte Straße Einbiegenden und einem von rechts kommenden Vorfahrtsberechtigten, der in zulässiger Weise an parkenden Fahrzeugen vorbeifährt, die die Fahrbahn verengen.

Der Kläger hatte mit seinem Transporter VW T4 die fragliche Straße pp. in Fahrtrichtung pp.. Der Zweitbeklagte befuhr mit seinem bei der Erstbeklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug die pp. und wollte nach rechts in die Straße pp. einbiegen. Dabei stieß er mit dem von rechts kommenden klägerischen Fahrzeug zusammen.

Das LG hatte der der Klage auf der Grundlage einer Haftungsverteilung von 75% zu 25% zulasten der Beklagten stattgegeben. Zur Begründung hatte es ausgeführt, die Beklagten hafteten für den Unfall, weil der Zweitbeklagte die Vorfahrt des Klägers verletzt habe. Allerdings habe auch der Kläger für die Unfallfolgen einzustehen, weil die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs erhöht gewesen sei. Den Kläger treffe zwar kein Verschulden. Die Situation sei aber mit einem Unfall vergleichbar, bei dem das Rechtsfahrgebot missachtet worden sei. Schon das Befahren der linken Fahrbahnhälfte führe zu einer Erhöhung der Betriebsgefahr des Kraftfahrzeuges.

Dagegen die Berufung des Klägers, die in vollem Umfang Erfolg hatte. Nach Auffassung des OLG haften die Beklagten voll:

„1. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass sowohl die Kläger- als auch die Beklagtenseite grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7, 17 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellt. Dies wird von den Parteien in der Berufung nicht in Zweifel gezogen und begegnet auch keinen Bedenken.

2. Im Rahmen der danach gebotenen Entscheidung über die Haftungsverteilung gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG, in der alle festgestellten, d. h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben, zu berücksichtigen sind (vgl. BGH, Urteil vom 10. Oktober 2023 – VI ZR 287/22, Rn. 12, juris), hat das Landgericht eine Mithaftung des Klägers von 25% angenommen. Dies hält berufungsgerichtlicher Überprüfung nicht in jeder Hinsicht stand.

a) Das Landgericht hat zunächst auf Beklagtenseite einen unfallursächlichen Verstoß des Zweitbeklagten gegen § 8 Abs. 2 Satz 2 StVO festgestellt, weil der Zweitbeklagte an der nicht durch Verkehrszeichen geregelten Einmündung (zum Begriff der Einmündung vgl. stellv. BGH, Urteil vom 05.02.1974 – VI ZR 195/72, VersR 1974, 600; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl., § 8 StVO Rn. 34 m.w.N.) die Vorfahrt des Klägers, der aus Sicht des Zweitbeklagten von rechts kam (§ 8 Abs. 1 Satz 1 StVO), missachtet hat. Dies ist – auch im Hinblick auf die Anwendung der Regeln über den Anscheinsbeweis auf den Streitfall (vgl. dazu KG, Urteil vom 15. Januar 1996 – 12 U 304/95, Rn. 5, 7, juris; OLG Köln, Urteile vom 13. August 1997 – 27 U 30/97, Rn. 5, juris, und vom 31. März 2000 – 19 U 159/99, Rn. 2 juris; Geigel/Freymann, 29. Aufl., Kapitel 27 Rn. 258) – zutreffend und wird von den Parteien in der Berufung hingenommen.

b) Im Ergebnis zutreffend ist die Erstrichterin auch davon ausgegangen, dass dem Kläger im Rahmen der Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 1, 2 StVG kein zu einem Verschulden führender Pflichtenverstoß vorgehalten werden kann, der seine Mithaftung begründen könnte. Denn der Kläger war gegenüber dem Zweitbeklagten weder zur Beachtung des § 6 StVO (Vorbeifahren) noch des Rechtsfahrgebots (§ 2 Abs. 2 StVO) verpflichtet, da beide Regelungen nicht dem Schutz des einbiegenden Verkehrs dienen (zu § 6 StVO vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. Februar 1982 – 5 Ss OWi 634/81 I, VRS 63, 60; OLG Hamm, Urteil vom 2. September 2022 – I-7 U 5/21, Rn. 14, juris; Helle, in: Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR, 2. Aufl., § 6 Rn. 30; zum Rechtsfahrgebot vgl. BGH, Urteil vom 20. September 2011 – VI ZR 282/10, Rn. 11, juris; Saarl. OLG, Urteil vom 29. März 2018 – 4 U 56/17, Rn. 52, juris; OLG Düsseldorf, Urteil vom 14. Februar 2012 – I-1 U 243/10, Rn. 37; OLG Hamm, Urteil vom 23. September 2022 – I-7 U 93/21, Rn. 16, juris; Geigel/Freymann aaO Rn. 58).

c) Entgegen der Auffassung der Erstrichterin war die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs auch nicht aufgrund des Befahrens der linken Fahrbahnhälfte durch den Kläger erhöht.

aa) Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass das Befahren der linken Fahrbahnhälfte durch den Vorfahrtsberechtigten zu einer Erhöhung der Betriebsgefahr des Kraftfahrzeuges führen und eine Mithaftung gegenüber dem Wartepflichtigen begründen kann. Dies setzt indes nach allgemeiner Auffassung einen unfallursächlichen Verstoß des Vorfahrtsberechtigten gegen das Rechtsfahrgebot nach § 2 Abs. 2 StVO voraus (vgl. Saarländisches Oberlandesgericht, Urteil vom 29. März 2018 – 4 U 56/17, Rn. 57, juris; OLG Hamm, Urteil vom 23. September 2022 – I-7 U 93/21, Rn. 15, 27, juris; KG, Urteil vom 12. November 1992 – 12 U 5617/91, Rn. 5, juris, und Beschluss vom 28. Dezember 2006 – 12 U 47/06, Rn. 22 ff., juris; OLG Köln, Urteile vom 19. Juni 1991 – 2 U 1/91, Rn. 16, juris, und vom 13. August 1997 – 27 U 30/97, Rn. 8 f., juris; OLG Oldenburg, Urteil vom 4. März 2002 – 15 U 63/01, Rn. 15, 18, juris; Thüringer Oberlandesgericht, Urteil vom 9. Mai 2000 – 5 U 1346/99, Rn. 7, juris; Spelz in: Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR, 2. Aufl., § 8 StVO Rn. 48), von dem im Streitfall nicht ausgegangen werden kann.

bb) Nach § 2 Abs. 2 StVO ist „möglichst weit rechts“ zu fahren. Das Rechtsfahrgebot bedeutet nicht, äußerst rechts oder soweit technisch möglich rechts zu fahren (OLG Düsseldorf, Urteil vom 19. Mai 2011 – I-1 U 232/07, Rn. 8, juris; OLG Zweibrücken, Urteil vom 24. April 1987 – 10 U 81/85, NZV 1988, 22). Es gilt vielmehr, wie schon der Wortlaut erkennen lässt, nicht starr, sondern gewährt je nach den Umständen im Rahmen des Vernünftigen einen gewissen Beurteilungsfreiraum. Welche Anforderungen das Rechtsfahrgebot im konkreten Fall stellt, ist daher unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Örtlichkeit, der Fahrbahnbreite und -beschaffenheit, der Fahrzeugart, eines vorhandenen Gegenverkehrs, der erlaubten und der gefahrenen Geschwindigkeit sowie der jeweiligen Sichtverhältnisse zu bestimmen (vgl. BGHZ 74, 25; BGH, Urteil vom 9. Juli 1996 – VI ZR 299/95, Rn. 7, juris; Saarländisches Oberlandesgericht, Urteil vom 29. März 2018 – 4 U 56/17, Rn. 54, juris, und vom 18. Juni 2020 – 4 U 4/19, Rn. 72, juris).

cc) Nach diesen Grundsätzen kann ein unfallursächlicher Verstoß des Klägers gegen das Rechtsfahrgebot schon deshalb nicht angenommen werden, weil nach den tatsächlichen, von den Parteien nicht angegriffenen Feststellungen des Erstgerichts (§ 529 Abs. 1 ZPO) die rechte Seite der unmarkierten Fahrbahn des Klägers durch ein in der Nähe der Einmündung parkendes Fahrzeug blockiert war (vgl. Lichtbild Bl. 277 GA). Dem Kläger war es deshalb erlaubt, nach Maßgabe des § 6 StVO an diesem Fahrzeug vorbeizufahren und hierzu die linke Fahrbahnseite zu benutzen (vgl. hierzu Helle aaO § 6 StVO Rn. 9, 11), während der Zweitbeklagte als Wartepflichtiger ohne weiteres mit Gegenverkehr auf der eigenen Fahrbahnhälfte zu rechnen hatte, dem auch durch möglichst weites Rechtsfahren beim Einbiegen nicht sicher ausgewichen werden konnte (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 19. Mai 2011 – I-1 U 232/07, Rn. 8, juris; LG Saarbrücken, Urteil vom 29. April 2016 – 13 S 3/16 –, juris Rn. 24 f.; vgl. auch Spelz aaO Rn. 37).

d) Für die Annahme einer Mithaftung des Klägers aus der einfachen Betriebsgefahr seines Fahrzeugs besteht keine Veranlassung. Vielmehr gilt auch in einem Fall wie hier der Grundsatz, dass die einfache Betriebsgefahr des bevorrechtigten Fahrzeugs gegenüber dem Verkehrsverstoß gegen § 8 StVO zurücktritt (vgl. LG Saarbrücken, Urteil vom 29. April 2016 – 13 S 3/16, juris m.w.N.).

3. Auf der Grundlage dieser Haftungsverteilung steht dem Kläger Ersatz seines vollen, der Höhe nach unstreitigen Schadens (einschließlich vorgerichtlicher Anwaltskosten) nebst Zinsen zu.“

Rücksichtnahme beim Rückwärtsfahren mit Bagger, oder: Haftung bei Bagger versus Anhänger

Und dann der Kessel Buntes. Heute mit zwei Entscheidungen aus dem Verkehrszivilrecht.

Den Start mache ich mit dem OLG Hamm, Urt. v. 19.11.2024 – 7 U 150/23 – zur Rücksichtnahme beim Rückwärtsfahren mit einem Bagger.

Die Parteien streiten um die Haftungs- und die Haftungsanteile nach einem Unfall mit einem der Beklagten zu 1) gehörenden Bagger. Dabei war ein der Klägerin gehörender Anhänger beschädigt worden. Der Beklagte zu 1) hatte den von ihm geführten Bagger auf dem Betriebsgelände der Beklagten nach dem Anhalten aus einer Kurvenfahrt heraus unmittelbar zurücksetzt. Das LG hatte die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das OLG die Klage als teilweise begründet angesehen. Es hat der Klägerin aber eine Mitverschuldensquote von 30 % angerechnet.

Das OLG verneint mit dem LG eine Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG, da der beteiligte Bagger der Beklagten zu 1) gemäß § 8 Nr. 1 StVG privilegiert sei. Aber: Der Beklagte zu 2.) haftet der Klägerin dem Grunde nach gemäß § 823 Abs. 1 BGB. Und dann:

a) Die Klägerin muss sich auf ihren Anspruch einen Mitverschuldensanteil von 30 % anrechnen lassen, § 254 Abs. 1 BGB.

Im Falle eines festgestellten Mitverschuldens ist die Abwägung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 254 Abs. 1 BGB aufgrund aller festgestellten, d. h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, wenn sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (vgl. BGH Urt. v. 17.1.2023 – VI ZR 203/22, r+s 2023, 265 Rn. 29 m. w. N.).

aa) Der Klägerin ist ein Verstoß ihres Fahrers gegen § 1 Abs. 2 StVO in unmittelbarer oder mittelbarer Anwendung zuzurechnen, weil dieser trotz des vor ihm befindlichen Baggers seine Fahrt an diesem vorbei fortgesetzt hat.

Dieser Verstoß erfährt indes entgegen der Würdigung des Landgerichts keine spezifische Ausprägung durch § 5 Abs. 3 StVO, denn es liegt kein Überholen vor. Ein Überholen ist begrifflich gegeben, wenn ein Verkehrsteilnehmer von hinten an einem anderen vorbeifährt, der sich auf derselben Fahrbahn in derselben Richtung bewegt oder nur mit Rücksicht auf die Verkehrslage anhält (Freymann in: Geigel, Haftpflichtprozess, 29. Aufl. 2024, StVO § 5 Rn. 156; vgl. BGH Beschl. v. 15.9.2016 – 4 StR 90/16, NJW 2016, 3462). Das Beklagtenfahrzeug hatte im vorliegenden Fall – für sich genommen auch unstreitig – die Richtungsfahrbahn der Ausfahrt vom Betriebsgelände bereits dahingehend verlassen, dass der Abbiegevorgang nach rechts in den anderen Geländeteil eingeleitet war, aber lediglich wegen des nicht ausreichenden Abbiegewinkels unterbrochen werden musste. Eine Bewegung in derselben Richtung wie der klägerische Lkw war aber bereits zu dem Zeitpunkt, als der Fahrer des Lkw den Bagger zu passieren begann, nicht mehr gegeben.

Gleichwohl hätte sich der Fahrer des klägerischen Lkw aufgrund der Gesamtsituation gemäß § 1 Abs. 2 StVO veranlasst sehen müssen, seine Annäherung zu verlangsamen, das Fahrverhalten des vor ihm befindlichen Baggers abzuwarten und seine eigene Fahrt ggf. zu unterbrechen. Im Kern zutreffend hat das Landgericht diesbezüglich ausgeführt, dass sich – auch dem Fahrer des Klägerfahrzeugs als seinerseits beruflich im Umgang mit großen Fahrzeugen vertraut – hätte offenbaren können, dass der Beklagte zu 2.) den eingeleiteten Abbiegevorgang nicht in einem Zug vollenden werde, da es sich gerade nicht um eine abzweigende Straße oder breite Grundstückseinfahrt handelte, in die der Bagger abbog, sondern um eine verengte Einfahrt, die an sich primär für Schienenverkehr gedacht war.

bb) Ohne kausale Auswirkung bleibt in diesem Zusammenhang entgegen dem Vorwurf der Beklagten eine gegenüber der Anordnung einer Höchstgeschwindigkeit von 10 km/h bzw. Schrittgeschwindigkeit (je nach Schild) auf dem Betriebsgelände – mutmaßlich – überhöhte Geschwindigkeit des klägerischen Lkw, so dass es auch insoweit nicht darauf ankommt, ob der Unfall auf dem Betriebsgelände stattgefunden hat.

Ein späterer Unfall kann einer Geschwindigkeitsüberschreitung nicht allein schon deshalb zugerechnet werden, weil das Fahrzeug bei Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit erst später an die Unfallstelle gelangt wäre, vielmehr muss sich in dem Unfall gerade die auf das zu schnelle Fahren zurückzuführende erhöhte Gefahrenlage aktualisieren. Der rechtliche Ursachenzusammenhang zwischen Geschwindigkeitsüberschreitung und Unfall ist zu bejahen, wenn bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation der Unfall vermeidbar gewesen wäre. Vermeidbarkeit ist auch bei geringfügigen Geschwindigkeitsüberschreitungen dann anzunehmen, wenn der Unfall bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zwar nicht räumlich, wohl aber zeitlich vermeidbar gewesen wäre. Dies ist der Fall, wenn es dem Fahrer bei einer verkehrsordnungsgemäßen Fahrweise zwar nicht gelungen wäre, das Fahrzeug noch vor der späteren Unfallstelle zum Stehen zu bringen, wenn er den PKW aber so stark hätte abbremsen können, dass dem Verletzten Zeit geblieben wäre, den Gefahrenbereich noch rechtzeitig zu verlassen. Entsprechendes gilt auch dann, wenn es dabei zumindest zu einer deutlichen Abmilderung des Unfallverlaufes und der erlittenen Verletzungen gekommen wäre (BGH Urt. v. 26.4.2005 – VI ZR 228/03, r+s 2005, 477 = juris Rn. 22 m. w. N.; siehe zuletzt auch Senat Beschl. v. 5.8.2024 – I-7 U 57/24, BeckRS 2024, 26517 = juris Rn. 23 m. w. N.).

Die kritische Verkehrslage beginnt für einen Verkehrsteilnehmer dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann. Für einen vorfahrtsberechtigten Verkehrsteilnehmer ist dies in Bezug auf seinen Vorrang zwar nicht bereits der Fall, wenn nur die abstrakte, stets gegebene Gefahr eines Fehlverhaltens anderer besteht, vielmehr müssen erkennbare Umstände eine bevorstehende Verletzung seines Vorrechts nahelegen. Von Bedeutung sind hierbei neben der Fahrweise des Wartepflichtigen alle Umstände, die sich auf dessen Fahrweise auswirken können, also auch die Fahrweise des Bevorrechtigten selbst. Gibt er dem Wartepflichtigen durch einen Verkehrsverstoß Anlass, die Wartepflicht – namentlich infolge einer Fehleinschätzung der Verkehrslage – zu verletzen, so kann die kritische Verkehrslage bereits vor der eigentlichen Vorfahrtsverletzung eintreten (BGH Urt. v. 25.3.2003 – VI ZR 161/02, r+s 2003, 256 = juris Rn. 12 m. w. N.; siehe dazu zuletzt auch BGH Urt. v. 22.11.2016 – VI ZR 533/15, r+s 2017, 95 Rn. 17 m. w. N.; Senat Beschl. v. 5.8.2024 – I-7 U 57/24, BeckRS 2024, 26517 = juris Rn. 24).

Gemessen daran war der Unfall für den Fahrer des Klägerfahrzeugs zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation weder räumlich noch zeitlich vermeidbar noch hätten sich die Personen- und Sachschäden erheblich anders dargestellt. Die kritische Verkehrssituation trat hier frühestens ein, als der Beklagte zu 2.) den Bagger aus der ursprünglichen Vorwärtsfahrt endgültig zum Stehen gebracht, spätestens, als er die Rückwärtsbewegung eingeleitet hatte. Aus der Inaugenscheinnahme der Videosequenz des Unfallablaufs ergibt sich aber insoweit zur Überzeugung des Senats, dass sich das Klägerfahrzeug bereits im Zeitpunkt des frühestmöglichen Eintritts der kritischen Verkehrssituation mit der Spitze des Führerhauses etwa mittig hinter dem Heck des Baggers befand. Da sich der Lkw – augenscheinlich zügig – weiterbewegte, ist der Bagger und damit die sich anschließende Einleitung der Rückwärtsbewegung aus dem Sichtfeld des Lkw-Fahrers geraten. Eine – zudem noch kollisionsvermeidende – Reaktion des Lkw-Fahrers war unter diesen Umständen nicht mehr möglich. Ein Ausweichen nach links hätte zudem eine unmittelbare Kollision mit dem Einfahrtstor zur Folge gehabt, ein Abbremsen lediglich die Verschiebung der Kollisionsstelle vom Tankanhänger auf den Tankaufbau des Zugfahrzeugs. Denn wäre die Geschwindigkeit des klägerischen Lkw von vornherein oder durch Abbremsung geringer gewesen, hätte sich der Aufprall lediglich nach vorne verlagert. Diese Rückschlüsse kann der Senat wie im Senatstermin erörtert als Fachsenat für Verkehrsunfallsachen aufgrund langjähriger Erfahrung in eigener Überzeugung ziehen, so dass es ausnahmsweise keiner Einholung eines Sachverständigengutachtens bedarf (vgl. § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO; Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Auflage 2024, vor §§ 402 ff. Rn. 12). Insoweit hätten sich auch die eingetretenen Sachschäden nicht erheblich anders dargestellt, denn die Aufbaustruktur des Zugfahrzugs ist augenscheinlich weitgehend mit der des Anhängers identisch.

cc) Der Mitverschuldensbeitrag ist dem Verschulden der Beklagten entgegenzusetzen, wobei auch der nur mittelbaren Verletzung der Pflichten aus § 9 Abs. 5 StVO im Rahmen des § 1 Abs. 2 StVO ein entsprechendes Gewicht zukommt (vgl. BGH Urt. v. 15.12.2015 – VI ZR 6/15, NJW 2016, 1098 Rn. 11 m. w. N.).

Danach ist eine Gewichtung des Verschuldensanteils der Klägerseite mit 30 % und der Beklagtenseite mit 70 % angemessen.

Dem für sich genommen ganz erheblich wiegenden Verstoß des Beklagten zu 2.) gegen die Kardinalpflicht des Gefährdungsausschlusses bei Rückwärtsfahrt steht ein deutlich geringer zu gewichtender Verstoß des Fahrers des klägerischen Lkw gegen allgemeine und auch in der konkreten Situation einleuchtende Sorgfaltspflichten gegenüber.

Kein besonderes Gewicht misst der Senat dem von den Beklagten aufgegriffenen Umstand bei, dass der Fahrer des Klägerfahrzeugs nicht befugt gewesen sei, das Betriebsgelände überhaupt zu befahren, da die Beschilderung insoweit nicht hinreichend einfach erfassbar war und sich dieser Umstand, wenn auch kausal, so doch im Hinblick auf die Fortgeltung der hier zur Anwendung zu bringenden Regelung der StVO nicht maßgeblich ausgewirkt hat. Die (beiderseitige) Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist insoweit unabhängig von der etwaigen Frage eines einseitigen Hausrechts zu beurteilen.“

KCanG III: Entziehung der Fahrerlaubnis nach StVG, oder: Wann liegt Cannabismissbrauch vor?

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Und dann habe ich hier im dritten Posting noch etwas aus dem Verkehrsrecht, und zwar mit dem VG Ansbach, Beschl. v. 03.01.2025 – AN 10 S 24.3086 – etwas aus dem Verkehrsverwaltungsrecht-

Eragangen ist der Beschluss im einstweiligen Rechtsschutzverfahren betreffend die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen den Entzug einer Fahrerlaubnis sowie die damit verbundene Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins und eines Fahrgastbeförderungsscheins.

Der Antragsteller war Inhaber einer Fahrerlaubnis der Klassen AM, B, L und einer Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung. Der Antragsgegner erhielt Kenntnis davon, dass der Antragsteller am 03.05.2024 gegen 18.55 Uhr mit seinem Kraftfahrzeug unter Einfluss von Cannabis gefahren ist. Eine bei ihm daraufhin um 19.42 Uhr entnommene Blutprobe ergab folgende Werte: 7,6 ng/ml THC, 2,9 ng/ml 11-Hydroxy-THC und 132 ng/ml THC-Carbonsäure. Ausweislich des ärztlichen Berichts waren keine Ausfallerscheinungen ersichtlich. Der Gang war sicher, die Sprache deutlich, das Bewusstsein klar und der Denkablauf geordnet. Im Aktenvermerk der Polizeiinspektion wurde zudem festgehalten, dass keine Fahrfehler festgestellt werden konnten und der Antragsteller während der Kontrolle angegeben habe, dass er regelmäßig Marihuana konsumiere.

Daraufhin  forderte der Antragsgegner zur zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung auf. Als das nicht kommt, wird dem Antragsteller die Fahrerlaubnis aller Klassen entzogen. Zugleich verpflichtete der Antragsgegner ihn, seinen Führerschein sowie den Fahrgastschein innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheides abzugeben. Die sofortige Vollziehung wurde angeordnet. Der Antragsteller gibt dann Führerschein und Fahrgastschein an, legt aber Widerspruch ein und begehrt dann einstweiligen Rechtsschutz. Ohne Erfolg:

„(II.) Die materiellen Anforderungen zur Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nach § 13a Nr. 2a Alt. 2 FeV lagen im maßgeblichen Zeitpunkt, dem Erlass der Begutachtungsanordnung (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – juris Rn. 14), vor. Danach muss die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung einer Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis ein medizinisch-psychologisches Gutachten anfordern, wenn sonstige Tatsachen die Annahme von Cannabismissbrauch begründen.

Der Antragsgegner ist zutreffend davon ausgegangen, dass sonstige Tatsachen vorliegen, die einen Cannabismissbrauch begründen. Gemäß Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV liegt ein Missbrauch von Cannabis vor, wenn das Führen von Fahrzeugen und ein Cannabiskonsum mit nicht fernliegender verkehrssicherheitsrelevanter Wirkung beim Führen des Fahrzeugs nicht hinreichend sicher getrennt werden kann.

Die seit 1. April 2024 geltende Rechtslage unterscheidet zwischen einer Cannabisabhängigkeit (Nr.9.2.3 der Anlage 4 zur FeV), dem Cannabismissbrauch (Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV) und einem fahrerlaubnisrechtlich unbedenklichen Cannabiskonsum (so auch: BVerwG, B. v. 14.6.2024 – 3 B 11.23, BeckRS 2024, 15306 Rn. 9 f.), welcher nach Vorstellung des Gesetzgebers gelegentlich oder auch regelmäßig erfolgen könne (BT-Drs. 20/11370 S.11). Damit hat der Gesetzgeber die bisherige Annahme, dass mit einem regelmäßigen Konsum in der Regel auch eine fehlende Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen vorliege, aufgegeben. Im Übrigen erscheint es vorliegend schon zweifelhaft, einen regelmäßigen Konsum anhand eines THC-Carbonsäurewertes von 132 ng/ml anzunehmen, da dies nach (bisheriger) ständiger Rechtsprechung erst ab einem Wert von 150 ng/ml THC-COOH im Blutserum zu bejahen ist (vgl. BayVGH, B. v.19.4.2022 – 11 CS 21.3010, BeckRS 2022, 9296 Rn. 10). Auch die Frage, ob der Antragsteller selbst angegeben habe, regelmäßig Cannabis zu konsumieren, ist damit nicht mehr entscheidungserheblich.

Mangels gesetzlicher Festlegung eines THC-Wertes in Nr. 9.2.1. der Anlage 4 zur FeV sowie mangels der Anpassung der Begutachtungsleitlinien an die neuen Vorgaben der FeV, greift das Gericht vorliegend auf die Gesetzesbegründung zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und weiterer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften zurück (BT-Drs. 20/11370). Aus dieser geht hervor, dass nach dem aktuellen Kenntnisstand der Wissenschaft die Festlegung eines THC-Grenzwertes, bei welchem der Betroffene im Rahmen der Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV regelmäßig nicht hinreichend sicher zwischen dem Führen eines Kraftfahrzeuges und einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Konsum trennt, nicht möglich sei. Dennoch sei die Legaldefinition des Cannabismissbrauchs aufgrund der Feststellungen der Expertengruppe (vgl. Empfehlungen der interdisziplinären Expertengruppe für die Festlegung eines THC-Grenzwertes im Straßenverkehr (§ 24a StVG)) dahingehend angepasst worden, dass dieser mit dem gesetzlichen Wirkungswertes von 3,5 ng/ml THC-Blutserum in § 24a StVG korrespondiere. Bei Erreichen dieses THC-Grenzwertes sei nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen eine verkehrssicherheitsrelevante Wirkung beim Führen eines Kraftfahrzeuges nicht fernliegend. Der Begriff des „nicht Fernliegens“ sei dabei ein Wahrscheinlichkeitsgrad für die Verwirklichung des Straßenverkehrssicherheitsrisikos und sei so zu verstehen, dass der Risikoeintritt möglich, jedoch nicht wahrscheinlich, aber auch nicht ganz unwahrscheinlich sei (vgl. BT-Drs. 20/11370 S.13). Ausweislich der Darstellungen der Expertengruppe bestehe ab einem THC-Gehalt von über 7 ng/ml THC im Blutserum ein erhöhtes Unfallrisiko und eine verkehrssicherheitsrelevante Leistungseinbuße (vgl. Empfehlungen der interdisziplinären Expertengruppe für die Festlegung eines THC-Grenzwertes im Straßenverkehr (§ 24a StVG) S. 5 f.). Der Antragsteller wies zum Zeitpunkt der Blutuntersuchung ein THC-Wert von 7,6 ng/ml auf und lag damit im Bereich eines erhöhten Unfallrisikos. Durch das 2-fache Überschreiten des THC-Grenzwertes von 3,5 ng/ml war eine verkehrssicherheitsrelevante Wirkung beim Führen eines Kraftfahrzeuges zumindest nicht fernliegend und im Übrigen nach obigen Ausführungen sogar wahrscheinlich. Die Prognoseentscheidung, ob der Antragsteller in Zukunft sicher zwischen einem verkehrssicherheitsrelevanten Cannabiskonsum und dem Führen eines Fahrzeuges trennen könne, fällt in Anbetracht seines erhöhten THC-Wertes negativ aus. Ein Cannabismissbrauch läge damit vor.

Diese alleinige Feststellung stünde jedoch im Widerspruch zu § 13a Nr. 2b FeV. Danach ist ein medizinisch-psychologisches Gutachten einzuholen, sofern eine wiederholte Zuwiderhandlung im Straßenverkehr unter Cannabiseinfluss begangen wurde. Im Umkehrschluss daraus und in Anlehnung an die Rechtsprechung zu § 13 Nr. 2a, b FeV wird eine einmalige cannabisbedingte Ordnungswidrigkeit nach § 24a StVG nicht zur Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nach § 13a Nr. 2a Alt. 2 FeV ausreichen. Im Falle einer Trunkenheitsfahrt stellt nach ständiger Rechtsprechung das Fehlen von Ausfallerscheinungen bei einer Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,1 Promille eine Zusatztatsache im Sinne des § 13 Satz 1 Nr. 2a Alt. 2 FeV dar, da die Auswirkungen des Alkoholkonsums auf die Fahrsicherheit nicht mehr realistisch eingeschätzt werden können (vgl. BVerwG, U.v. 17.3.2021 – 3 C 3/20 – SVR 2021, 433). Es spricht demnach viel dafür, dass auch im Falle des § 13a Nr. 2a Alt. 2 FeV Zusatztatsachen, wie fehlende Ausfallerscheinungen, vorliegen müssen, die bei einem erstmaligen Verstoß gegen § 24a StVG auf einen Cannabismissbrauch hindeuten, da auch der Wortlaut von sonstigen Tatsachen spricht.

Ausweislich des ärztlichen Berichts vom 3. Mai 2024 waren keine Ausfallerscheinungen beim Antragsteller ersichtlich. Der Gang war sicher, die Sprache deutlich, das Bewusstsein klar und der Denkablauf geordnet. Auch im Aktenvermerk der Polizeiinspektion … vom 4. Mai 2024 wurde festgehalten, dass keine Fahrfehler festgestellt werden konnten. Die fehlenden Ausfallerscheinungen stellen eine sonstige Tatsache dar, welche die Annahme eines Cannabismissbrauchs auch bei einem erstmaligen Verstoß begründen. Es kann möglicherweise durch eine Cannabisgewöhnung und das Fehlen von Warnsignalen die Fahrsicherheit nicht mehr realistisch eingeschätzt werden.

Auch die in der Begutachtungsanordnung gestellten Fragen sind nicht zu beanstanden. Nach § 11 Abs. 6 Satz 1 FeV legt die Fahrerlaubnisbehörde fest, welche Fragen im Hinblick auf die Eignung des Betroffenen zum Führen von Kraftfahrzeugen zu klären sind. Die gestellten Fragen orientieren sich am anlassgebenden Sachverhalt, dem Führen eines Kraftfahrzeugs mit einer THC-Blutkonzentration von 7,6 ng/ml. Dieser Sachverhalt begründet einen Mangel, der bei vernünftiger, lebensnaher Einschätzung die ernsthafte Besorgnis begründet, dass der Betroffene sich als Führer eines Kraftfahrzeugs nicht verkehrsgerecht umsichtig verhalten werde. Demnach ist die Fragestellung geeignet, um zu klären, ob der Antragsteller in Zukunft sicher zwischen einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Cannabiskonsum und dem Führen von Kraftfahrzeugen trennen könne.

Gemäß § 13a Nr. 2a Alt. 2 FeV ist ein medizinisch-psychologisches Gutachten beizubringen, sofern sonst Tatsachen vorliegen, welche die Annahme eines Cannabismissbrauchs begründen. Ermessen ist nicht gegeben.

Dem Antragsgegner stand wegen der Nichtvorlage des zu Recht geforderten Gutachtens nach § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 11 Abs. 8 FeV kein Ermessensspielraum zu (vgl. BayVGH, B. v.22.1.2024 – 11 CS 23.1451 – juris Rn. 15; BayVGH, B. v.30.3.2021 – 11 ZB 20.1138 – juris Rn. 14). Die Entscheidung erweist sich schließlich auch als verhältnismäßig, da dem Interesse der Allgemeinheit an einem sicheren und verkehrsgerechten Straßenverkehr der Vorrang gegenüber dem Interesse des Antragstellers an dem weiteren Besitz seiner Fahrerlaubnis einzuräumen ist. Billigkeitserwägungen, wie die Notwendigkeit der Fahrerlaubnis zur Berufsausübung, können an dieser Stelle nicht entgegengehalten werden. Gründe, die den Antragsteller daran gehindert haben, das rechtmäßig verlangte Fahreignungsgutachten rechtzeitig beizubringen, hat der Antragsteller nicht vorgetragen. Solche sind auch nicht ersichtlich.

bb) Aufgrund der überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis in Ziffer 1, erweist sich voraussichtlich auch die akzessorische Ablieferungspflicht des Führerscheins in Ziffer 2 und des Fahrgastscheins in Ziffer 3 des Bescheids als rechtmäßig, § 47 Abs. 1 FeV.

4. Aus diesen Gründen wird die Klage voraussichtlich keinen Erfolg haben, weswegen das Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids dem Interesse des Antragstellers einstweilen weiter am Straßenverkehr teilzunehmen, überwiegt. Insbesondere in Anbetracht der besonderen Verantwortung bei der Beförderung von Fahrgästen, wiegt das öffentliche Interesse am Schutz von Leben, Gesundheit sowie Eigentum der Fahrgäste und anderer Verkehrsteilnehmer besonders schwer. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist daher insgesamt, auch hinsichtlich des unter Ziffer 2 gestellten Antrags auf Vollzugsfolgenbeseitigung, abzulehnen.“

OWi I: Absehen vom Fahrverbot beim Abstandsverstoß, oder: Das war beim BayObLG aber jemand ganz fleißig

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Ich hatte ja gestern bereits darauf hingewiesen, dass ich im Moment an sich wenig OWi-Entscheidungen habe, die ich vorstellen kann. Heute kann ich dann aber mal wieder einen OWi-Tag machen, da der Kollege Gratz mir vor ein paar Tagen ein paar Entscheidungen zugesandt hat, von denen ich heute drei vorstelle. Aber alle drei Beschlüssen bringen nichts Neues

Ich starte mit dem BayObLG, Beschl. v. 11.9.2024 – 202 ObOWi 808/24 – zum Fahrverbot bei einer Abstandsunterschreitung. Das AG hat von einem Fahrverbot wegen eines „Augenblicksversagens“ nicht abgesehen. Das BayObLG sieht das auch so:

„Dies gilt insbesondere auch, soweit das Amtsgericht keine Veranlassung gesehen hat, von dem wegen des groben Pflichtenverstoßes i.S.v. § 25 Abs. 1 Satz 1 [1. Alt.] StVG verwirkten Regelfahrverbot unter dem Gesichtspunkt eines im Einzelfall eine Fahrverbotsprivilegierung im Rahmen des dem Tatgericht insoweit zustehenden Ermessens rechtfertigenden Sachverhalts, etwa eines sog. „Augenblicksversagens“ oder eines sonst anerkannten Privilegierungsfalls ausnahmsweise abzusehen (zu den insoweit anzulegenden Maßstäben vgl. aus der Rspr. u.a. BayObLG, Beschl. v. 22.03.2019 – 202 ObOWi 96/19 = ZfSch 2019, 588 = DAR 2019, 630 = OLGSt StVG § 25 Nr 74; 20.05.2019 – 201 ObOWi 569/19 = DAR 2019, 628 = Blutalkohol 56 [2019], 334 = VerkMitt 2019, Nr 63 = OLGSt StVG § 25 Nr 76; 17.07.2019 – 202 ObOWi 1065/19 = OLGSt StVG § 25 Nr 73; 01.10.2019 – 202 ObOWi 1797/19 = OLGSt StVG § 25 Nr. 80; 29.10.2019 – 202 ObOWi 1997/19 = ZfSch 2020, 172 = OLGSt StVO § 23 Nr 19; 31.07.2019 – 202 ObOWi 1244/19 bei juris; 27.04.2020 – 202 ObOWi 492/20 = NJW 2020, 3539 = Blutalkohol 57 [2020], 227 = VerkMitt 2020, Nr 55; 04.08.2020 – 201 ObOWi 927/20 = VerkMitt 2021, Nr 3 = DAR 2021, 159; 15.09.2020 – 202 ObOWi 1044/20 bei juris und 19.01.2021 – 202 ObOWi 1728/20 = DAR 2021, 273; vgl. ferner u.a. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 29.10.2020 – 1 OWi 2 SsBs 154/20 = ZfSch 2021, 113; KG, Beschl. v. 26.08.2020 – 122 Ss 69/20 = Blutalkohol 58 [2021], 43 = OLGSt StVG § 25 Nr 83; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.11.2019 – 2 RBs 35 Ss 795/19 bei juris; OLG Frankfurt, Beschl. v. 11.03.2020 – 1 Ss OWi 72/20 bei juris, 31.01.2022 – 3 Ss-OWi 41/22 = ZfSch 2022, 353 = NStZ-RR 2022, 221 u. 26.04.2022 – 3 Ss-OWi 415/22 = DAR 2022, 397; OLG Brandenburg, Beschl. v. 11.06.2019 – 53 Ss-OWi 244/19 bei juris; KG, Beschl. v. 13.05.2019 – 162 Ss 46/19 = Blutalkohol 56 [2019], 396; KG, Beschl. v. 21.04.2022 – 162 Ss 21/22 u. OLG Hamm, Beschl. v. 03.03.2022 – 5 Rbs 48/22, beide bei juris, jeweils m.w.N.). Der gegen die Vorwerfbarkeit einer auf einer Autobahn festgestellten Unterschreitung des nach § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO gebotenen Sicherheitsabstands vorgebrachte Einwand, die Abstandsunterschreitung sei durch das gefahrvolle Auffahren des Führers des nachfolgenden Fahrzeugs verursacht worden, ist regelmäßig unbeachtlich, wenn auf der sog. Beobachtungsstrecke ein plötzliches Abbremsen oder ein unerwarteter Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugführers auszuschließen ist (st.Rspr., vgl. u.a. schon OLG Bamberg, Beschl. v. 25.02.2015 – 3 Ss OWi 160/15 bei juris = NJW 2015, 1320 = NZV 2015, 309 = DAR 2015, 396 = BeckRS 2015, 4844 m.w.N.).“

Nichts Besonderes? Oder vielleicht doch? Ja, aber nicht wegen des Fahrverbotes, sondern wegen der Flut der als Beleg angeführten anderen OLG-Entscheidungen. Da war aber jemand ganz fleißig 🙂 . Ich frage mich bei solchen Zitatketten immer, was das soll. Glaubt der Beschlussverfasser wirklich, dass das jemand nachprüft? Oder will man zeigen, wie fleißig man ist/war? M.E. reichen als Beleg ein oder zwei „Grundsatzentscheidungen“ und gut ist es.