Archiv der Kategorie: Straßenverkehrsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem StVG, oder: Austausch der Rechtsgrundlage durch das Gericht?

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Und dann der samstägliche „Kessel-Buntes“, und zwar mit zwei verwaltungsrechtlichen Entscheidungen.

Zunächst etwas zur Entziehung der Fahrerlaubnis, und zwar zur Frage der Zulässigkeit des Austausches der Rechtsgrundlage (durch das Gericht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren).

Das OVG Nordrhein-Westfalen sagt im OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 18.02.2025 – 16 B 668/24 -, dass das zulässig ist:

Das Verwaltungsgericht hat die Ordnungsverfügung vom 17. Mai 2024, durch die dem Antragsteller die Fahrerlaubnis entzogen wurde, bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig angesehen. Es hat ausgeführt, Rechtsgrundlage für die Entziehungsverfügung sei § 2a Abs. 3 StVG, wonach dem Inhaber einer Fahrerlaubnis auf Probe, der einer vollziehbaren Anordnung der zuständigen Behörde nach § 2a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StVG nicht nachgekommen sei, die Fahrerlaubnis zu entziehen sei, ohne dass der Behörde dabei Ermessen zustehe. Der Antragsteller habe nach einer entsprechenden Aufforderung des Antragsgegners in der Verfügung vom 28. Juli 2022 nicht innerhalb der gesetzten Frist an einem Aufbauseminar teilgenommen. Auf die Nichtvorlage des vom Antragsgegner ebenfalls angeforderten medizinisch-psychologischen Gutachtens komme es daher nicht mehr an.

Die dagegen gerichteten Einwände des Antragstellers bleiben ohne Erfolg.

Der Antragsteller macht zunächst geltend, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Bescheid des Antragsgegners vom 28. Juli 2022 auf die Nichtvorlage der Bescheinigung über die Teilnahme an einem besonderen Aufbauseminar gestützt worden sei; Gegenstand dieses Bescheides sei ausdrücklich die Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung gewesen.

Dieses Vorbringen berücksichtigt nicht, dass der Antragsgegner unter dem 28. Juli 2022 zwei verschiedene Anordnungen in jeweils einem eigenen Schreiben erlassen hat. Zum einen ordnete er die Vorlage eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung an und setzte zur Vorlage des Gutachtens eine Frist bis zum 31. Oktober 2022 (Blatt 24 ff. des Verwaltungsvorgangs). Zum anderen forderte er den Antragsteller zur Teilnahme an einem Aufbauseminar für alkoholauffällige Fahranfänger auf und setzte zur Vorlage einer entsprechenden Teilnahmebescheinigung eine Frist bis zum 28. Oktober 2022 (Blatt 36 ff. des Verwaltungsvorgangs). Diese zweite Anordnung war mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen. Nach Aktenlage ist der Antragsteller dagegen nicht vorgegangen. An einem besonderen Aufbauseminar hat er erst lange nach Ablauf der gesetzten Frist, nämlich im Juli und August 2024, teilgenommen.

Die Entziehung der Fahrerlaubnis in der Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 17. Mai 2024 ist zwar (nur) auf § 3 Abs. 1 StVG i. V. m. den §§ 46, 11 Abs. 8 FeV wegen der Nichtvorlage des Gutachtens gestützt, auch wenn zuvor ausgeführt wird, dass der Antragsteller weder ein Gutachten noch eine Teilnahmebescheinigung vorgelegt habe. Es stellt allerdings keinen Rechtsfehler dar, dass das Verwaltungsgericht die Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis mit § 2a Abs. 3 StVG und dem Hinweis auf die nicht fristgerecht erfolgte Teilnahme des Antragstellers an einem Aufbauseminar begründet hat.

Denn Gerichte sind in ihrer Bewertung der Rechtslage unabhängig von der Rechtsauffassung der Verwaltung. Ist ein Verwaltungsakt zu Unrecht auf die von der Behörde herangezogene Rechtsnorm gestützt, ist das Gericht gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO verpflichtet zu prüfen, ob (und ggf. in welchem Umfang) der Bescheid mit Blick auf eine andere Rechtsgrundlage aufrechterhalten werden kann, sofern der Bescheid durch die Berücksichtigung der anderen Rechtsnorm und die dadurch geänderte Begründung nicht in seinem Wesen verändert wird. Bei gebundenen Verwaltungsakten schadet eine inhaltlich fehlerhafte Begründung (auch) zur zugrunde liegenden Rechtsgrundlage daher grundsätzlich nicht.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. März 2010 – 8 C 12.09 -, juris, Rn. 16, und Beschluss vom 29. Juli 2019 – 2 B 19.18 -, juris, Rn. 24, jeweils m. w. N.

Entsprechendes gilt bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes im Rahmen eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO.

Ausgehend davon durfte das Verwaltungsgericht die Rechtmäßigkeit der Ordnungsverfügung mit § 2a Abs. 3 StVG begründen, welcher der Behörde keinen Ermessensspielraum einräumt. Unabhängig von der Frage, ob sich die in Rede stehende Entziehung der Fahrerlaubnis (auch) auf § 3 Abs. 1 StVG i. V. m. den §§ 46, 11 Abs. 8 FeV stützen lässt, wird die Ordnungsverfügung nicht dadurch in ihrem Wesen geändert, dass § 2a Abs. 3 StVG als Rechtsgrundlage für dieselbe Rechtsfolge herangezogen wird, zumal in der Begründung der Ordnungsverfügung die für diese Vorschrift erforderlichen Tatbestandsvoraussetzungen angeführt werden.

…..“

OWi III: Umfang der Einsicht in Messunterlagen, oder: Herausgabe der gesamten Messreihe und des Token

entnommen wikimedia.org
Urheber Jepessen

Und dann habe ich zum Tagesschluss hier dann noch einen – oder: mal wieder einen – Beschluss des AG Köln zum Umfang der Akteneinsicht im Bußgeldverfahren.

Das AG führt im AG Köln, Beschl. v. 29.01.2025 – 812 OWi 3/25 (b) – aus:

„Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist begründet, soweit die Herausgabe der gesamten Messreihe begehrt wird.

Dem Verteidiger ist auf Antrag die vollständige Messreihe zur Verfügung zu stellen. Ein entsprechender Anspruch ergibt sich aus § 46 OWiG in Verbindung mit § 147 StPO. Ohne die Herausgabe der entsprechenden Daten würde der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Wird ein standardisiertes Messverfahren eingesetzt, muss der Betroffene zur Verteidigung konkrete Einwendungen gegen die Messung vorbringen. Das standardisierte Messverfahren bewirkt in diesem Sinne eine Beweislastumkehr, da der Betroffene konkret die Richtigkeit der Messung entkräften muss. Dies ist ihm nicht möglich, wenn er keine vollständige Überprüfung der Messung durchführen kann, was wiederum voraussetzt, dass ihm alle vorhandenen Daten, insbesondere die gesamte Messreihe, zugänglich gemacht werden. Auch ist eine Begrenzung der herauszugebenden Datensätze, bspw. auf fünf oder acht weitere Messungen aus der Messreihe, nicht statthaft. Der Betroffene muss selbst die Messreihe sichten können, um entscheiden zu können, welche anderen Messungen er anführen möchte um die Fehler in seiner Messung belegen zu können. Eine Vorauswahl durch das Gericht, indem dem Betroffenen nur eine bestimmte Anzahl anderer Messungen oder nur Messungen an bestimmten Positionen der Messreihe zugänglich gemacht werden, würden eine weitere Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten darstellen, da andere Messungen, ohne dass diese hätten geprüft werden können, von vorne herein aus der möglichen Beweisführung ausgenommen werden.

Die Stellungnahme der PTB vom 30.03.2020 ändert hieran nach Auffassung des Gerichts nichts. Soweit die PTB anführt, dass die gesamte Messreihe sehr lang sein könnte und daher praktisch nicht auswertbar sei, stellt dies keinen Grund gegen die Herausgabe dar. Das Ausmaß der Überprüfung der Messreihe ist die Entscheidung des Betroffenen. Hinsichtlich der weiteren dort aufgeführten Punkte haben gerichtliche Sachverständige in der Vergangenheit die gesamte Messreihe untersucht und vorgetragen, diese zur Auswertung zu benötigen. Diese sachverständige Auskunft kann das Gericht mangels technischer Kenntnisse nicht überprüfen. Sie erscheint aber auch nicht von vorneherein unplausibel.

Gründe des Datenschutzes sprechen nicht gegen die Herausgabe, da die Interessen des Betroffenen ohne die Messreihe nicht gewahrt werden können und zudem die Möglichkeit besteht, die Messreihe zu anonymisieren. Die Daten werden zudem nur einem zur Verschwiegenheit verpflichteten Personenkreis (Rechtsanwalt und Sachverständiger) zur Verfügung gestellt. Letztlich handelt es sich um Daten, die durch die freiwillige Teilnahme am Straßenverkehr entstanden sind.

Diese Rechtsauffassung wird auch vom OLG Köln geteilt, Beschluss vom 30.05.2023, Az.: III -1 RBs 288/22.

Es war ebenfalls die Herausgabe des Token anzuordnen. Die insoweit geänderte Rechtsprechung des Amtsgerichts Köln beruht auf der zutreffenden Entscheidung des OLG Saarbrücken (Beschluss vom 14. März 2024,1 Ss OWI 7/24). Dieser Ansicht hat sich inzwischen auch das Landgericht Köln angeschlossen (Beschluss v. 08.10.2024, 114 Qs 45/24). Dem Anspruch auf Bereitstellung der Token-Datei und des zugehörigen Passworts zum Zwecke der Entschlüsselung und Verifizierung des Fall-Datensatzes kann nicht entgegengehalten werden, dass die Verwaltungsbehörde lediglich über einen sogenannten Sammel-Token verfügt, der die Entschlüsselung auch solcher Fall-Datensätze erlauben soll, die von anderen Messgeräten stammen. Will oder darf die Verwaltungsbehörde diesen digitalen Schlüssel aus datenschutzrechtlichen Gründen oder vertraglichen Verpflichtungen gegenüber dem Hersteller nicht herausgeben, kann dies von Rechts wegen nicht das Recht der Verteidigung auf Einsicht in den digitalen Fall-Datensatz beeinträchtigen, sofern die technische Möglichkeit besteht, der Verteidigung auch ohne Herausgabe des Sammel-Tokens, etwa durch Übermittlung eines gegebenenfalls zu beschaffenden Einzel-Tokens die Entschlüsselung des Fall-Datensatzes der verfahrensgegenständlichen Messung zu ermöglichen. Es geht nicht darum, dem Betroffenen und seinem Verteidiger Beweismittel und Daten, die der Verwaltungsbehörde nicht vorliegen, erst zu beschaffen, sondern ihnen dieselbe Möglichkeit zur Prüfung der Falldatei zu geben, die der Verwaltungsbehörde aufgrund der dort vorliegenden Token-Datei eröffnet ist. Der Grundsatz der Verfahrensfairness und das hieraus folgende Gebot der Waffengleichheit erfordern gerade, dass die Verteidigung in gleicher Weise wie die Verfolgungsbehörde Teilnahme-, Informations-und Äußerungsrechte wahrnehmen kann.

Weil die Gewährung von Akteneinsicht durch die Verwaltungsbehörde und nicht durch ein am Verfahren nicht beteiligtes Eichamt zu erfolgen hat, ist insoweit auch ein Verweis an die Hessische Eichdirektion nicht zulässig (vgl. OLG Saarbrücken a.a.O.). Vor diesem Hintergrund spielt es auch keine Rolle, dass im Einzelfall die Frage der Notwendigkeit der Herausgabe eines solchen Tokens zweifelhaft sein kann, da die Sachverständigen, die üblicherweise im hiesigen Bezirk mit der Prüfung der Messreihe beauftragt werden, bereits über einen Token verfügen.“

OWi II: Vorsätzliche Geschwindigkeitsüberschreitung, oder: Die Überschreitung musste man bemerken…..

Im zweiten Posting dann eine weitere Entscheidung zum Vorsatz bei der Geschwindigkeitsüberschreitung, und zwar der OLG Brandenburg, Beschl. v. 07.02.2025 – 1 ORbs 293/24.

Das AG hat den einschlägig vorbelasteten Betroffenen wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 57 km/h auf einer BAB verurteilt. Dagegen die Rechtsbeschwerde, die nicht nur keinen Erfolg hatte, sondern auch noch zur Abänderung des Schuldspruchs führt:

„2. Die Rechtsbeschwerde hat jedoch keinen Erfolg; sie ist unbegründet, wobei jedoch der Schuldspruch entsprechend der Urteilsfeststellungen in eine vorsätzliche Begehungsweise abzuändern ist.

a) Die Rechtsbeschwerde erweist sich aus den zutreffenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg in ihrer Stellungnahme vom 5. November 2024 gemäß §§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet.

b) Der Urteilstenor ist jedoch dahin abzuändern, dass der Betroffene eine vorsätzliche Ordnungswidrigkeit begangen hat.

aa) Das Tatgericht hat festgestellt, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung auf einer Bundesautobahn bei einer durch beidseitig aufgestellten Vorschriftszeichen gemäß § 41 Abs. 1 StVO iVm. Anlage 1 zur StVO vorgenommenen Geschwindigkeitsbeschränkung auf 120 km/h begangen worden war. Grund der Geschwindigkeitsbeschränkung seien Straßenschäden, die deutlich zu erkennen gewesen waren (S. 2 UA).

Die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um mindestens 57 km/h bei erkennbar vorhanden Straßenschäden, das Befahren der Bundesautobahn mit mindestens 177 km/h bei bestehender Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf 120 km/h, mithin das Überscheiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um knapp die Hälfte, ist rechtlich als zumindest „bedingt“ vorsätzlich zu qualifizieren. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass – wenn es auch keine genauen, durch wissenschaftliche Erhebungen gesicherten Erkenntnisse geben mag – davon ausgegangen werden darf, dass ordnungsgemäß aufgestellte Vorschriftzeichen von Verkehrsteilnehmern in aller Regel wahrgenommen werden (vgl. BGHSt 43, 241). Diesen Regelfall dürfen die Bußgeldstellen und Gerichte ihren Entscheidungen regelmäßig zugrunde legen, was insbesondere dann gilt, wenn – wie hier – die die Geschwindigkeit begrenzenden Verkehrsschilder beidseitig aufgestellt und der Grund der Geschwindigkeitsüberschreitung (Baustelle oder Straßenschäden) deutlich zu erkennen sind. Die Möglichkeit, dass der Betroffene das die Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit anordnende Vorschriftzeichen übersehen hat, ist nur dann in Rechnung zu stellen, wenn er sich darauf beruft oder sich hierfür sonstige Anhaltspunkte ergeben (vgl. BGH a.a.O.; OLG Hamm ZfS 2008, 408). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor.

Hinsichtlich der voluntativen Seite des Vorsatzes mag sein, dass allein daraus, dass ein Betroffener eine Geschwindigkeitsbeschränkung kennt, noch nicht geschlossen werden kann, dass er die zulässige Höchstgeschwindigkeit auch bewusst und gewollt überschritten hat (vgl. dazu auch OLG Celle ZfS 1996, 76; OLG Stuttgart, Beschluss vom 09. August 2010, 1 Ss 53/10 zit. n. juris). Mangels entsprechender Einlassung des Betroffenen zur voluntativen Seite ist jedoch aus objektiven Umständen, wie beispielsweise aufgrund der besonders erheblichen Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung, auf ein zumindest bedingt vorsätzliches (wenn nicht gar bewusstes und gewolltes) Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu schließen (vgl. auch KG NZV 2004, 598; KG VRS 109, 132; OLG Rostock VRS 108, 376; OLG Bamberg DAR 2006, 464; Thüringer OLG VRS 111, 52).

Dass möglicherweise dem Betroffenen der Umfang einer Geschwindigkeitsüberschreitung von mindestens 57 km/h nicht exakt bekannt war, steht der Annahme von (bedingtem) Vorsatz nicht entgegen. Denn die Differenz zwischen erlaubter und tatsächlich gefahrener Geschwindigkeit (mindestens 57 km/h, mithin eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um fast die Hälfte) war so erheblich, dass jeder Kraftfahrer merken musste, dass er nicht nur zu schnell, sondern erheblich zu schnell fuhr (vgl. OLG Düsseldorf in NZV 1995, 161, 162). Auch ohne ständigen Blick auf den Tachometer seines Fahrzeugs kann im Normalfall davon ausgegangen werden, dass ein geübter Kraftfahrer, der die erlaubten 120 km/h auf einer Bundesautobahn um 57 km/h überschreitet und mindestens mit 177 km/h fährt, dies beispielsweise anhand der Motorgeräusche, der sonstigen Fahrgeräusche, der Fahrzeugvibration und anhand der Schnelligkeit, mit der sich die Umgebung um ihn herum ändert, zuverlässig einschätzen und dadurch erkennen kann, dass er die erlaubte Höchstgeschwindigkeit wesentlich überschreitet (vgl. BGH in NJW 1993, 3081, 3084 m.w.N.). Selbst wenn der Betroffene nicht auf den Tachometer geschaut hätte, würde dies aus den oben genannten Gründen der Annahme von bedingtem Vorsatz nicht entgegenstehen. Der Betroffene hatte auch ohne ständige Tachometerbeobachtung eine ungefähre Vorstellung von der Größenordnung der gefahrenen Geschwindigkeit. Dass einem Betroffenen der Umfang einer Geschwindigkeitsüberschreitung möglicherweise nicht exakt bekannt ist, steht der Annahme von (bedingtem) Vorsatz nicht entgegen. Vorsätzliches Handeln setzt eine solche Kenntnis nämlich nicht voraus. Vielmehr genügt das Wissen, schneller als erlaubt zu fahren (siehe bereits Senatsbeschluss vom 1. März 2012, (1 B) 53 Ss-Owi 9/12 (3/12); Senatsbeschluss vom 27. April 2020, (1 B) 53 Ss-OWi 173/20 (104/20); Brandenburgisches Oberlandesgericht, 2. Strafsenat, Beschluss vom 21. Februar 2019, (2 B) 53 Ss-OWi 1/19 (8/19); ebenso statt vieler: KG, Beschluss vom 10.12.2003 – 3 Ws (B) 500/3 – 345 OWi 401/02, zit. n. juris; BayObLG NZV 1999, 97; OLG Koblenz DAR 1999, 227; Thüringer OLG VRS 111, 52). Dem Betroffenen war damit bewusst, dass er die zulässige Höchstgeschwindigkeit jedenfalls erheblich überschritten hat. Wenn er es im Bewusstsein dieses zumindest stark überhöhten Tempos unterließ, seine Geschwindigkeit durch den ihm jederzeit problemlos möglichen Blick auf den Tachometer zu kontrollieren und herabzumindern, brachte er dadurch hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass er eine Geschwindigkeitsüberschreitung auch in dem tatsächlich realisierten Ausmaß von mindestens 57 km/h zumindest billigend in Kauf genommen hatte (vgl. OLG Düsseldorf NZV 1996, 463).

bb) Der Schuldspruchberichtigung steht der Grundsatz des Verschlechterungsverbotes (reformatio in peius) gem. § 358 Abs. 2 Satz 1 iVm. § 79 Abs. 3 OWiG nicht entgegen (vgl. BGHSt 14, 5, 7; BGHSt 21, 256, 260; BGH NStZ 1986, 20; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2012, 23; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 30. August 2010, 1 (8) SsRs 384/09, zit. n. jurist, dort Rdnr. 4; OLG Bamberg DAR 2008, 218; OLG Celle NJW 1990, 589, OLG Düsseldorf VRS 80, 52; siehe auch Göhler/Seitz, OWiG, 19. Aufl., § 79 Rdnr. 37; Senatsbeschluss vom 1. März 2012; (1 B) 53 Ss-Owi 9/12 (3/12); ebenso Senatsbeschluss vom 27. April 2020, (1 B) 53 Ss-OWi 173/20 (104/20)).“

OWi I: Verwirrende Beschilderung wegen „Klappschild“, oder: Bemerkenswerte Diktion des OLG Frankfurt/Main

© lassedesignen Fotolia.com

Heute dann OWi-Entscheidungen.

Den Reigen eröffne ich mit dem OLG Frankfurt/Main, Beschl. v. 20.01.2025 – 2 ORbs 4/25. Das AG hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 86 km/h zu einer Geldbuße von 900,00 Euro verurteilt sowie ein Fahrverbot von drei Monaten angeordnet.

Der Betroffene hatte mit 146 km/h die A 7 befahren. Auf Grund einer Lkw-Kontrolle war dort an der „Vorfallsstelle“ in zur Sicherung der Kontrolle und der damit betroffenen Personen die Höchstgeschwindigkeit auf 60 km/h reduziert und ein Überholverbot für Lkw und Busse angeordnet worden. Zu diesem Zweck waren sog. „Klappschilder“ verwendet worden. Diese sind vorbereitet an der Autobahn abgebracht und können „ausgeklappt“ werden, so dass damit für den Sicherungszweck – hier die Lkw-Kontrolle – situationsbezogen die Geschwindigkeit reduziert wird.

Dagegen die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er zusammengefasst einwendet, das Schild, das die Geschwindigkeit reduziert hat, nicht verstanden, bzw. nicht auf sich bezogen zu haben, da es sich um „eine völlig verwirrende Beschilderung“ gehandelt habe.

Die Rechtsbeschwerde hatte keinen Erfolg, sondern:

„Der Senat macht davon Gebrauch die Schuldform auf Grund der rechtsfehlerfreien Feststellungen des Amtsgerichts auf „vorsätzliche“ Begehung umzustellen. An der gebotenen Erhöhung des Bußgeldes ist der Senat wegen des Verschlechterungsverbots rechtlich gehindert.

Die Verteidigung begründet ihren Vortrag „einer völlig verwirrenden Beschilderung“ durch Vorlage der Lichtbilder der Beschilderung. Darauf ist die Geschwindigkeitsreduktion auf 60 km/h und darunter ein Überholverbot für Lkw und Busse angeordnet. Was an dieser einfach zu verstehenden Beschilderung „verwirrend“ sein soll, wird nicht ausgeführt und ist auch sonst nicht ersichtlich. Dass der Betroffene bereits diese einfache und klar verständliche Anordnung nicht versteht, begründet kein Verbotsirrtum, wie die Verteidigung vorträgt, sondern lediglich die Notwendigkeit der Überprüfung, ob der Betroffene nach eigenem Bekunden noch kognitiv in der Lage ist weiter am Straßenverkehr teilzunehmen. Das ergibt sich im Übrigen auch schon daraus, dass derjenige, der „etwas nicht versteht“ und sich damit in einer „unsicheren oder ungewissen“ Verkehrssituation befindet bereits nach § 1 StVO zu „ständigen Vorsicht und gegenseitige Rücksicht verpflichtet ist und sich so zu verhalten hat, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird“.

Wer wie der Betroffene „Verkehrsschilder“ nicht versteht oder verstehen will, auf denen Verhaltensregeln angezeigt werden, die einen Regelungseingriff in den Verkehrsfluss vorgeben und statt der gebotenen Rücksicht, genau das Gegenteil tut, indem er statt 60 km/h 146 km/h fährt, entscheidet sich bewusst und gewollt dazu Regelungen und Verkehrssituation zu ignorieren. Er stellt sich mit Absicht gegen die Rechtsordnung, gefährdet bewusst und gewollt Andere und dies alleine um des eigenen schnelleren Fortkommens willen.

In der Folge sind auch im Rechtsfolgenausspruch keine Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen ersichtlich. Insbesondere tragen die getroffenen Feststellungen auch die Anordnung des dreimonatigen Regelfahrverbots nach § 25 Abs. 1 S. 1 StVG in Verbindung mit § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BKatV in Verbindung mit BKatV Anlage Nr. 11.3.10. Die grobe Pflichtverletzung ergibt sich vorliegend aus der Geschwindigkeitsüberschreitung von 86 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften, für die in Lfd. Nr. 11.3.10 der Tabelle 1 c) BKatV ein Regelfahrverbot von 3 Monaten vorgesehen ist.

Das Fahrverbot war zu verhängen, da die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen und keine außergewöhnlichen Umstände gegeben sind (st. Rspr. des OLG Frankfurt am Main, vgl. z. B. Beschluss vom 26.04.2023 – 3 ORbs 69/23). Insbesondere vermag der Umstand, dass der Betroffene aus beruflichen Gründen auf seine Fahrerlaubnis angewiesen ist, aus Gründen der Verhältnismäßigkeit ein Absehen von der Verhängung eines Fahrverbots nur dann zu rechtfertigen, wenn die Maßnahme in Bezug auf den Grad des Verstoßes zu einer Härte ganz außergewöhnlicher Art führen würde. Eine derartige Härte kann gegeben sein, wenn die Maßnahme zum belastbar nachgewiesenen Verlust des Arbeitsplatzes oder zur Existenzgefährdung führen würde und diese Folgen nicht durch zumutbare eigene Kompensationshandlungen vermieden werden können. Dazu gehören neben der Verwendung öffentlicher Verkehrsmittel, auch unbezahlter Urlaub, die Einstellung eines Fahrers, oder die Kreditaufnahme zur Finanzierung derartiger Kompensationen. Sonstige berufliche Nachteile auch schwerwiegender Art sind grundsätzlich als Folge der Tat hinzunehmen (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 20.02.2023 – 1 Ss-OWi 12/23).

Derartige durchgreifende Härten sind weder in prozessual zulässiger Weise, noch belastbar, vorgetragen, und auch sonst nicht ersichtlich.“

Eine „bemerkenswerte“ Diktion des OLG.

 

Entziehung der Fahrerlaubnis auf Probe (§ 2a StVG), oder: Bindungswirkung eines Straferkenntnisses

Bild von Annette auf Pixabay

Und dann als zweite Entscheidung der VG Karlsruhe, Beschl. v. 23.01.2025 – 9 K 7272/24 – auch zur Entziehung der Fahrerlaubnis. Problematik hier: Bindungswirkung eines rechtskräftigen Straferkenntnisses. Es geht um eine Fahrerlaubnis auf Probe, also § 2a StVG.

Auch hier nur die Leitsätze, nämlich:

1. Die Fahrerlaubnisbehörde dürfte auch bei einer Maßnahme nach § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG an eine rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder Ordnungswidrigkeit tatbestandlich gebunden sein. Der Ausschluss von § 2a Abs. 2 StVG in § 2a Abs. 5 Satz 4 StVG dürfte dahingehend zu verstehen sein, dass (lediglich) der gestufte Maßnahmenkatalog nach § 2a Abs. 2 Satz 1 nicht zur Anwendung kommen soll.

2. Im Anwendungsbereich von § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG dürfte eine unmittelbare Entziehung der Fahrerlaubnis ohne vorherige Anordnung der Beibringung eines Gutachtens allenfalls unter ganz besonderen (atypischen) Umständen (hier verneint) in Betracht kommen.