Und dann der Kessel Buntes. Heute mit zwei Entscheidungen aus dem Verkehrszivilrecht.
Den Start mache ich mit dem OLG Hamm, Urt. v. 19.11.2024 – 7 U 150/23 – zur Rücksichtnahme beim Rückwärtsfahren mit einem Bagger.
Die Parteien streiten um die Haftungs- und die Haftungsanteile nach einem Unfall mit einem der Beklagten zu 1) gehörenden Bagger. Dabei war ein der Klägerin gehörender Anhänger beschädigt worden. Der Beklagte zu 1) hatte den von ihm geführten Bagger auf dem Betriebsgelände der Beklagten nach dem Anhalten aus einer Kurvenfahrt heraus unmittelbar zurücksetzt. Das LG hatte die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das OLG die Klage als teilweise begründet angesehen. Es hat der Klägerin aber eine Mitverschuldensquote von 30 % angerechnet.
Das OLG verneint mit dem LG eine Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG, da der beteiligte Bagger der Beklagten zu 1) gemäß § 8 Nr. 1 StVG privilegiert sei. Aber: Der Beklagte zu 2.) haftet der Klägerin dem Grunde nach gemäß § 823 Abs. 1 BGB. Und dann:
a) Die Klägerin muss sich auf ihren Anspruch einen Mitverschuldensanteil von 30 % anrechnen lassen, § 254 Abs. 1 BGB.
Im Falle eines festgestellten Mitverschuldens ist die Abwägung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 254 Abs. 1 BGB aufgrund aller festgestellten, d. h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, wenn sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (vgl. BGH Urt. v. 17.1.2023 – VI ZR 203/22, r+s 2023, 265 Rn. 29 m. w. N.).
aa) Der Klägerin ist ein Verstoß ihres Fahrers gegen § 1 Abs. 2 StVO in unmittelbarer oder mittelbarer Anwendung zuzurechnen, weil dieser trotz des vor ihm befindlichen Baggers seine Fahrt an diesem vorbei fortgesetzt hat.
Dieser Verstoß erfährt indes entgegen der Würdigung des Landgerichts keine spezifische Ausprägung durch § 5 Abs. 3 StVO, denn es liegt kein Überholen vor. Ein Überholen ist begrifflich gegeben, wenn ein Verkehrsteilnehmer von hinten an einem anderen vorbeifährt, der sich auf derselben Fahrbahn in derselben Richtung bewegt oder nur mit Rücksicht auf die Verkehrslage anhält (Freymann in: Geigel, Haftpflichtprozess, 29. Aufl. 2024, StVO § 5 Rn. 156; vgl. BGH Beschl. v. 15.9.2016 – 4 StR 90/16, NJW 2016, 3462). Das Beklagtenfahrzeug hatte im vorliegenden Fall – für sich genommen auch unstreitig – die Richtungsfahrbahn der Ausfahrt vom Betriebsgelände bereits dahingehend verlassen, dass der Abbiegevorgang nach rechts in den anderen Geländeteil eingeleitet war, aber lediglich wegen des nicht ausreichenden Abbiegewinkels unterbrochen werden musste. Eine Bewegung in derselben Richtung wie der klägerische Lkw war aber bereits zu dem Zeitpunkt, als der Fahrer des Lkw den Bagger zu passieren begann, nicht mehr gegeben.
Gleichwohl hätte sich der Fahrer des klägerischen Lkw aufgrund der Gesamtsituation gemäß § 1 Abs. 2 StVO veranlasst sehen müssen, seine Annäherung zu verlangsamen, das Fahrverhalten des vor ihm befindlichen Baggers abzuwarten und seine eigene Fahrt ggf. zu unterbrechen. Im Kern zutreffend hat das Landgericht diesbezüglich ausgeführt, dass sich – auch dem Fahrer des Klägerfahrzeugs als seinerseits beruflich im Umgang mit großen Fahrzeugen vertraut – hätte offenbaren können, dass der Beklagte zu 2.) den eingeleiteten Abbiegevorgang nicht in einem Zug vollenden werde, da es sich gerade nicht um eine abzweigende Straße oder breite Grundstückseinfahrt handelte, in die der Bagger abbog, sondern um eine verengte Einfahrt, die an sich primär für Schienenverkehr gedacht war.
bb) Ohne kausale Auswirkung bleibt in diesem Zusammenhang entgegen dem Vorwurf der Beklagten eine gegenüber der Anordnung einer Höchstgeschwindigkeit von 10 km/h bzw. Schrittgeschwindigkeit (je nach Schild) auf dem Betriebsgelände – mutmaßlich – überhöhte Geschwindigkeit des klägerischen Lkw, so dass es auch insoweit nicht darauf ankommt, ob der Unfall auf dem Betriebsgelände stattgefunden hat.
Ein späterer Unfall kann einer Geschwindigkeitsüberschreitung nicht allein schon deshalb zugerechnet werden, weil das Fahrzeug bei Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit erst später an die Unfallstelle gelangt wäre, vielmehr muss sich in dem Unfall gerade die auf das zu schnelle Fahren zurückzuführende erhöhte Gefahrenlage aktualisieren. Der rechtliche Ursachenzusammenhang zwischen Geschwindigkeitsüberschreitung und Unfall ist zu bejahen, wenn bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation der Unfall vermeidbar gewesen wäre. Vermeidbarkeit ist auch bei geringfügigen Geschwindigkeitsüberschreitungen dann anzunehmen, wenn der Unfall bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zwar nicht räumlich, wohl aber zeitlich vermeidbar gewesen wäre. Dies ist der Fall, wenn es dem Fahrer bei einer verkehrsordnungsgemäßen Fahrweise zwar nicht gelungen wäre, das Fahrzeug noch vor der späteren Unfallstelle zum Stehen zu bringen, wenn er den PKW aber so stark hätte abbremsen können, dass dem Verletzten Zeit geblieben wäre, den Gefahrenbereich noch rechtzeitig zu verlassen. Entsprechendes gilt auch dann, wenn es dabei zumindest zu einer deutlichen Abmilderung des Unfallverlaufes und der erlittenen Verletzungen gekommen wäre (BGH Urt. v. 26.4.2005 – VI ZR 228/03, r+s 2005, 477 = juris Rn. 22 m. w. N.; siehe zuletzt auch Senat Beschl. v. 5.8.2024 – I-7 U 57/24, BeckRS 2024, 26517 = juris Rn. 23 m. w. N.).
Die kritische Verkehrslage beginnt für einen Verkehrsteilnehmer dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann. Für einen vorfahrtsberechtigten Verkehrsteilnehmer ist dies in Bezug auf seinen Vorrang zwar nicht bereits der Fall, wenn nur die abstrakte, stets gegebene Gefahr eines Fehlverhaltens anderer besteht, vielmehr müssen erkennbare Umstände eine bevorstehende Verletzung seines Vorrechts nahelegen. Von Bedeutung sind hierbei neben der Fahrweise des Wartepflichtigen alle Umstände, die sich auf dessen Fahrweise auswirken können, also auch die Fahrweise des Bevorrechtigten selbst. Gibt er dem Wartepflichtigen durch einen Verkehrsverstoß Anlass, die Wartepflicht – namentlich infolge einer Fehleinschätzung der Verkehrslage – zu verletzen, so kann die kritische Verkehrslage bereits vor der eigentlichen Vorfahrtsverletzung eintreten (BGH Urt. v. 25.3.2003 – VI ZR 161/02, r+s 2003, 256 = juris Rn. 12 m. w. N.; siehe dazu zuletzt auch BGH Urt. v. 22.11.2016 – VI ZR 533/15, r+s 2017, 95 Rn. 17 m. w. N.; Senat Beschl. v. 5.8.2024 – I-7 U 57/24, BeckRS 2024, 26517 = juris Rn. 24).
Gemessen daran war der Unfall für den Fahrer des Klägerfahrzeugs zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation weder räumlich noch zeitlich vermeidbar noch hätten sich die Personen- und Sachschäden erheblich anders dargestellt. Die kritische Verkehrssituation trat hier frühestens ein, als der Beklagte zu 2.) den Bagger aus der ursprünglichen Vorwärtsfahrt endgültig zum Stehen gebracht, spätestens, als er die Rückwärtsbewegung eingeleitet hatte. Aus der Inaugenscheinnahme der Videosequenz des Unfallablaufs ergibt sich aber insoweit zur Überzeugung des Senats, dass sich das Klägerfahrzeug bereits im Zeitpunkt des frühestmöglichen Eintritts der kritischen Verkehrssituation mit der Spitze des Führerhauses etwa mittig hinter dem Heck des Baggers befand. Da sich der Lkw – augenscheinlich zügig – weiterbewegte, ist der Bagger und damit die sich anschließende Einleitung der Rückwärtsbewegung aus dem Sichtfeld des Lkw-Fahrers geraten. Eine – zudem noch kollisionsvermeidende – Reaktion des Lkw-Fahrers war unter diesen Umständen nicht mehr möglich. Ein Ausweichen nach links hätte zudem eine unmittelbare Kollision mit dem Einfahrtstor zur Folge gehabt, ein Abbremsen lediglich die Verschiebung der Kollisionsstelle vom Tankanhänger auf den Tankaufbau des Zugfahrzeugs. Denn wäre die Geschwindigkeit des klägerischen Lkw von vornherein oder durch Abbremsung geringer gewesen, hätte sich der Aufprall lediglich nach vorne verlagert. Diese Rückschlüsse kann der Senat wie im Senatstermin erörtert als Fachsenat für Verkehrsunfallsachen aufgrund langjähriger Erfahrung in eigener Überzeugung ziehen, so dass es ausnahmsweise keiner Einholung eines Sachverständigengutachtens bedarf (vgl. § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO; Greger in: Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Auflage 2024, vor §§ 402 ff. Rn. 12). Insoweit hätten sich auch die eingetretenen Sachschäden nicht erheblich anders dargestellt, denn die Aufbaustruktur des Zugfahrzugs ist augenscheinlich weitgehend mit der des Anhängers identisch.
cc) Der Mitverschuldensbeitrag ist dem Verschulden der Beklagten entgegenzusetzen, wobei auch der nur mittelbaren Verletzung der Pflichten aus § 9 Abs. 5 StVO im Rahmen des § 1 Abs. 2 StVO ein entsprechendes Gewicht zukommt (vgl. BGH Urt. v. 15.12.2015 – VI ZR 6/15, NJW 2016, 1098 Rn. 11 m. w. N.).
Danach ist eine Gewichtung des Verschuldensanteils der Klägerseite mit 30 % und der Beklagtenseite mit 70 % angemessen.
Dem für sich genommen ganz erheblich wiegenden Verstoß des Beklagten zu 2.) gegen die Kardinalpflicht des Gefährdungsausschlusses bei Rückwärtsfahrt steht ein deutlich geringer zu gewichtender Verstoß des Fahrers des klägerischen Lkw gegen allgemeine und auch in der konkreten Situation einleuchtende Sorgfaltspflichten gegenüber.
Kein besonderes Gewicht misst der Senat dem von den Beklagten aufgegriffenen Umstand bei, dass der Fahrer des Klägerfahrzeugs nicht befugt gewesen sei, das Betriebsgelände überhaupt zu befahren, da die Beschilderung insoweit nicht hinreichend einfach erfassbar war und sich dieser Umstand, wenn auch kausal, so doch im Hinblick auf die Fortgeltung der hier zur Anwendung zu bringenden Regelung der StVO nicht maßgeblich ausgewirkt hat. Die (beiderseitige) Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ist insoweit unabhängig von der etwaigen Frage eines einseitigen Hausrechts zu beurteilen.“